Wenn die Umfragen Recht behalten, wird am Sonntag der Plan von Andrés Manuel López Obrador, auch bekannt als Amlo, aufgehen: Seine Favoritin Claudia Sheinbaum von der linksnationalistischen Sammelbewegung Morena würde mit deutlichem Vorsprung die Präsidentschaftswahl gewinnen. Die beiden kennen sich aus Studienzeiten, die Physikerin und bisherige Hauptstadtbürgermeisterin hat ihren Mentor über Jahrzehnte politisch begleitet. Sheinbaum gilt als pragmatische Technokratin und hat nie eine eigene politische Basis aufgebaut. Ihre Karriere verdankt sie der Loyalität zum charismatischen Ideologen López Obrador. Der geht deshalb davon aus, dass die 61-Jährige mit dem streng zurückgekämmten Pferdeschwanz sein Projekt linientreu fortsetzen wird. Das ist bei knapp zwei Dritteln der Mexikanerinnen und Mexikaner populär. Doch bei genauem Hinsehen offenbart es zahlreiche Schwachstellen.
Amlos großes Wahlkampfversprechen war die Umverteilung des Reichtums auf die ärmeren Schichten. „Primero los pobres“ – „die Armen zuerst“ – lautete sein Slogan. Damit traf er den Nerv einer frustrierten Gesellschaft: Mit Inkrafttreten des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens im Jahr 1994 wurde Mexiko in eine Industrialisierungsphase katapultiert, als verlängerte Werkbank der US-Wirtschaft. Das brachte Stabilität, wirtschaftliche Diversifizierung und ein konstantes, aber geringes Wirtschaftswachstum von zwei Prozent im Jahr.
Zu wenig, um genügend Arbeitsplätze für die junge Gesellschaft zu schaffen. 56 Prozent der Bevölkerung arbeiteten ohne soziale Absicherung im informellen Sektor. Und im formellen Sektor stieg der Mindestlohn – auf Drängen der Unternehmer – absichtlich unter der Inflationsrate. Die Folge war eine sich vertiefende soziale Bresche: Die obersten zehn Prozent bereicherten sich enorm; knapp 300 000 Mexikanerinnen und Mexikaner sind heute Millionäre. Für die gebildete Mittelschicht, die auf die eine oder andere Weise an die Exportwirtschaft gekoppelt ist, brachte das Modell akzeptablen Wohlstand. Zwei Drittel der Bevölkerung blieben jedoch abgehängt und verloren immer mehr Kaufkraft.
Amlo hat deshalb dem Sozialen systematisch Vorrang eingeräumt. Von 2018 bis 2024 haben sich die Ausgaben für Sozial- und Rentenprogramme fast vervierfacht, von acht auf 30 Milliarden Euro. Das brachte den rund 25 Millionen Begünstigten trotz einer akkumulierten Inflation von 25 Prozent einen deutlichen Kaufkraft-Zugewinn. Gleichzeitig stieg der Mindestlohn um 110 Prozent in sechs Jahren. Auch die Gewerkschaften erstritten deutlich höhere Lohnabschlüsse. Das allerdings ist nicht Amlo zu verdanken, sondern neuen Klauseln im Freihandelsvertrag, die die Gewerkschaftsfreiheit vor Schiedsgerichten einklagbar machen, was dem Monopol der korrupten, arbeitgeberfreundlichen Gewerkschaften das Genick brach. Die Armut, die in Mexiko nicht nur am Einkommen, sondern auch anhand zahlreicher anderer Faktoren ermittelt wird, sank in seiner Regierungszeit von 41,9 auf 36,3 Prozent.
Amlos Nachfolgerin muss entscheiden, ob sie diese populistische Sozialpolitik fortführt.
Doch erreicht wurde dies weder mit Schulden noch mit einer Steuerreform, sondern vor allem mit deutlichen Einsparungen an anderer Stelle – etwa im Gesundheits- und Bildungssystem oder dem Katastrophenschutz. Eine klassische neoliberale Sparpolitik also. Dort herrsche Korruption, behauptete Amlo, jedoch ohne je Beweise vorzulegen oder Prozesse gegen Verantwortliche einzuleiten. Es wurden Kinderkrippen und Betreuungsprogramme für Jugendliche geschlossen; Straßen und öffentliche Gebäude sind marode. Die von seinen Vorgängern aufgebaute Volksgesundheitsversicherung löste er auf – und trieb die Menschen damit in die Arme privater Gesundheitsanbieter.
Das jedoch ist dauerhaft keine nachhaltige Politik: Weder hat die Ungleichheit abgenommen noch hat sich die soziale Mobilität signifikant verbessert – nur drei Prozent der Armen schaffen den Aufstieg. Nur die Hälfte der Programme sind laut dem unabhängigen Evaluierungsunternehmen Coneval angemessen konzipiert. Amlos Nachfolgerin muss entscheiden, ob sie diese populistische Sozialpolitik fortführt, die kurzfristig Popularität garantiert, aber mittelfristig in eine Sackgasse führt.
Investitionen kanalisierte Amlo vor allem in seine vier Lieblingsprojekte: den Maya-Zug im Südwesten des Landes, den Trockenkanal Transistmico, der mittelfristig eine Alternative zum Panama-Kanal werden soll, den Bau eines neuen Hauptstadtflughafens und einer Raffinerie in einem Mangrovenwald in seinem Heimatbundesstaat Tabasco. Außerdem ließ er die Pleite gegangene Fluglinie Mexicana wieder auferstehen – unter Kontrolle des Militärs. Alle Projekte wurden von zahlreichen Korruptions- und Umweltskandalen überschattet und wurden deutlich teurer als geplant. Auf umgerechnet 27 Milliarden Euro belaufen sich die Baukosten mittlerweile, und noch sind die meisten Projekte nur halb fertig. Ob sie jemals Gewinne einfahren, ist fraglich; Wirtschaftlichkeitsstudien wurden zur geheimen Verschlusssache erklärt.
Sein Versprechen, die grassierende Korruption auszurotten, ist über Rhetorik und symbolische Gesten (wie die Abhaltung eines Plebiszits über die Eröffnung von Prozessen gegen seine Vorgänger) nicht hinausgekommen. Zum Generalstaatsanwalt ernannte er einen langjährigen politischen Weggefährten, der seinen Posten für private Vendettas und die Verfolgung politischer Gegner nutzte. Journalisten oder Mitarbeitern, die Korruptionsskandale seiner Familie und Minister enthüllten, drohte er mit der Steuerbehörde oder er diffamierte sie öffentlich. Dem Transparenzinstitut (Inai) drohte er mit Schließung und er ließ von seiner Kongressmehrheit die Ernennung von Direktoriumsmitgliedern blockieren – was das Institut monatelang beschlussunfähig machte. Im Korruptionsindex von Transparency International gab es in seiner Amtszeit daher keine nennenswerte Verbesserung. Mexiko stand 2023 auf Platz 126 von 180 Ländern und ist weiterhin Schlusslicht innerhalb der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD).
Über 170 000 Morde in sechs Jahren und über 44 000 Verschwundene sind ein neuer Rekord.
Ein zweites großes Versprechen war eine neue Sicherheitsstrategie im Kampf gegen das Organisierte Verbrechen. „Küsse statt Schüsse“, hieß sie und sie sollte die Militarisierung des Drogenkriegs beenden und stattdessen den Kartellen durch Prävention die soziale Basis entziehen. Damit ist Amlo krachend gescheitert. Über 170 000 Morde in sechs Jahren und über 44 000 Verschwundene sind ein neuer Rekord, trotz Versuchen, die Statistiken zu beschönigen. Das Militär wurde nicht zurückgezogen, sondern von Amlo mit immer mehr Kompetenzen ausgestattet – für über 200 Funktionen, von der Verteilung von Impfstoffen über die Jagd auf Migranten bis zur Zollaufsicht und zum Bau von Zugstrecken ist es verantwortlich. Der Rechenschaftspflicht entziehen sich die Streitkräfte, indem sie ihre wirtschaftlichen Aktivitäten für sicherheitspolitisch relevant und damit für geheim erklären. Das Militär wurde unter Amlo zum Staat im Staate.
Die auf Sicherheit spezialisierte Crisis Group fand Hinweise darauf, dass staatliche Sicherheitskräfte mit lokalen Mafiagruppen zusammenarbeiten, um das Vordringen des mächtigen Kartells Jalisco Nueva Generación (CJNG) zu stoppen. In Bundesstaaten wie Michoacán, Guerrero, Veracruz und Colima gab es dem Bericht zufolge ein „Koexistenzabkommen“, das es den Kartellen erlaubte, sich an Schutzgelderpressung und Drogenhandel zu bereichern, solange sie die „sichtbare Gewalt“ reduzierten. Besonders zum Sinaloa-Kartell unterhielt Amlo gute Beziehungen. So traf er sich mit der Mutter des in den USA verurteilten Drogenbosses „El Chapo“ Guzmán zu einem Picknick. Zudem ordnete er die Freilassung von Guzmáns Sohn an, als dieser bei einer Spezialoperation 2019 festgenommen wurde. Während der Parlaments-Zwischenwahlen 2021 entführten Kartellmitglieder Hunderte von Wahlzeugen der Opposition. Morena gewann die Wahl.
Diese Sicherheitspolitik führte zur Verstimmung der USA, die mit den Folgen des Fentanyl-Missbrauchs kämpfen. Die USA brauchen in der Drogen- und Migrationspolitik die Kooperation Mexikos. Das gibt der mexikanischen Regierung zwar einen Hebel in die Hand – aber der darf nicht überstrapaziert werden. Denn Mexikos Außenhandel geht zu über 80 Prozent in die USA. Sanktionen würden die Wirtschaft empfindlich treffen. Amlos Nachfolgerin steht eine heikle Gratwanderung bevor – insbesondere wenn Donald Trump die Präsidentschaftswahl gewinnen sollte.
Der Umweltschutz hatte für Amlo keine Priorität. Seine Megaprojekte erklärte er als relevant für die nationale Sicherheit und umging damit langwierige Umweltgutachten. Umweltschützer erhielten Morddrohungen – oder staatliche Aufträge, um sie zum Schweigen zu bringen. Das von seinen Vorgängern geschaffene System zum Ausbau erneuerbarer Energien durch Privatinvestoren stoppte er und pumpte stattdessen Steuer-Milliarden in den verschuldeten, korruptionsbelasteten staatlichen Ölkonzern Pemex und den staatlichen Energieversorger CFE, dessen Energiemix auf fossilen Treibstoffen und Wasserkraft basiert.
Der zivilisierte, demokratische und rationale Austausch von Argumenten machte einem ideologisierten Schlagabtausch Platz.
Es laufen noch zahlreiche Prozesse der privaten Solar- und Windkraftfirmen, deren Projekte dadurch abrupt ausgebremst wurden. Ihm gehe es um nationale Energie- und Rohstoffsouveränität, sagt Amlo. Die Zeche zahlt die Bevölkerung mit Energie- und Wasserengpässen nach Dürrekatastrophen und der Rekordhitze im Frühjahr 2024. Doch auch für die USA ist Mexikos energetische Kehrtwende ein Problem, denn sie gestalten derzeit ihre Lieferketten nachhaltiger, um international wettbewerbsfähig zu bleiben.
Am meisten irritierte Amlo mit seiner permanenten polarisierenden Rhetorik gegen die „neoliberale Oligarchie“. Zeitweise nahm sein Regierungsstil Züge eines irrationalen Rachefeldzugs gegen die Elite an. Und es blieb nicht beim Narrativ. Unter ihm wurden systematisch autonome Institutionen wie das Wahlinstitut und wissenschaftliche Einrichtungen geschwächt durch die Ernennung von Getreuen oder die Streichung von staatlichen Geldern. Die staatliche Macht wurde – wie schon in den 70 Jahren der Einparteienherrschaft von 1929 bis 2000 – im Präsidentenpalast zentralisiert, wo Amlo jeden Morgen eine als Pressekonferenz getarnte Audienz hält und politische Entscheidungen trifft.
Das Oberste Gericht, das einige seiner Reformen als verfassungswidrig kippte, will er künftig nach bolivianischem Vorbild vom Volk wählen lassen. Sheinbaum hat er bereits eine entsprechende Reform ans Herz gelegt – für die allerdings eine qualifizierte Mehrheit im Kongress nötig wäre. Die Frauenbewegung tat er als „konservativ unterwandert“ ab, ebenso wie Menschenrechtsorganisationen und die Katholische Kirche, wenn diese Kritik an seiner Politik übten. Der zivilisierte, demokratische und rationale Austausch von Argumenten machte einem ideologisierten Schlagabtausch Platz.
Mexikos noch junge demokratische Kultur erlitt dadurch Schaden. Ob Sheinbaum diesen Regierungsstil fortsetzt, hängt nicht nur von ihr ab. Gelingt es der bürgerlichen Opposition, den Hauptstadt-Bürgermeister zu stellen oder einige Gouverneursposten zurückzuerobern und im Kongress eine qualifizierte Mehrheit von Morena zu verhindern, wird dies Sheinbaum zur Mäßigung zwingen. Ob die stark auf Amlo fixierte Partei mitzieht oder sich vielleicht darüber sogar entzweit, wird die Zukunft zeigen.