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Die Corona-Pandemie hat Regierungen weltweit in ihrer Macht gestärkt und die Opposition geschwächt. Das gilt auch für das krisengeplagte Venezuela. Trotz Pandemie und desolater wirtschaftlicher Lage sitzt die Regierung von Präsident Nicolás Maduro derzeit fest im Sattel. Nach offiziellen Angaben haben sich bisher etwas mehr als 80 000 Venezolanerinnen und Venezolaner mit Corona infiziert. Diese Zahl ist niedrig im Vergleich zu anderen Ländern der Region, tatsächlich allerdings dürften die Werte um ein Vielfaches höher liegen.
Doch warum können selbst die Folgen der Pandemie Maduros Regierung nichts anhaben? Ausschlaggebend dürften nicht nur die Repressionen des autoritären Regimes sein. Auch die Fehler der Opposition unter Juan Guaidó spielen eine maßgebliche Rolle. Zwar wurde Guaidó von 60 Staaten – darunter auch Deutschland – als Interimspräsident anerkannt. Doch haben er und andere Oppositionsgruppen Maduro jahrelang unterschätzt. Sie hofften, der Druck der internationalen Sanktionen werde die chavistische Regierung an ihren inneren Widersprüchen zerbrechen lassen. Dazu ist es bislang nicht gekommen und derzeit deutet nichts darauf hin.
Das venezolanische Militär hat anders als von der Opposition erhofft nicht die Seiten gewechselt. Ausschlaggebend dafür könnten neben der Repression innerhalb der Streitkräfte die enge Verbindung Guaidós zur US-Administration und deren aggressive Politik unter Donald Trump sein. Durch seine Beteiligung an den Plänen für einen äußerst dilettantisch durchgeführten militärischen Invasionsversuch im Mai 2020 hat Guaidó bei den venezolanischen Militärs zusätzlich Ansehen verspielt. Der Jubel der Opposition unter Guaidó über internationale Sanktionen hat zudem zu einer Entfremdung der Bevölkerung beigetragen. Die Sanktionen haben die ohnehin prekäre humanitäre Lage im Land weiter verschärft. Wer sie bejubelt, kann schwerlich auf die Unterstützung der Bevölkerung hoffen.
Innerhalb der Oppositionsparteien gibt es Befürchtungen, die Opposition werde durch einen Boykott der Wahlen noch die letzte Möglichkeit der politischen Einflussnahme verlieren.
Auch die Pandemie hat die Opposition geschwächt. Eine Mobilisierung vieler Menschen auf der Straße – ein in der Vergangenheit durchaus erfolgreiches Mittel – ist derzeit nicht möglich. Die inzwischen größtenteils verarmte Bevölkerung ist zudem angesichts ständiger Stromausfälle, mangelnder Verfügbarkeit von Wasser und Benzin sowie der akuten Bedrohung der Gesundheit so sehr mit dem täglichen Überleben beschäftigt, dass es bisher nur vereinzelt zu Protestaktionen kam.
Die Regierung fühlt sich so sehr als Herrin der Lage, dass sie nun für den 6. Dezember 2020 Wahlen zur Nationalversammlung angekündigt hat. Diese sollen – so das Kalkül – über eine solide Regierungsmehrheit einen politischen Neustart ermöglichen, mit dem geplante Veränderungen in Politik und Wirtschaft ins Werk gesetzt werden könnten. Maduro erhofft sich zudem von den Wahlen eine Legitimierung seiner Herrschaft. Ob diese Rechnung aufgeht, wird sich zeigen. Doch es ist Maduro immerhin bereits gelungen, mit dem Vorhaben die Opposition zu spalten.
Die vier größeren Oppositionsparteien unter Führung von Juan Guaidó fordern einen Boykott der Wahlen. Wegen der Repressionen und unter den Bedingungen der Pandemie könne es keine Chancengleichheit geben. Außerdem entstünden hohe Kosten: Im März waren die Wahlmaschinen verbrannt – sie müssten neu angeschafft werden. Die wenigen zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel sollten stattdessen für die Bekämpfung des Coronavirus verwendet werden.
Doch innerhalb der Oppositionsparteien gibt es auch Befürchtungen, die Opposition werde durch einen Boykott der Wahlen noch die letzte Möglichkeit der politischen Einflussnahme verlieren. Entsprechend werben Vertreter dieser Position für eine Teilnahme an den Wahlen. Sie sehen die Abstimmung als Möglichkeit, der breiten Ablehnung des Regimes innerhalb der Bevölkerung Ausdruck zu verleihen. Umfragen zufolge lehnen 80 Prozent der Venezolanerinnen und Venezolaner die Regierung Maduro ab. Dieser Teil der Opposition hofft entsprechend darauf, über die Wahlen einen demokratischen Wandel herbeizuführen.
Die Trump-Regierung akzeptiert Verhandlungen mit Maduro nur, um über seine Ablösung zu verhandeln. Ohne Rücksicht auf die Lage der venezolanischen Bevölkerung will sie mit immer schärferen wirtschaftlichen Sanktionen die Regierung in die Knie zwingen.
Ein Wortführer diese Gruppe ist Henrique Capriles, der 2013 die Präsidentschaftswahl gegen Maduro nur knapp verloren hatte. Unterstützt wird diese Position von der katholischen Kirche des Landes: Die Bischofskonferenz hat im August 2020 erklärt, gegenwärtig gebe es keine fairen Bedingungen für die Wahl der Nationalversammlung. Sie fordert die Opposition jedoch auf, der Bevölkerung Alternativen zum Boykott der Wahlen zu bieten. Auch einige prominente Vertreter der Zivilgesellschaft wollen kandidieren – unter der Voraussetzung allerdings, dass der Wahltermin verschoben wird.
Eine dritte Gruppe oppositioneller Kräfte ruft zum Boykott der Wahlen auf, fordert aber die Errichtung einer Regierung im Exil und eine militärische Invasion von außen. Eine letzte Gruppe kleinerer Oppositionsparteien schließlich verhandelt mit der Regierung über konkrete Reformen. Sie will sich ganz überwiegend an der Wahl am 6. Dezember 2020 beteiligen.
Während diese Zersplitterung die Opposition weiter schwächt, sieht sich die venezolanische Regierung mit einem 433 Seiten starken Bericht einer Fact-Finding-Mission der UNO konfrontiert. Dieser wurde am 16. September 2020 dem UN-Menschenrechtsrat vorgelegt. Es handelt sich keineswegs um den ersten internationalen Bericht zur bedrohten Lage der Menschenrechte in Venezuela. Doch ist es der bislang detaillierteste Bericht, der zudem die individuelle Verantwortung Maduros und anderer Regierungsmitglieder für die Menschenrechtsverletzungen feststellt. Damit wären die Voraussetzungen für ein Verfahren vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag erfüllt. Der Bericht könnte entsprechend die politischen Kräfte in Lateinamerika, die sich noch solidarisch mit der chavistischen Regierung erklären, zum Umdenken bewegen.
An der Unterstützung Maduros durch Russland, China, den Iran, Kuba und die Türkei wird der Bericht wohl erst einmal nichts ändern. Auf der anderen Seite stehen die USA, die ebenfalls die Voraussetzungen für eine Parlamentswahl im Dezember nicht erfüllt sehen. Die Trump-Regierung akzeptiert Verhandlungen mit Maduro nur, um über seine Ablösung zu verhandeln. Ohne Rücksicht auf die Lage der venezolanischen Bevölkerung will sie mit immer schärferen wirtschaftlichen Sanktionen die Regierung in die Knie zwingen. Forderungen nach einer militärischen Intervention in Venezuela hat die US-Regierung allerdings eine Absage erteilt.
In der derzeitigen Lage kann das zentrale Ziel nicht die baldige Ablösung Maduros sein, sondern die Verbesserung der katastrophalen Lebensbedingungen der Menschen in Venezuela.
Zwischen diesen Lagern steht die EU. Sie setzt weiterhin auf eine vermittelnde Position. Präsident Maduro hat neben der UNO auch die EU um die Entsendung einer Beobachtermission zu den Wahlen im Dezember gebeten. Derzeit verhandelt Brüssel mit der Regierung über die Verschiebung des Wahltermins – bisher allerdings ohne Erfolg. Zwar wurden im September 110 politische Gefangene freigelassen – ungeachtet dessen hat die von der EU ins Leben gerufene Internationale Kontaktgruppe erklärt, dass zur Zeit die Bedingungen für die Abhaltung von transparenten, inklusiven und freien Parlamentswahlen am 6. Dezember nicht gegeben seien. Die Entsendung einer Wahlbeobachtungsmission zu diesem Termin hat sie abgelehnt.
Angesichts der humanitären Katastrophe im Land und der Bedrohung durch das Coronavirus ist eine politische Entspannung in Venezuela dringender denn je. Wirklich faire und freie Parlamentswahlen sind in absehbarer Zeit nicht zu erwarten. Das sollte auch den Oppositionsparteien klar sein. Sie sollten den Willen der großen Mehrheit der Venezolanerinnen und Venezolaner respektieren, die einen friedlichen Machtwechsel durch Wahlen anstrebt, und zu den Wahlen antreten.
Allerdings müsste die Regierung im Gegenzug einige Minimalanforderungen garantieren. Dazu gehört die Verschiebung des Wahltermins. Dann könnten diese Wahlen den Beginn einer Lösung der Krise markieren. Gleichzeitig müsste in sehr viel größerem Umfang als bisher humanitäre Hilfe ins Land gelangen. Auf sich selbst gestellt wird das verrottete Gesundheitssystem des Landes die Pandemie nicht wirksam bekämpfen können. Dafür allerdings müsste die Regierung erst einmal einräumen, dass im Land eine humanitäre Krise herrscht. Anschließend könnten unter internationaler Vermittlung schrittweise weitere Themen zwischen Regierung und Opposition verhandelt werden.
Derzeit sieht es jedoch nicht so aus, als würde Präsident Maduro in diesen Punkten nachgeben. Zugeständnisse dienten bislang nur dem Ziel, mehr Zeit zu gewinnen. Die harte Linie der US-Regierung ist zudem nicht hilfreich. Die Beispiele anderer Länder wie Iran oder Nordkorea zeigen, dass mit Sanktionen belegte Regime ihre Macht festigen, während die große Mehrheit der Bevölkerung unter ihren Folgen leidet. Es führt daher kein Weg an weiteren Verhandlungen mit der Regierung Maduro vorbei. Die EU sollte ihren vermittelnden Kurs fortsetzen und den Gesprächsfaden nicht abreißen lassen. In der derzeitigen Lage kann das zentrale Ziel nicht die baldige Ablösung Maduros sein, sondern die Verbesserung der katastrophalen Lebensbedingungen der Menschen in Venezuela.