Die politische Polarisierung, die mit den „Null-Summen“-Narrativen der meisten bewaffneten Konflikte weltweit einhergeht, hat ein neues Ausmaß erreicht. Die Räume, in denen es möglich ist, über Friedensinitiativen zu sprechen sowie kurz- und langfristige Lösungen im gegenseitigen Einvernehmen zu entwickeln, sind heute weitestgehend geschlossen. In diesem erbitterten Klima findet sich nicht einmal für eine Vereinbarung über humanitäre Feuerpausen und Korridore der notwendige Minimalkonsens, trotz der schwerwiegenden Folgen für die Zivilbevölkerung.
Sichtbare Beispiele hierfür sind der Krieg zwischen Russland und der Ukraine, die Auseinandersetzung zwischen Armenien und Aserbaidschan um die Kontrolle von Bergkarabach, und jetzt die militärische Eskalation zwischen Hamas und Israel. Die Lähmung angesichts der menschlichen Kosten des Einsatzes militärischer Gewalt findet sich ebenfalls bei Konfliktszenarien niedriger Intensität, wo die Staaten ihr Gewaltmonopol zur Gewährleistung von Mindest-Sicherheitsbedingungen verloren haben. Die daraus folgende Flucht und Vertreibung lässt die Migrantinnen und Migranten ohne internationalen Schutz der Gewalt ausgeliefert.
Lateinamerika nimmt angesichts weltweit zunehmender Konfliktherde eine Sonderstellung ein. Da dieser Teil des Globalen Südens an der Peripherie der westlichen Welt liegt, kommt ihm seine geringe militärstrategische Bedeutung und sein geografischer und kultureller Abstand von den Kriegen außerhalb der Region zugute. In den Jahren nach dem Kalten Krieg, vor allem aber nach dem 11. September, hielt die Region Abstand von den wichtigsten Konfliktzentren der internationalen Geopolitik, wobei sie ihren Einsatz für Frieden in der Region und für die friedliche Lösung der dortigen territorialen Kontroversen beibehielt.
Der Ausbruch des Konflikts am 7. Oktober mit dem terroristischen Angriff der Hamas auf Zivilisten in Israel betrifft auch Lateinamerika. Drei Faktoren verbinden die Region mit dem Krieg: Erstens, die historischen und aktuellen Positionen der Länder gegenüber territorialen Streitigkeiten und konkurrierenden Ansprüchen zwischen dem Staat Israel und den Verfechtern der palästinensischen Sache. Zweitens, der innenpolitische Kontext jeder nationalen Realität, in dem das Gewicht und die Stimmen der Gemeinschaften jüdischer und arabisch-palästinensischer Herkunft die Medien beeinflussen und die öffentliche Meinung prägen. Und drittens, der Grad der Autonomie im Verhältnis zu den Vereinigten Staaten in Verbindung mit dem Stellenwert der Beziehungen zu Israel in der lateinamerikanischen Außenpolitik.
Lateinamerika nimmt angesichts weltweit zunehmender Konfliktherde eine Sonderstellung ein.
Eine nicht erschöpfende Bestandsaufnahme ermöglicht es uns, auf das Mosaik der Diaspora in der Region und die Auswirkungen des Konflikts auf die Opfer und Geiseln zu schauen. In Chile lebt fast eine halbe Million Chilenen palästinensischer Herkunft, die größte palästinensische Gemeinschaft außerhalb der arabischen Welt. Drei Israelis chilenischer Herkunft wurden getötet und eine Geisel wird von der Hamas festgehalten. In Argentinien ist die jüdische Gemeinde mit 180 000 Menschen die viertgrößte Diaspora der Welt; es wurden acht Argentinier getötet, 22 Geiseln werden von der Hamas festgehalten.
Im Falle Brasiliens wurden drei brasilianische Staatsbürger getötet, und die Regierung bemüht sich um die Freilassung von 29 Geiseln, die im Gazastreifen festgehalten werden. In Brasilien gibt es zudem eine jüdische Gemeinde von etwa 120 000 Menschen, die zweitgrößte in Lateinamerika, sowie etwa 60 000 palästinensische Flüchtlinge oder Einwanderer. In Kolumbien leben rund 100 000 Palästinenser verschiedener Generationen und etwa 2 000 Juden. Bei dem Hamas-Anschlag wurden zwei Kolumbianer getötet. In Mexiko leben 67 000 Juden und eine kleine Gemeinde palästinensischer Herkunft; zwei mexikanische Geiseln werden von der Hamas festgehalten. Die friedliche interethnische und interreligiöse Koexistenz über die verschiedenen Migrationswellen hinweg stellt eine lateinamerikanische Besonderheit dar.
Die unterschiedlichen Reaktionen der Länder auf den Konflikt spiegeln nicht nur unmittelbare humanitäre Überlegungen wider, sondern auch die einzelnen Positionen, die seit 1947 zur Gründung des Staates Israel und zum Aufschub der Anerkennung eines souveränen palästinensischen Staates eingenommen wurden. Im Allgemeinen teilt die Region die in wiederholten UN-Abstimmungen zum Ausdruck gebrachte Unterstützung für die Schaffung zweier Staaten, die Region unterstützt weiterhin die Osloer Abkommen und hat ihre humanitäre Solidarität mit dem palästinensischen Volk zum Ausdruck gebracht. Die Unterschiede in den außenpolitischen Positionen Lateinamerikas wurden und werden durch den Grad der Duldung durch die Vereinigten Staaten beeinflusst.
Zu den auf Autonomie ausgerichteten diplomatischen Aktionen gehörten Positionen der Unterstützung für die Schaffung eines palästinensischen Staates, was in den letzten zwölf Jahren die diplomatische Expansion der Palästinensischen Autonomiebehörde in der Region mit sich brachte. In den bolivarischen Regimen hat die Unterstützung der palästinensischen Sache eine ideologische Färbung, die mit innenpolitischen Zugehörigkeiten und internationalen Orientierungen verbunden ist. Auf der anderen Seite haben die territorialen Ambitionen des Staates Israel die Unterstützung rechtsextremer politischer Führer in der Region gefunden, die in einigen Fällen durch die Zusammenarbeit mit dem israelischen Militär und den Geheimdiensten gestärkt wurden. Diese Extreme haben jedoch die unmittelbare Betonung einer gemeinsamen Basis humanitärer Sensibilität angesichts der Menschenleben, die der Konflikt fordert, in der Region nicht beeinträchtigt.
Im Allgemeinen teilt die Region die in wiederholten UN-Abstimmungen zum Ausdruck gebrachte Unterstützung für die Schaffung zweier Staaten.
Wenn wir die Auswirkungen des Krieges in der Ukraine und des Konflikts im Nahen Osten miteinander vergleichen, können wir eine Spirale der Frustration und des gegenseitigen Unverständnisses zwischen Lateinamerika und den westlichen Mächten beobachten. Im ersten Fall manifestierte sich die Uneinigkeit in den ungehörten Forderungen nach Wirtschaftssanktionen gegen Russland und militärischer Unterstützung für die Ukraine, die von den höchsten europäischen und US-amerikanischen Stellen formuliert wurden. Der Hauptkonflikt besteht nun darin, dass Washington die militärische Reaktion Israels bedingungslos unterstützt. Diese Unterstützung bedeutet, dass die Kosten an Menschenleben unter der Zivilbevölkerung in Gaza ignoriert werden, und legitimiert im Namen des Rechts auf Verteidigung die Ablehnung eines Waffenstillstands und der Öffnung humanitärer Korridore. Der Punkt, an dem die lateinamerikanischen Positionen übereinstimmen, gibt dem humanitären Völkerrecht Vorrang vor anderen Erwägungen im Zusammenhang mit dem Terrorismus und den auf dem Spiel stehenden territorialen Streitigkeiten.
Die Übereinstimmungen sind jedoch nicht das Ergebnis intraregionaler Verhandlungen, sondern eines kollektiven diplomatischen Gedächtnisses, das sich auf den Vorrang des Völkerrechts beruft. Das Positionieren auf der einen oder anderen Seite des Konflikts hätte für die Region dagegen negative Auswirkungen: Es würde Räume für außerregionale Allianzen eröffnen, die die Region externem und kostspieligem Druck und Spannungen aussetzen, den zentralen politischen Fokus von der humanitären Frage ablenken und schließlich die interne politische Polarisierung und regionale Fragmentierung verschärfen würden.
Während die bolivianische Regierung die Beziehungen zu Israel abgebrochen hat, um ihre unumstößliche Unterstützung für die palästinensische Sache zu unterstreichen, haben die Regierungen Kolumbiens und Chiles ihre Botschafter aus Tel Aviv zurückgerufen. Die kolumbianische Regierung reagierte damit auf einen verbalen Schlagabtausch zwischen dem Präsidenten und der israelischen Regierung, während die chilenische Regierung ihre Unzufriedenheit mit den humanitären Folgen der israelischen Militärangriffe zum Ausdruck brachte.
Auf der Ebene der Global Governance bleiben die Wege des Dialogs und der Verhandlungen zur Eindämmung der humanitären Folgen des Konflikts zwischen Israel und der Hamas ohne Folgen. Im Oktober wurden im Sicherheitsrat unter brasilianischem Vorsitz sechs gescheiterte Resolutionsentwürfe erörtert. Hinzu kam die geringe Wirksamkeit der in der Generalversammlung verabschiedeten Resolution, die eine sofortige humanitäre Waffenruhe im Gazastreifen vorschlägt. Diese Resolution wurde mit einigen Abweichungen in der Region mehrheitlich unterstützt: Im Norden sprachen sich Panama und Guatemala dagegen aus, während sich im Süden Paraguay und Uruguay der Stimme enthielten.
Die Leistung Brasiliens als Vorsitzender im Sicherheitsrat, in dem Ecuador den zweiten rotierenden Vertreter der Region stellt, war ein Zeichen für das Engagement Lateinamerikas für einen aktiven Multilateralismus. Letzten Endes konnte sich Brasilien mehr auf die Unterstützung des UN-Generalsekretärs verlassen als auf die der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats, die es sich nicht nehmen ließen, von ihrem Vetorecht Gebrauch zu machen.
Die Gemeinsamkeiten Lateinamerikas angesichts des Krieges im Nahen Osten machen es derzeit notwendig, sich praktikable Optionen eines unbewaffneten Humanitarismus vorzustellen, um die Zivilbevölkerung zu versorgen, die Freilassung der Geiseln zu sichern, den Waffenstillstand zu beschleunigen, multilaterale Mechanismen gegen Kriegsverbrechen zu aktivieren, insbesondere den Internationalen Strafgerichtshof, sowie Möglichkeiten für einen Dialog in Richtung eines interreligiösen Friedens aufzuzeigen, wie es ihn in der Region gibt. Im Namen eines humanitären Engagements möchte Lateinamerika seine kritische und besorgte Stimme erheben angesichts der Gefahr, dass die Weltmächte Fehler wiederholen, die die Banalität des Bösen auf globaler Ebene nur noch verschlimmern.
Aus dem Spanischen von Dieter Schonebohm