Fünf Tage sind seit dem Wahlgang vergangen, doch das Endergebnis der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in Ecuador ist noch offen. Klar ist, dass Andrés Arauz die meisten Stimmen auf sich vereinen konnte. Aktuell werden ihm 32,63 Prozent der Stimmen zugerechnet. Arauz ist der Kandidat des politischen Lagers um Ex-Präsident Rafael Correa und der Koalition UNES (Unión por la Esperanza). Gegen wen der junge Ökonom Anfang April antreten wird, ist aber weiter offen.
Laut Verfassung ist eine Stichwahl nötig, da Arauz nicht mindestens 40 Prozent der Stimmen sowie zehn Prozentpunkte Abstand zum nächstplatzierten Kandidaten erreichte. Denkbar knapp ist der Abstand zwischen dem Umweltaktivisten und Indigenen Yaku Pérez von der plurinationalen Einheitsbewegung (Movimiento de Unidad Plurinacional) Pachakutik (aktuell 19,49 Prozent) und dem wirtschaftsliberalen Guillermo Lasso der Rechtsallianz CREO-PSC (aktuell 19,70 Prozent).
Insbesondere das gute Ergebnis für Pérez kam für viele überraschend. Lag er zunächst vor Lasso auf dem zweiten Platz, ist er durch die erneute Überprüfung von unstimmigen Wahllisten zurückgefallen. Angesichts strittiger Entscheidungen der Wahlbehörde im Vorfeld der Wahl, der Organisationsprobleme am Wahltag und der fehlenden Transparenz bei der Revision der unstimmigen Wahllisten hat Yaku Peréz eine erneute Auszählung aller Stimmen gefordert und erklärt, er werde das Ergebnis im Zweifelsfall anfechten.
Wer im Wahlkampf auf facettenreiche Programme hoffte, wurde enttäuscht. Geboten wurden inhaltsleere und personenzentrierte Proklamationen.
Diese Zitterpartie befeuert die bereits latente Krise der repräsentativen Demokratie und ihrer Institutionen im Land. In Ecuador herrscht Wahlpflicht. Dennoch blieben fast 19 Prozent der Wahlberechtigten der Wahl fern. Zudem gaben 12 Prozent (bzw. gar 24 Prozent im Falle der Wahlen für die Nationalversammlung) ungültige oder leere Stimmzettel ab. Ein Teil der Bevölkerung fühlt sich von den Parteien nicht repräsentiert. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass 15 Kandidaten und eine Kandidatin für das Präsidentschaftsamt zur Wahl standen.
Wer im Wahlkampf auf klar unterscheidbare facettenreiche Programme hoffte, wurde enttäuscht. Geboten wurden stattdessen weitestgehend inhaltsleere und personenzentrierte Proklamationen von Einzelideen. Wenig wurde über Lösungen für aktuelle Probleme diskutiert (wie ließe sich beispielsweise das kollabierende Gesundheitswesen unterstützen). Stattdessen wurden alte Polarisierungen bedient, insbesondere die zwischen den Anhängern des rechtmäßig in Ecuador verurteilten und in Belgien wohnhaften Ex-Präsidenten Rafael Correa und dem Rest der politischen Parteien.
Bestätigt sich die aktuelle Tendenz, wäre Ecuador knapp an einem historischen Wahlausgang vorbeigeschrammt. Und das nicht nur, da mit Arauz und Pérez zwei linke Kandidaten in die Stichwahl gekommen wären. Ein indigener „grüner“ Präsident Pérez wäre nicht nur für Ecuador, sondern auch für die Region ein Novum gewesen. Pérez konnte vor allem junge und von den etablierten politischen Kräften enttäuschte Wählerinnen und Wähler auch abseits der indigenen Stammwählerschaft mit seinem Diskurs gegen Extraktivismus, für den Schutz der Biodiversität und für eine effektive Plurinationalität begeistern. Als Kandidat der Pachakutik konnte er weitestgehend auf die Unterstützung der CONAIE, dem Bündnis der indigenen Nationalitäten Ecuadors, zählen. Sie ist die wohl einzige schlagkräftige soziopolitische Organisation Ecuadors.
Selbst wenn es der indigene Umweltaktivist Pérez nicht in die Stichwahl schaffen sollte, ist der Wahlausgang für seine plurinationale Pachakutik ein großer Erfolg.
Zudem gelang es Pérez, seine Kandidatur mit der Protestwelle vom Oktober 2019 zu verbinden. Damals gingen angeführt von Gewerkschaften und den Vertretern der CONAIE Tausende auf die Straße. Ausgelöst wurden die Proteste durch staatlich verordnete Subventionskürzungen und die Austeritätspolitik der Regierung. Selbst wenn es Pérez nicht in die Stichwahl schaffen sollte, ist der Wahlausgang für Pachakutik ein großer Erfolg. Sie konnte ihre Mandate von vier auf (voraussichtlich) historisch einmalige 26 mehr als versechsfachen und wird damit als zweitstärkste Kraft in der Nationalversammlung vertreten sein.
Stimmen gekostet hat Pérez seine ambivalente programmatische Haltung in wesentlichen Politikbereichen, die ihm insbesondere im linken Lager den Ruf eines Wendehalses und New-Age-Politikers einbrachte. In einem möglichen Szenario einer Stichwahl Arauz-Pérez würde ihn diese Ambivalenz aber auch anschlussfähiger für Bündnisse mit gemäßigten oder sogar rechten Parteien machen.
Ein anderes Szenario ist indes wahrscheinlicher: eine Stichwahl zwischen dem linken Andrés Arauz und dem rechtsliberalen Guillermo Lasso, der bereits zum dritten Mal als Präsidentschaftskandidat antritt. Als Geschäftsmann und ehemaliger Bänker gilt Lasso als Liebling der ökonomischen Eliten. Mit der Forderung nach Privatisierungen, Liberalisierung und Deregulierung vertritt er ein wenig innovatives neoliberales Programm. Trotz der finanziellen Schlagkraft seines Wahlkampfes und des Zuspruchs der ihm gewogenen Massenmedien blieb Lasso hinter den Erwartungen zurück. Auch insgesamt ist das Wahlergebnis für die Rechte im Land ernüchternd. Im Vergleich zu 2017 verlieren die rechten Parteien CREO und PSC fast die Hälfte der Sitze in der Volksversammlung – eine erhebliche Beschränkung für eine Regierung Lasso bei einem möglichen Wahlsieg.
Die ökonomische und soziale Lage ist katastrophal und zahlreiche Wählerinnen und Wähler sind sehr enttäuscht von der wirtschaftsliberalen und unternehmerfreundlichen Politik der scheidenden Regierung unter Lenin Moreno. Daher ist die Ablehnung neoliberaler Politikrezepte wenig überraschend. Angetreten als Parteifreund und auserkorener Nachfolger des sozialistischen Rafael Correa leitete Moreno nach Beginn seiner Amtszeit einen abrupten Richtungswechsel ein – hin zu einer marktliberalen Politik. Er nahm einen IWF-Kredit auf, kürzte bei den Staatsausgaben, schleifte Sozial- und Arbeitnehmerrechte und förderte die Strafverfolgung der Mitglieder der Correa-Regierungen.
Arauz konnte im Wahlkampf kein eigenes Profil entwickeln. Zu präsent war die Figur Correas, zu erdrückend die Glorifizierung und Reminiszenz an die soziale, aber eben auch autoritäre Politik der Correa-Jahre.
Nach vier Jahren an der Macht hinterlässt Moreno seinem Nachfolger einen Berg an Problemen. Das Land ist hoch verschuldet, schon vor der Pandemie stagnierte die Wirtschaft. Im letzten Jahr brach sie um geschätzte neun Prozent ein. Eine verheerende soziale Lage und ein starker Anstieg der Arbeitslosigkeit und Armut sind die Folge. Eine klägliche Corona-Bilanz mit offiziell über 15 000 Toten und der dunklen Erinnerung an Leichen in den Straßen von Guayaquil zu Beginn der ersten Welle der Pandemie kommt dazu. Dieses Politikversagen erklärt zum Teil das in der Bevölkerung weitverbreitete Gefühl, vom Staat allein gelassen worden zu sein.
Kein Wunder, dass die Partei Morenos – Allianza Pais – nach der Wahl nicht mehr in der Nationalversammlung vertreten sein wird. Das rechte Bündnis CREO-PSC konnte sich mit seinen der Regierung ähnelten Positionen von dieser desaströsen Politik nur sehr bedingt absetzen. Es ist kaum wahrscheinlich, dass in einer möglichen Stichwahl Arauz-Lasso zusätzliche Wählerinnen und Wähler von den gleichen Politikrezepten überzeugt werden können.
Das Wahlergebnis kann auch als Linkswende gelesen werden. Arauz, Pérez und Xavier Hervas von den links-zentristischen Linken Demokraten (Izquierda Democratica) (15,71 Prozent) konnten über zwei Drittel der Stimmen der Präsidentschaftswahl auf sich vereinen. Ihre Parteien stellen zusammen fast 60 Prozent der Abgeordneten in der neuen Nationalversammlung. Der neue Präsident wird Mehrheiten in der Nationalversammlung organisieren müssen. Entsprechend bietet sich die Chance für eine linke Konsensfindung und einen neuen politischen Protagonismus der Legislative. Die Voraussetzungen existieren. Doch besitzen die Akteure auch die kollektive Intelligenz, diese zu nutzen?
Zweifel sind angebracht; nicht nur, aber vor allem im Lager um den Wahlgewinner Andrés Arauz – insbesondere aufgrund des im Wahlkampf omnipräsenten Rafael Correa. In der Tat konnte Arauz im Wahlkampf der UNES kaum ein eigenes, zugänglicheres Profil entwickeln. Zu präsent war die Figur Correas, zu erdrückend die Glorifizierung und Reminiszenz an die soziale, aber eben auch autoritäre Politik der Correa-Jahre. Zwar hat Arauz bereits angekündigt, vor der Stichwahl auf die linken Parteien zuzugehen. Ohne Selbstkritik und glaubwürdige Zeichen der Konsensbereitschaft wird dies aber kaum erfolgreich sein. Zu tief scheinen die Gräben der Correa-Jahre. Die Polarisierung wurde damals vorangetrieben, Gegner wie Angehörige der CONAIE juristisch verfolgt und soziale und ökologische Proteste abgewürgt. Daher ist es trotz des eindeutigen Wahlsiegs keineswegs ausgemacht, dass Arauz und die UNES auch in der Stichwahl erfolgreich sein werden. Ohne Zugeständnisse wird es nicht gehen. Ohne kollektive Intelligenz wird es keine linken Mehrheiten geben.