Argentinien befindet sich seit Donnerstagnacht in einem tiefen politischen Umbruch. Am 1. September um circa 21:00 Uhr Ortszeit zielte ein Mann mit einer Waffe aus nur wenigen Zentimetern Entfernung auf den Kopf der aktuellen Vizepräsidentin und ehemaligen Präsidentin Cristina Kirchner. Der Angreifer hatte sich unter eine große Gruppe von Anhängerinnen und Anhängern der Vizepräsidentin gemischt. Diese hatten sich vor ihrer Haustür versammelt, um ihr im Zuge des Gerichtsverfahrens gegen sie ihre Unterstützung zu zeigen. Die Waffe war geladen, aber die Kugeln verließen nicht ihren Lauf. Der Angreifer ist mittlerweile festgenommen. Die Situation offenbarte schwerwiegende Mängel im Personenschutz der Politikerin.
Was bisher über den Angreifer bekannt ist: Er heißt Fernando Andrés Sabag Montiel, 35 Jahre alt, besitzt die brasilianische Staatsangehörigkeit, lebt aber seit 1993 in Argentinien. Tätowierungen an Armen und Händen weisen Symbole auf, die ihn mit Neonazi-Gruppen in Verbindung bringen. Er scheint aus einer problembelasteten Familie zu stammen und davon besessen, im Fernsehen aufzutreten, da er bei mehr als einer Gelegenheit auf dem Sensationssender Crónica TV auftauchte. Bislang, so der Wissensstand, scheint der Angreifer keine direkte Verbindung zu politischen Kräften im Land zu haben.
Die Gewaltrate in der argentinischen Politik ist seit Ende der Militärdiktatur 1983 relativ gering. Nach Bekanntwerden des Vorfalls verurteilten Politikerinnen und Politiker der Regierungs- wie auch der Oppositionsparteien den Anschlag. In einigen Fällen wurde der Regierung vorgeworfen, das gescheiterte Attentat zu Wahlkampfzwecken instrumentalisieren zu wollen. Nur vereinzelte, wie zum Beispiel die Lokalpolitikerin und Abtreibungsgegnerin Amalia Granata, unterstützten die Theorie, dass es sich um einen fingierten Mordanschlag handele.
Noch in der Nacht des Anschlags verurteilte der Präsident Alberto Fernández in einer nationalen Fernsehansprache den Anschlag und ordnete für Freitag, den 2. September, einen Feiertag an. Dieser sollte zum Nachdenken anregen, aber auch zur Mobilisierung der Bürgerinnen und Bürger, um die Demokratie zu verteidigen. In seiner Ansprache verwies er, wie später auch verschiedene Anhängerinnen und Anhänger der breiten peronistischen Regierungskoalition, auf die sogenannten „Hassreden“, die nach seinen Aussagen von konservativen politischen Kreisen und verschiedenen ultraoppositionellen Medien ausgehen.
Der Graben der politischen Polarisierung des Landes scheint selbst bei diesem tragischen Ereignis unüberwindbar.
Und in der Tat, der Aufruf gegen „Hassreden“ war einer der wichtigsten Slogans, die bei den Mobilisierungen am Folgetag zu sehen waren. Obwohl es einige kleinere gemeinsame Erklärungen der Regierungspartei und der Opposition gab, bleibt festzustellen, dass trotz der institutionellen Schwere des Ereignisses keine gemeinsame offizielle Botschaft formuliert wurde. Der Graben der politischen Polarisierung des Landes scheint selbst bei diesem tragischen Ereignis unüberwindbar.
Obwohl es keine direkte Verbindung zwischen dem Angreifer und rechten politischen Kräften zu geben scheint, behaupten viele Stimmen – vor allem aus dem Lager der Kirchner-Anhänger –, dass es sich nicht um einen „Einzelgänger“ handele, sondern um einen Mann, der durch den wütenden Anti-Kirchner-Diskurs der Opposition radikalisiert wurde. Andere wiederum weisen darauf hin, dass der Begriff „Hassreden“ nicht überstrapaziert werden sollte.
Zweifellos wird der Angriff auf Cristina Kirchner in den kommenden Monaten im Mittelpunkt der nationalen Politik stehen und die diversen Interpretationen und Meinungen im Zusammenhang mit dem Fall werden nicht abreißen. Der Angriff ist Teil einer komplexeren politischen Gesamtsituation. Die politische Lage war bereits durch den Prozess gegen Cristina Kirchner sehr angespannt. Ihr wird vorgeworfen, eine „illegale Organisation“ mit angeführt und den Staat durch überhöhte Preise bei öffentlichen Bauvorhaben betrogen zu haben.
Die Anhänger von Cristina Kirchner wiederum behaupten, dass Diego Luciani – der Staatsanwalt, der zwölf Jahre Gefängnis für die Vizepräsidentin gefordert hat – keine Beweise und keine Anhaltspunkte für solche Anschuldigungen habe. Man wirft Teilen der Justiz und der rechten Opposition vor, eine Art Lawfare zu betreiben, die darin besteht, die politische Vernichtung des Kirchnerismus und sogar des gesamten Peronismus mittels juristischer Mittel anzustreben, um letztendlich – im Interesse der ökonomischen Eliten – selbst an die Macht zu kommen. Entsprechend vergleichen sie den Prozess gegen Cristina mit dem Verfahren gegen Luiz Inácio Lula da Silva in Brasilien.
Andererseits ist die Regierungskoalition politisch angeschlagen und bröckelte bereits in den Monaten zuvor. Die Vereinbarung mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) im März verursachte eine Auseinandersetzung innerhalb der Regierung, und zwar zwischen der gemäßigten Linie von Alberto Fernández und der radikaleren Linie des Kirchnerismus. Das vom ehemaligen Wirtschafts- und Finanzminister Martín Guzmán verhandelte Abkommen wurde von Cristina Kirchner und ihrem Umfeld heftig kritisiert. Während die Kreise um Präsident Fernández die Vereinbarung als – den Umständen entsprechend – bestmögliche Lösung verteidigten, um die Verpflichtungen aus der Schuldenübernahme der Mauricio-Macri-Regierung überhaupt erfüllen zu können, sahen Cristina Kirchner und ihre Anhänger darin ein zu großes Entgegenkommen gegenüber der internationalen Finanzinstitution.
Das Attentat auf die Vizepräsidentin scheint nun das breite und zerstrittene politische Regierungsbündnis zumindest vorübergehend wieder zusammenzuschweißen.
Der dramatische Abgang Martín Guzmáns, der der Denkschule von Joseph Stiglitz entstammt, sorgte entsprechend nicht nur für politisches Chaos, sondern entfachte ein finanzpolitisches Drama im Hochinflationsland. Doch der Kirchner-Flügel ließ eine konkrete politische Antwort vermissen, so dass mittlerweile eine Pro-Establishment-Figur – Sergio Massa – das neue „Superministerium für Wirtschaft“ (Wirtschaft, Landwirtschaft, Industrie) besetzt.
Das Attentat auf die Vizepräsidentin scheint nun das breite und zerstrittene politische Regierungsbündnis zumindest vorübergehend wieder zusammenzuschweißen. Es ist wahrscheinlich, dass die Rhetorik der „Hassrede“ von nun an als Trennlinie zwischen der Regierungspartei und der rechten und mitte-rechten Opposition fungieren wird.
Gleichzeitig bringt die neue Situation die Opposition in eine komplizierte Lage. In jüngster Zeit hat das Wahlbündnis „Juntos por el Cambio“ zwischen der Partei des Ex-Präsidenten Mauricio Macri und der Radikalen Bürgerunion (UCR) neue Konkurrenz durch die rechtsgerichteten Libertären von Javier Milei bekommen. Auch innerhalb der Konservativen schieben einige den Diskurs weit nach rechts. Doch selbst der führende Kopf der moderaten Oppositionellen, Horacio Larreta, der Regierungschef der Stadt Buenos Aires, hat in letzter Zeit die politischen Zügel angezogen, indem er beispielsweise die Verwendung der sogenannten inklusiven Sprache in den öffentlichen Schulen der argentinischen Hauptstadt verboten hat.
Argentinien stehen unruhige Monate bevor. Es bleibt unklar, ob der marktfreundlichere Kurs von Minister Massa die IWF-Bedingungen erfüllen, die Staats-Reserven erhöhen und die Inflation senken wird. Es ist wahrscheinlich, dass der Kirchnerismus versuchen wird, das Gerichtsverfahren gegen Cristina Kirchner als eine Variante der „Hassrede“ einzustufen und die Mobilisierung gegen die Staatsanwälte und Richter verstärken wird. Und schließlich ist es möglich, dass sich angesichts der Präsidentschaftswahlen 2023 nach dem Anschlag alle politischen Akteure radikalisieren werden, statt aufeinander zuzugehen. Unbestritten ist die zentrale Rolle von Cristina Kirchner in jedem dieser Szenarien.
Aus dem Spanischen von Svenja Blanke