Der Wahlsieg von Gabriel Boric in Chile mit mehr als 55 Prozent der Stimmen im vergangenen Dezember war nicht nur ein Votum für Apruebo Dignidad (deutsch: „Ich stimme der Würde zu“), das linke Wahlbündnis aus Frente Amplio und Kommunistischer Partei, sondern gleichzeitig auch eine deutliche Absage an die radikale Rechte in der Region. Borics Widersacher José Antonio Kast wollte die Politik der Pinochet-Diktatur wiederbeleben und pflegt Verbindungen zu rechtsextremen Kräften in Europa, z.B. zur spanischen Partei Vox. Gleichzeitig unterscheidet sich die von Boric verkörperte Linke vom „Linkspopulismus“ in der Region: Als Abgeordneter, ehemaliger Studentenführer und Teil der „Generation 2011“, die mit massiven Studentenprotesten gegen das Profitstreben im Bildungswesen auf die Straße ging, stellt er die Menschenrechte in den Mittelpunkt seines Diskurses über den Fortschritt in der Gesellschaft. Dies hat zu Spannungen mit einigen seiner kommunistischen Verbündeten in Fragen der regionalen Geopolitik geführt.

Wir sehen also eine Verschiebung im „pazifischen Block“ Lateinamerikas. Stellten sich die Staaten der Pazifik-Allianz (Chile, Kolumbien, Mexiko und Peru) bisher als Gegengewicht zum Linksruck auf der „atlantischen“ Seite Lateinamerikas dar, so hat sich dies durch die letzten Wahlen abgeschwächt. Diese Entwicklung begann mit dem Sieg von Andrés Manuel López Obrador in Mexiko 2018. Im Juni 2021 folgte der überraschende Sieg des Lehrergewerkschaftsführers Pedro Castillo in Peru. Und in Kolumbien ist der linke Kandidat Gustavo Petro einer der Favoriten für die Präsidentschaftswahlen 2022. Das Rennen ist zwar noch völlig offen, aber es besteht kein Zweifel daran, dass die Rechte um den ehemaligen Präsidenten Álvaro Uribe heute geschwächt dasteht. Die Proteste von 2019 und 2020 haben dort, wenn auch weniger stark als in Chile, eine breite Masse junger Menschen mobilisiert. Sie stellen ein politisches Modell in Frage, das von Gewalt gegen soziale Aktivistinnen und Aktivisten und vielen Ungerechtigkeiten geprägt ist.

Die Wahlsiege von López Obrador in Mexiko, Castillo in Peru und zuletzt Boric in Chile sind eine deutliche Absage an die radikale Rechte in der Region.

Das Movimiento al Socialismo (MAS) in Bolivien kehrte nach dem Sturz von Evo Morales Ende 2019 schnell an die Macht zurück. Und auch in Argentinien hielt der Peronismus nach vier Jahren Opposition wieder in den Präsidentenpalast Casa Rosada Einzug. In Honduras hat die linke Kandidatin Xiomara Castro die Wahlen Ende 2021 gewonnen. Die Erinnerung an den Putsch von 2009, durch den Castros Ehemann Manuel Zelaya gestürzt wurde, ist noch lebendig. Selbst dort, wo die rechte Mitte triumphiert hat, wie in Ecuador, wird sie von einer Mitte-Links-Mehrheit im Parlament und von immer wiederkehrenden vehementen Straßenprotesten eingehegt.

Das Sahnehäubchen für die Progressiven in der Region wäre ein Sieg von Luiz Inácio Lula da Silva in Brasilien, der aktuellen Umfragen zufolge im Oktober 2022 Jair Bolsonaro durchaus schlagen könnte. Letzterer verliert selbst in der Elite an Unterstützung. Zu diesem Zweck bewegt sich Lula auf die Mitte zu, sucht die Unterstützung eines Teils der rechten Mitte – zum Beispiel der Partei des ehemaligen Präsidenten Fernando Henrique Cardoso – und bemüht sich, das Misstrauen der Wirtschaft gegenüber einer möglichen Rückkehr der Arbeiterpartei in die Regierung zu reduzieren.

Das Sahnehäubchen für die Progressiven in der Region wäre ein Sieg von Lula in Brasilien.

Gleichzeitig bleiben zwei Regime an der Macht, die die roten Linien der Demokratie überschritten haben: Nicolás Maduro hat seine Position nach dem Sieg der Vereinigten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) bei den letzten Gouverneurswahlen gestärkt. Die Opposition war zwar in den Wahlkampf zurückgekehrt, ist aber so stark zersplittert, dass sie fast überall im Land von einem vereinten Chavismus besiegt wurde. Und in Nicaragua wurden Daniel Ortega und Rosario Murillo wiedergewählt, nachdem sie alle Oppositionskandidaten ins Gefängnis gebracht hatten.

Die Verbindungen zu diesen beiden Ländern der „bolivarischen Achse“ wurden zu einem heiklen Thema für die demokratische Linke. Die Haltungen sind keinesfalls eindeutig, man versucht, sich mehr oder weniger stillschweigend zu distanzieren, ohne zu Komplizen einer „imperialistischen Einmischung“ zu werden. Zum Beispiel wurden weder Ortega noch Maduro zur Puebla-Gruppe eingeladen, dem Diskussionsforum progressiver Kräfte in Lateinamerika. Der Fall Ortega ist in mehrfacher Hinsicht komplex. Man denke nur an seine wirtschaftlichen Beziehungen zu Regierungen mit vermeintlich gegensätzlicher ideologischer Ausrichtung. So pflegt er enge Geschäftsbeziehungen mit dem scheidenden honduranischen Präsidenten Juan Orlando Hernández. Mit den USA hat er diverse Handelsabkommen abgeschlossen. Der Aufstieg des Autoritarismus in Mittelamerika ist ideologieübergreifend, wie sich an Nayib Bukele in El Salvador zeigt.

Der Aufstieg des Autoritarismus in Mittelamerika ist ideologieübergreifend.

Die Linke könnte nun also mehr Regierungen stellen als während der „rosaroten Welle“, dem Linksruck von 2000 bis 2010. Eine bloße Zählung der Regierungen würde jedoch zu einer rein oberflächlichen Analyse führen. Die Niederlage von Mauricio Macri bei seiner Kandidatur für die Wiederwahl zum argentinischen Präsidenten 2019 hat die Schwierigkeiten von Mitte-Rechts-Parteien aufgezeigt, die zu sehr auf den Globalisierungsoptimismus der 1990er Jahre pokerten. Mitte-Rechts-Kandidaten wie Macri setzten auf „Weltoffenheit“. Aber die Welt hatte sich verändert, seit Trump während seiner Präsidentschaft die liberale Ordnung fundamental infrage stellte.

Gleichzeitig sind mit dieser neuen „Linkswende“ allgemein schwächere Versprechen für einen Wandel verbunden als in der Vergangenheit. Es handelt sich eher um eine Art „Progressivismus mit geringer Intensität“, der in einem Kontext von Wirtschaftskrise, schwindender regionaler Integration, wachsender organisierter Kriminalität und schwächerer Wählerloyalität regieren muss. Die schwierige Position von Argentiniens Präsident Alberto Fernández bei der Neuverhandlung der riesigen Schulden beim Internationalen Währungsfonds (IWF), die er von Mauricio Macri geerbt hat, ist ein extremes Beispiele dafür, dass man im Moment nicht über die unmittelbaren Probleme hinaus agieren kann.

Anders als in den glorreichen 2000er Jahren sehen sich progressive Regierungen einer stärkeren Opposition gegenüber, die sich mit der Linken um die Macht der Straße streitet. Die neuen Rechten der letzten Jahre, wie Kast und Bolsonaro, oder das Phänomen der argentinischen „Libertären“, verkörpert durch den Wirtschaftswissenschaftler Javier Milei, sind von einem härterem Kaliber. Sie verbinden Diskurse über Recht und Ordnung mit einer radikaleren Verteidigung des Kapitalismus und schreiben sich, wie in Europa, die Kritik an der angeblichen Diktatur der politischen Korrektheit auf die Fahnen.

Die Region erlebt eine Kombination aus politischer Polarisierung und Parteienzersplitterung.

Die Niederlage des Peronismus bei den Parlamentswahlen 2021 in Argentinien gegen die Mitte-Rechts-Partei Juntos por el Cambio von Mauricio Macri zeigt, dass die Wählerschaft inmitten sozialer Unruhen und angesichts einer weit verbreiteten Infragestellung der „politischen Klasse“ immer unbeständiger wird. Lediglich der Fall Chile scheint der „Ermüdung“ der anderen fortschrittlichen Bewegungen in der Region zu widersprechen: Die Protestwellen, der Verfassungskonvent und der Generationswechsel – Boric wird sein Amt im Alter von 36 Jahren antreten, viele Bürgermeister sind noch jünger als er – wecken große Erwartungen und Hoffnung auf Veränderungen. Dennoch: Der neue Präsident wird bei der Durchsetzung von Reformen, die auf eine umfassendere Sozialpolitik abzielen, auf zahlreiche Schwierigkeiten stoßen.

Die Region erlebt eine Kombination aus politischer Polarisierung und Parteienzersplitterung, was häufig dazu führt, dass Präsidenten keine parlamentarische Mehrheit hinter sich haben und eine größere politische Instabilität herrscht. Im Fall Perus hängt dies aufgrund der Tatsache, dass der Präsident leicht seines Amtes enthoben werden kann, wie ein Damoklesschwert über Pedro Castillo. Auch Chiles neuer Präsident Boric wird mit Mitte-Links-Kräften verhandeln müssen und mit der Stärke der Rechten im Senat konfrontiert sein, wo sie die Hälfte der Sitze halten. Der Peronismus in Argentinien leidet unter interner Heterogenität und den Grabenkämpfen zwischen den „Kirchneristen“, den Anhängern von Vizepräsidentin Cristina Fernández de Kirchner, und den „Albertistas“, die Präsident Alberto Fernández unterstützen. Dies war zuletzt deutlich an den unterschiedlichen Positionen zu den Verhandlungen mit dem IWF zu sehen.

In dieser Gemengelage versuchen sowohl die Progressiven als auch die Mitte-Rechts-Bewegungen, sich an neue Rahmenbedingungen anzupassen. Auch in Lateinamerika ist ein ideologisches Klima zu spüren, das traditionelle politische Identitäten in Frage stellt und neue Formen des Nonkonformismus mobilisiert. Diese Entwicklung ist nicht immer leicht ideologisch einzuordnen, hat aber eindeutig das Potenzial, repräsentative Demokratien unter Druck zu setzen.

Aus dem Spanischen von Sabine Zimmermann