Steht Lateinamerika nach den Wahlsiegen von Xiomara Castro in Honduras und Gabriel Boric in Chile vor einer neuen progressiven Welle? Die Präsidentschaftswahlen in Kolumbien und Brasilien in diesem Jahr werden weltweit aufmerksam verfolgt. Kolumbien galt lange Zeit als rechter Stabilitätsanker in Lateinamerika. Ein Wahlsieg des aktuellen Favoriten Gustavo Petro – einem linken Sozialdemokraten, der stets um die Einbindung breiter Koalitionen bemüht ist, – hätte im traditionell konservativen Kolumbien durchaus Signalwirkung. Eine progressive Welle wird in der Region im Hinblick auf einen sozial-ökologischen Aufbruch dringend gebraucht.
Die Ergebnisse der kolumbianischen Parlamentswahlen und der Vorwahlen für das Präsidentschaftsamt am 13. März waren eine erste Kraftprobe. Das Rennen um die Präsidentschaft bleibt aber weiterhin offen. Der Wahlkampf gleicht einer Bergetappe nach Alpe d’Huez bei der Tour de France. Er ist lang, nimmt viele Wendungen, richtet den Fokus auf die Kapitäne, gibt vielversprechenden Newcomern die Möglichkeit, sich in Szene zu setzen, und steht immer unter dem latenten Verdacht von Betrug. Seit den Vorwahlen ist klar, dass die breite Linksallianz Pacto Histórico (Historischer Pakt) mit Gustavo Petro den aussichtsreichsten Kandidaten für die erste Runde der Präsidentschaftswahlen am 29. Mai ins Rennen schickt. Doch noch ist nichts entschieden: Schon so mancher Ausreißer ist auf dem Weg zum Gipfel ins Straucheln geraten.
Petro versucht für Kolumbien etwas Einmaliges: nämlich den vielfältig marginalisierten Bevölkerungsgruppen eine Stimme innerhalb seines politischen Projekts zu geben.
Nach Jahrzehnten als Senator greift der 61-jährige Petro, der von 2012 bis 2015 auch Bürgermeister der Hauptstadt Bogotá war, nun nach der Macht. Bei den letzten Präsidentschaftswahlen 2018 unterlag er knapp. Für den diesjärigen Wahlkampf stellt er sich bewusst breit auf und betont – ähnlich dem Ansatz der chilenischen Regierung – den inklusiven Charakter seines Bündnisses. Dabei zeigt er auch keine Scheu, etablierte Politikerinnen und Politiker und ihre unappetitlichen klientelistischen Seilschaften einzubeziehen. Trotzdem versucht er für Kolumbien etwas Einmaliges: nämlich den vielfältig marginalisierten Bevölkerungsgruppen eine Stimme innerhalb seines politischen Projekts zu geben.
Die Verkörperung dieser Stimme ist seine Vizepräsidentschaftskandidatin Francia Marquez, die erste Afro-Kolumbianerin, die diese Position übernehmen könnte. Die Aktivistin und Anwältin hatte bei den Vorwahlen insgesamt die drittmeisten Stimmen aller Kandidaten – ein beachtlicher Überraschungserfolg. Ihre Wählerschaft zieht sich durch alle Gesellschaftsschichten, aber vor allem bei den jüngeren Generationen schnitt sie besonders stark ab. Sie verkörpert den Wunsch nach schnellen radikalen Veränderungen und einer sofortigen Transformation der Gesellschaft. Gustavo Petro versucht mit ihrer Ernennung, die vielen jungen Protestierenden zu mobilisieren und vor allem die hohe Zahl derjenigen, die nicht wählen gehen. Allerdings bleibt offen, ob dieser Versuch ausreicht, um die Wahlen zu gewinnen.
Vizepräsidentschaftskandidatin Marquez verkörpert den Wunsch nach schnellen radikalen Veränderungen und einer sofortigen Transformation der Gesellschaft.
Dank des Friedensschlusses mit der ältesten Guerilla Lateinamerikas hat sich das Land politisch verändert. Zweifellos gewinnt das neue kolumbianische Parlament an Diversität. Mehr Frauen, Afro-Kolumbianer, LGBTQI-Abgeordnete und Indigene werden das Land künftig vertreten. Erstmals wurden 16 Sitze an Opfer aus den Regionen vergeben, die besonders vom internen bewaffneten Konflikt betroffen sind. Doch die Bilanz fällt gemischt aus: Neben anerkannten Menschenrechtsverteidigern zogen im März auch Personen mit engen Verbindungen zu Paramilitärs und den Seilschaften der traditionellen Parteien über diesen Weg ins Parlament ein. Ihre Rolle dort bleibt abzuwarten.
Alles in allem zeigt sich nach der ersten Wahletappe ein heikler Mix aus Kontinuität und Wandel. Gustavo Petro reklamiert für sein Bündnis den Wahlsieg – weitgehend zu Recht. Der Pacto Histórico erhielt bei den Kongresswahlen die meisten Stimmen, Petro persönlich die meisten bei der Vorwahl. Aber der Wahlsieg der politischen Linken ist nur die halbe Wahrheit. Denn im Senat und Repräsentantenhaus gibt es nach wie vor keine progressive Mehrheit. Nichtsdestotrotz startet Petro quasi mit dem gelben Trikot in die Präsidentschaftswahlen. Alte klientelistische Machtstrukturen haben das politische System Kolumbiens allerdings weiterhin fest im Griff. Insofern ist selbst im Falle von Petros Sieg ein radikaler Wandel aufgrund der Kongresszusammensetzung wenig wahrscheinlich.
Die aktuelle Regierung hat den historischen und international viel gelobten Friedensprozess ausgehöhlt.
Die Mehrheitsverhältnisse werden die dringend erforderlichen mutigen Reformen zur Bearbeitung der krisenhaften Entwicklung Kolumbiens erschweren. Die Ursachen des heftigen sozialen Aufstands von 2021 wurden bislang kaum bearbeitet. Armut und soziale Ungleichheiten haben zugenommen, auch durch die Pandemie. Steigende Nahrungsmittelpreise erhöhen die Hungergefahr. Gleichzeitig ist das Land hochverschuldet. Die Sicherheitssituation hat sich in vielen Regionen des Landes in den vergangenen Jahren deutlich verschlechtert. Bedrohungen, politische Gewalt und Morde an Aktivisten, Menschenrechtsverteidigerinnen und ehemaligen FARC-Kämpfern sind gerade in den abgelegenen Regionen an der Tagesordnung. Dies wird von Polizeigewalt, Korruptionsskandalen und einem geringen Vertrauen der Bevölkerung in die meisten staatlichen Institutionen ergänzt. Der historische und international viel gelobte Friedensprozess wurde von der aktuellen Regierung ausgehöhlt. Er befindet sich nun in einer kritischen Phase.
Kolumbien steht vor einer Richtungswahl. Es könnte ein Duell zwischen Gustavo Petro und dem rechtskonservativen Federico „Fico“ Gutiérrez geben. Gutiérrez hat die Unterstützung des rechten Centro Democrático, der Partei des ehemaligen Präsidenten Alvaro Uribe und des amtierenden Präsidenten Iván Duque. Sie sind die größten Verlierer dieser ersten Etappe. Das Duellszenario ist jedoch keineswegs sicher. Auch der rechtspopulistische Kandidat Rodolfo Hernández, der sich als politischer Outsider und unerschrockener Kämpfer gegen die Korruption inszeniert, spielt eine Rolle. Die politische Mitte scheint dagegen chancenlos. Ihr Kandidat Sergio Fajardo ist deutlich geschwächt. Er bräuchte ein Wunder, um in die Stichwahl zu kommen – bei der er dann paradoxerweise jedoch gute Chancen hätte. Ebenfalls aus der Mitte kandidiert die international vielbeachtete Ingrid Betancourt, die 2002 als Präsidentschaftskandidatin von der FARC-Guerilla entführt wurde. Der einzigen Frau unter den Kandidaten werden jedoch kaum Chancen eingeräumt.
Die liberale Elite des Landes bringt sich gegen einen Sieg der Linken in Stellung.
Die liberale Elite des Landes bringt sich indes bereits gegen einen Sieg der Linken in Stellung. Der Wahlkampf ist geprägt vom Rassismus, Sexismus und Klassismus gegen Francia Marquez. Selbst dem seit über dreißig Jahren demobilisierten Petro wird stets seine Vergangenheit als Mitglied einer Guerillaorganisation vorgeworfen. Die Abneigung gegenüber einer Umverteilung sowie der drohende Verlust einiger üppiger Privilegien scheint die politischen Kräfte der etablierten Mitte stärker zu treiben als die Hoffnung auf eine gerechtere und friedlichere Zukunft.
Darüber hinaus schwebt über den Wahlen das Damoklesschwert des Wahlbetrugs. Neben Stimmenkauf und Klientelismus wurde bei den jüngsten Parlamentswahlen das geringe Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen dadurch weiter erschüttert, dass hunderttausende Stimmen – überwiegend für oppositionelle Parteien der Mitte oder der Linken – zunächst „verschwunden“ waren und erst bei Neuauszählungen berücksichtigt wurden.
Angesichts der schicksalhaften Verknüpfung mit Venezuela muss der nächste Präsident dringend neue Wege gehen.
Auch außenpolitisch sind die Herausforderungen immens. Im Wahlkampf werden zwar erwartungsgemäß kaum außen- und sicherheitspolitische Fragen diskutiert – obwohl das Land einen gewaltsamen Friedensprozess durchlebt. Auch das geopolitische Umfeld ist herausfordernder geworden. Kolumbien ist Partnerland der NATO und nimmt, trotz der wiederholten Menschenrechtsverbrechen seitens des Militärs, als deren neuer Premiumpartner eine Pionierrolle in dem Militärbündnis ein. Der direkte Nachbar Venezuela hingegen pflegt seit Jahrzehnten enge politische, wirtschaftliche und militärische Verbindungen zu Russland und China. Aktuell hat die kolumbianische Regierung die Beziehungen zu Venezuela aus ideologischen Gründen abgebrochen. Grenzkonflikte drohen ständig zu eskalieren. Angesichts der schicksalshaften Verknüpfung beider Länder muss der nächste Präsident dringend neue Wege gehen. Kolumbien hat in den letzten Jahren fast zwei Millionen venezolanischen Flüchtlinge einen Aufenthaltsstatus gewährt. Gleichzeitig agieren kolumbianische Guerillaorganisationen mittlerweile in beiden Ländern. Lösungen für diese Probleme werden nur durch Kooperation zu finden sein.
In den kommenden Wochen wird sich zeigen, ob es Gustavo Petro noch schafft, die Mitte von seiner Präsidententauglichkeit zu überzeugen. Dafür bemüht er sich auch, etwas vom Ruhm Egan Bernals abzubekommen, dem ersten lateinamerikanischen Sieger der Tour de France. Petro weist gerne darauf hin, dass es seine Kommunalpoltik – in jungen Jahren, kurz nach seiner Demobilisierung aus der M19 – gewesen sei, die in Egans Heimatstadt Zipaquirá die ersten Sozialprogramme aufgebaut habe. Diese hätten es dem Superstar überhaupt erst ermöglicht, als Jugendlicher eine Karriere im Profisport zu starten. Bernal hat sich zumindest nicht gegen die Vereinnahmung gewehrt. Er demonstriert nach einem Horrorsturz gerade sein spektakuläres Comeback. Vielleicht kämpfen sich bald beide zurück ins Scheinwerferlicht – und verleihen damit auch dem Land nach den Rückschlägen und Verletzungen der letzten Jahren wieder Rückenwind.