Argentinien geht es nicht gut, finanziell nicht, sozial nicht, politisch nicht. Hoffnungslosigkeit, Wut und Zynismus breiten sich aus. Schlechte Voraussetzungen für die Demokratie. Denn die Wählerinnen und Wähler werden ihren Unmut im August bei den Vorwahlen und im Oktober bei den Präsidentschaftswahlen zum Ausdruck bringen. Zwar war die WM eine sehr willkommene und notwendige Pause von den täglichen Negativnachrichten. Doch Fußball kann der Politik nicht helfen: Die Siegermannschaft hat sich nicht einmal mit Präsident Alberto Fernández ablichten lassen. Dieser versucht aktuell nur noch bis Dezember 2023 durchzuhalten, wenn der oder die dann Neu-Gewählte das Amt antritt. Es hat sich etwas in der argentinischen Politik verschoben. Wie auch in anderen Demokratien gibt es seit kurzem ultrarechte Systemsprenger, die dem Zorn ein Ventil geben.
Eigentlich zeugten die letzten argentinischen Präsidentschaftswahlen von reifer demokratischer Normalität, und haben jeweils einen friedlichen politischen Wechsel herbeigeführt. Für Argentinien sind dies noch immer relativ neue Erfahrungen, denn vor 1983 war der Bruch mit demokratisch gewählten Regierungen und die Flucht in autoritäre Regime die Norm. Doch mit der Pandemie hat sich die finanzielle und politische Lage derart verschärft, dass die politische Stabilität in schlingernde Fahrwasser gerät. Manches erinnert an die sozialen Krisenjahre kurz nach der Jahrtausendwende.
Im Oktober sind Präsidentschaftswahlen, die Kandidatinnen und Kandidaten der Parteikoalitionen werden am 13. August bei Vorwahlen bestimmt. Neue ultrarechte Akteure heizen eine anti-demokratische und anti-institutionelle Stimmung an und schaffen es, den Diskurs nach rechts zu verschieben. Die aktuelle peronistische Mitte-links-Regierung hat aufgrund der schwierigen Lage und eines fehlenden inhaltlichen Kompasses wenig Chancen auf eine Wiederwahl. Denn das Land leidet unter großen Schwierigkeiten, begonnen mit einer Inflationsrate von über 100 Prozent, einer steigenden Armutsrate von mindestens 39 Prozent, bis hin zu extremer Dürre und daraus folgenden Ernteeinbrüchen und Devisenrückgängen. Dazu kommt eine politische Pattsituation zwischen den politischen Lagern, bedingt durch die komplizierte Finanzlage und verhärtet durch personalisierte Direktangriffe und Beschuldigungen. Ausschlaggebende Elemente für diesen Teufelskreis sind dabei die Megaverschuldung und die Pandemie.
Neue ultrarechte Akteure heizen eine anti-demokratische und anti-institutionelle Stimmung an.
Unter diesen Bedingungen wäre es für jede Partei schwierig, eine Wahl zu gewinnen, vor allem, wenn es weder eine einheitliche Führung noch ein Konzept gibt, wie derzeit in der zerstrittenen Regierungskoalition, die bei den Wahlen als Unión por la Patria ins Rennen gehen wird. Die Tatsache, dass der amtierende Präsident Alberto Fernández nicht wieder antritt, verdeutlicht die aktuelle Schwäche der Regierungspartei. Insbesondere im Zusammenhang mit der Neuverhandlung über die 2018 neu aufgenommenen Megaschulden mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) kam es zu internen Spannungen, von welchen sich die Umfragewerte der Regierung nicht erholen konnten. Erst nach Monaten des unklaren Schwebezustands hat sich die Regierungskoalition dann doch noch entschieden, mit einem Einheitskandidaten ins Rennen zu gehen: dem aktuellem Wirtschaftsminister Sergio Massa. Die Entscheidung scheint richtig, denn neue Umfragewerte positionieren Massa bei circa 31 Prozent, was die Chancen auf eine Wiederwahl der Regierung merklich steigert. Selbst wenn die Präsidentschaft nicht gehalten werden kann, für den Peronismus kommt es darauf an, bei den Kongress- und Senatswahlen nicht unterzugehen.
Sergio Massa hat sich mit der Gruppierung Frente Renovador, die Teil der Regierungskoalition ist, eine Machtbasis geschaffen. 2015 war er schon einmal Präsidentschaftskandidat, als er sich in Opposition zum peronistischen Kandidaten positionierte, und erreichte den dritten Platz. Massa übernahm schließlich 2019 als Abgeordneter das Präsidentenamt des Kongresses, bis er dann 2022 Wirtschaftsminister wurde. Trotz weiterhin hoher Inflationsraten schaffte er es, sich aufgrund seiner guten Kontakte zur Wirtschaft und zu den USA ein „Macher“-Image zu erhalten. Die Chancen des Peronismus, mit Massa in der Mitte zu punkten, sind relativ hoch. Dass die neue Wahlkoalition nun den Namen Unión por la Patria trägt, deutet auch den Rechtsdrift im Peronismus an. Statt mit „Fortschritt“ oder „Wohlstand für alle“ wird mit dem „Vaterland“ geworben.
Der Hauptgegner für die Wahlkoalition ist das konservative Lager um Juntos por el Cambio, das nach den jüngsten Umfragen bis zu 33 Prozent der Stimmen erhalten würde. Dieses schlägt Kapital aus der verfahrenen Finanzsituation sowie der prekären sozialen Lage im Land. Die Favoritin bei den Vorwahlen der Konservativen ist Patricia Bullrich, eine Politikerin der harten Hand. Sie befürwortet eine Schocktherapie für das Land: eine rasche Kürzung öffentlicher Ausgaben sowie eine kräftige Geldentwertung – beides Maßnahmen, die vor allem die vielen armen Haushalte besonders träfen.
Doch die Figur, die das festgefahrene argentinische Politiktableau besonders provoziert und für einen wirklichen „Wandel“ steht, ist Javier Milei. Der 52-jährige Kongressabgeordnete nennt sich selbst libertär und einen Anarcho-Kapitalisten, und fällt durch Rock-Ästhetik sowie Tabu-Vorschläge auf: Hätte er die Wahl zwischen dem Staat und der Mafia, bevorzugte er die Mafia. Zudem möchte er die Zentralbank schließen und die Währung „dollarisieren“. Steuerhinterziehung ist für ihn ein Menschenrecht. Das freie Tragen von Waffen sowie legalisierter menschlicher Organhandel sind Teil seines Programms. Die Ablehnung der „politischen Kaste“ ist das Kernstück seiner Rhetorik. Seine Kandidatin für den Vizepräsidentenposten eckt zuweilen mit der Relativierung der Verbrechen der letzten Militärdiktatur an. Bei letzten Umfragen scheint er sich bei 18 Prozent einzupendeln. Er bekommt insbesondere viel Unterstützung von jungen Männern zwischen 16 und 24 Jahren, eine Altersgruppe, die in ständigen Krisen aufgewachsen ist und keine ökonomische Stabilität kennt. Motivation für potenzielle Wählerinnen und Wähler sind dabei nicht die extremen Meinungen Mileis, sondern seine Rage auf das System.
Die hohen Beliebtheitswerte eines ultrarechten, unbequemen Kandidaten zeigen, wie hilflos die traditionelle Politik gegenüber den immensen Problemen ist.
Die hohen Beliebtheitswerte eines ultrarechten, unbequemen Kandidaten zeigen, wie hilflos die traditionelle Politik gegenüber den immensen Problemen ist. Die Frustrierten und Verärgerten, die nicht Milei wählen, bleiben den Wahlen fern. So zeigten verschiedene Provinzwahlen bereits, dass die Wahlabstinenz bei 40 bis 45 Prozent liegen kann – und das in einem Land, in dem Wählen obligatorisch ist. Kein Rezept scheint zu fruchten, weder die liberale Marktpolitik eines Mauricio Macri noch ein moderater Mitte-links-Kurs, der versucht, dem IWF gerecht zu werden und dabei staatliche Subventionen hochfährt, um das Elend nicht noch größer werden zu lassen. Schulden, nicht ausreichende nachhaltige Auslandsinvestitionen und instabile Regel- und Rahmenbedingungen sind geblieben.
Die zwei Politiker, die die letzten zwei Jahrzehnte die argentinische Politik bestimmt haben, Cristina Ferndández de Kirchner und Mauricio Macri, treten für keine Posten mehr an. Noch agieren sie im Hintergrund, doch ihre Ablösung ist bereits eingeleitet. Unklar ist, was und wer danach kommt. Herausfordernd wird nicht nur der bedeutende Generationswechsel in den kommenden Jahren, sondern ebenfalls der Eintritt der Ultrarechten in das bisherige Duell zwischen Peronismus und Bürgerlichen. Durch Milei werden die traditionellen Konservativen von weit rechts unter Druck gesetzt. Doch auch viele Wähler des peronistischen Lagers, in der Regel aus der unteren Mittelschicht, der Unterschicht und dem informellen Sektor, werden ihren Frust an den Urnen auslassen und möglicherweise für Milei stimmen.
Eine progressive, nicht-peronistische Koalition wird es bei diesen Wahlen nicht mehr geben. Progressive kleine Parteien wie die Sozialistische Partei (PS) laufen überwiegend zum konservativen Lager über. Links des Peronismus gibt es daher nicht viel, lediglich ein traditioneller Außenseiter hält sich tapfer: Argentinien ist eins der wenigen westlichen Länder mit einer trotzkistischen Kleinstpartei im nationalen Parlament. Auch 2023 rechnet die Frente de Izquierda y de Trabajadores mit ein paar Sitzen im Abgeordnetenhaus.
Die Aufgaben, die auf diejenigen warten, die im Oktober – beziehungsweise bei der Stichwahl im November – die Wahlen gewinnen werden, sind enorm: innenpolitisch wie außenpolitisch. Für jeden Arbeitnehmer und jedes Unternehmen ist die Inflation das Thema, welches unter den Nägeln brennt. Das große Schuldenpaket beim IWF muss bedient werden, bremst aber die Entwicklung des Landes, denn sowohl Schulden als auch das verhandelte Schuldenabkommen von 2021/22 konditionieren die Politik. Ein im Mai und Juni neu verhandelter Swap mit China hat zum Ziel, die Reserven der Nationalbank zu stärken und sich damit auch etwas vom US-Dollar lösen. Die Versuche, sich international diverser zu verzahnen, bergen aber die Gefahr, sich von China abhängiger zu machen. Schon jetzt ist das Land ein äußerst wichtiger Kreditgeber und Investor. Chinas einzige Satellitenstation außerhalb des Landes befindet sich in Patagonien.
Und was passiert mit Argentiniens enormem Rohstoffpotenzial? Die Geschäfte mit dem Zukunftsmineral Lithium – von welchem Argentinien die drittgrößten Reserven weltweit beherbergt – und mit Wasserstoff laufen an, jedoch ohne nationale Strategiepläne. Damit kein reiner Ausverkauf auf Kosten von Umwelt, lokalen Gemeinden und möglichen Entwicklungschancen droht, sollten entsprechende Maßnahmen getroffen werden. Fragen des Entwicklungsmodells, der Investitionen und der Handelsbeziehungen bedürfen eines Engagements von Parteien, Gewerkschaften, Zivilgesellschaft, Wissenschaft und eines aktiven Staats, damit Innovation im Sinne von ökologischer und sozialer Verantwortung vorangetrieben wird. Doch das Wahljahr 2023 deutet in eine gänzlich andere Richtung: Wenig Raum für progressive Wirtschafts- und Finanzpolitik, Angriffe auf die hart erkämpfte Demokratie und die Bedeutung der Menschenrechte sowie eine Regierung und eine Opposition, die sich gegenseitig den Schwarzen Peter zuschieben. Argentinien durchlebt eine Polykrise. Dies spielt den Anti-Demokraten in die Hände.