Die Wahlen waren extrem gewalttätig: Mindestens 89 Politikerinnen und Politiker wurden im Vorfeld der jüngsten Parlaments- und Regionalwahlen in Mexiko ermordet. Insgesamt kam es zu fast 800 Angriffen, die meisten davon auf lokaler Ebene. Parallel wurden bis Ende Mai 99 Beamtinnen und Beamte der Justiz und der Verwaltung umgebracht, wie die Nichtregierungsorganisation Etellekt berichtete.
Weite Teile Mexikos werden vom organisierten Verbrechen kontrolliert, die Justiz ist kaum willens oder in der Lage, die zahlreichen Verbrechen aufzuklären. Politikerinnen und Politiker können von staatlicher Seite kaum geschützt werden. Im Gegenteil, das organisierte Verbrechen funktioniert unter dem Schutz des Staates. Die Finanzierung der politischen Parteien, der Wahlkämpfe und des politischen Systems ist Teil des kriminellen Geschäftsmodells. Laut einem Bericht des Teams des Spezialisten Edgardo Buscaglia stammen zwischen 70 und 90 Prozent der Mittel für Wahlkämpfe aus illegalen Quellen.
Ähnliches gilt für die öffentliche Verwaltung – der Zugang zu Aufträgen und Staatsfirmen wird eingekauft, Scheinfirmen werden geschützt. In dieser Situation allgemeiner Illegalität habe sich, so Buscaglia, die mexikanische Politik in eine enorme Quelle der Bereicherung verwandelt und so auch eine organisierte Staatskriminalität erzeugt. Aber nicht nur das organisierte Verbrechen steckt hinter der Gewalt. Gewalt ist ein politisches Mittel für alle möglichen legalen oder illegalen, privaten oder öffentlichen Akteure, die von Unternehmen (in informellen Arbeitsverhältnissen), von Kaziken oder lokalen Amtsträgern eingesetzt wird.
Es waren keine Präsidentschaftswahlen und doch galten sie in erster Linie als Stimmungstest für Präsident Lopez Obrador, kurz AMLO genannt.
Der amtierende Präsident Andrés Manuel Lopez Obrador war 2019 mit dem Versprechen angetreten, diese grassierende Gewalt und die Straflosigkeit einzudämmen. Gelungen ist ihm das bisher nicht. Doch das Volk scheint ihm das bislang nicht anzukreiden, wie auch der Ausgang der Wahlen am letzten Wochenende zeigte. Es waren keine Präsidentschaftswahlen und doch galten sie in erster Linie als Stimmungstest für Präsident Lopez Obrador, kurz AMLO genannt.
Seit zweieinhalb Jahren ist der Präsident im Amt. Die von ihm gegründete Partei Movimiento Regeneración Nacional(Morena) hat nun im Parlament ihre absolute Mehrheit verloren. Mit 40 Prozent der Sitze bleibt sie allerdings mit Abstand stärkste Partei. Künftig aber muss die Regierungskoalition im Abgeordnetenhaus ebenso wie im Senat Verfassungsänderungen mit der Opposition verhandeln. Auch innerhalb der Koalition wird die Regierung stärker mit ihren Bündnispartnern verhandeln müssen.
Die bei den Wahlen 2018 stark geschwächte Opposition der ehemaligen Regierungsparteien Partido Acción Nacional (PAN) und Partido Revolucionario Institucional (PRI) sowie die Partido de la Revolución Democrática (PRD) hatte sich in einer Koalition einstiger Konkurrenten zusammengefunden, um gemeinsam eine erneute qualifizierte Mehrheit der Regierungskoalition zu verhindern. Das ist ihr gelungen. Nicht gelungen ist es ihr hingegen, ihr mangelndes Ansehen aufzupolieren. Sich lediglich am Präsidenten abzuarbeiten, kam nicht gut an beim Wahlvolk.
Eine solche Krisenkonstellation hätte zu jedem anderen Zeitpunkt starke negative Auswirkungen auf die Popularität des Präsidenten und der ihn unterstützenden Parteien gehabt.
Trotz der Verluste im Abgeordnetenhaus stellt der Wahlausgang insbesondere auf regionaler Ebene eine Bestätigung des Präsidenten dar. Die Kandidaten seiner Partei konnten den Großteil der Gouverneurswahlen im Land für sich entscheiden. Dieser Erfolg der Regierungspartei ist angesichts der Situation im Land durchaus erstaunlich. So sind offiziell bisher knapp 230 000 Menschen in Mexiko an Covid-19 gestorben. Die Übersterblichkeit liegt allerdings noch weitaus höher; offizielle Statistiken deuten darauf hin, dass bis Mitte März gar 340 000 Menschen in Zusammenhang mit der Virusinfektion gestorben sind. Dies wären sogar deutlich mehr als in Brasilien.
Der Wirtschaftseinbruch von minus 8,5 Prozent im Jahr 2020 war der stärkste in den letzten 90 Jahren. Rund fünf Millionen Menschen hatten ihre Arbeit verloren, jedes fünfte Unternehmen musste schließen. Seit dem Ausbruch der Pandemie sind durch Einkommensminderungen zeitweise 13 Millionen Menschen unter die Armutsgrenze gefallen. Eine solche Krisenkonstellation hätte zu jedem anderen Zeitpunkt starke negative Auswirkungen auf die Popularität des Präsidenten und der ihn unterstützenden Parteien gehabt.
Dass die Regierung die Verteilungsfrage weitgehend auf Transferleistungen begrenzt hat, eine Fiskalreform nicht zur Debatte steht, auch in der Pandemie eine Austeritätspolitik vorangetrieben wird, dass der Aufbau eines Sozialstaates, inklusives Wachstum, Umwelt- und Klimaschutz oder andere progressive Reformen nicht Teil des Programms sind, dass es bei der Bekämpfung der verbreiteten Straflosigkeit sowie der institutionellen Korruption keine Fortschritte gab, dass die Militarisierung der öffentlichen Sicherheit voranschreitet – dies alles ist aus Sicht von linken Kritikerinnen und Kritikern ein Zeichen dafür, dass der Präsident das linke, vielleicht sogar das demokratische Lager verlassen hat. Aus dem konservativen Lager wird er wiederum für seine Staatszentrierung und die Einmischung in die Wirtschaft sowie seinen sozialpolitischen Populismus angegriffen. Angriffsflächen bietet AMLO, der wahrscheinlich am ehesten als konservativer Linker zu beschreiben ist, jedenfalls genug.
Der Präsident ist für viele eine Lichtgestalt, für andere, trotz Zweifeln, die einzige realistische Chance für Veränderung. Zusammen stellen sie die Mehrheit.
Für die Mehrheit der Bevölkerung ist AMLO aber ungeachtet all dieser Defizite der Präsident, den es für nötige Veränderungen braucht. In ihren Augen ist seine Regierung auf dem richtigen Weg. Die Kritik fällt nicht weiter ins Gewicht: Sei es der Vorwurf des Populismus, seien es seine konkreten Fehler in der Pandemie, sei es der unzureichende Umgang mit der Wirtschaftskrise und ihren sozialen Folgen, sei es die desolate Situation der öffentlichen Sicherheit – nichts scheint ihm wirklich etwas anhaben zu können. AMLOs Popularitätswerte lagen im Mai im Schnitt verschiedener Umfragen bei 61 Prozent. Nur ein Drittel der Befragten war mit seiner Regierung unzufrieden.
Eine große Rolle bei dieser positiven Bewertung spielen das öffentliche Auftreten und die Glaubwürdigkeit des Präsidenten. AMLOs politisches Handeln war stets durch den Kampf gegen Armut und Privilegien geprägt. Ungleichheit und Marginalisierung standen und stehen im Zentrum seines Diskurses. Die Nichtprivilegierten hatten vom Staat in der Vergangenheit wenig oder nichts zu erwarten; er bietet ihnen nun an, diesen Staat in den Dienst der Mehrheit zu stellen. Die verstärkte Steuereintreibung bei großen Unternehmen, die Sozialprogramme, die Reform des Arbeitsrechts und des Gewerkschaftssystems, die Regulierung der Leiharbeit, die Erhöhung des Mindestlohns, die Einführung einer Grundrente sowie die angestrebte Reform des privaten Rentensystems stehen auf der Habenseite der Regierung.
Der Präsident ist zudem allgegenwärtig. Bei jeder Gelegenheit, besonders bei seinen täglichen morgendlichen Pressekonferenzen, polarisiert er, greift seine Gegner an, stellt Korruptionsvorwürfe in den Raum und überschreitet auch die Grenzen der Gewaltenteilung. Die Regierung muss sich zudem den Vorwurf gefallen lassen, in verschiedenen Fällen die Pressefreiheit untergraben zu haben. Trotz aller Angriffe gegen die Institutionen, vor allem gegen die Wahlbehörde, hat er deren Entscheidungen bisher aber am Ende stets akzeptiert. Gleichzeitig gelingt es ihm auf diese Weise, die politische Agenda erfolgreich zu besetzen. Dabei bedient er sich durchaus des populistischen Schemas des Kampfes des Vertreters des Volkes gegen die korrupten Vertreter der Macht.
Der Präsident ist für viele eine Lichtgestalt, für andere, trotz Zweifeln, die einzige realistische Chance für Veränderung. Zusammen stellen sie die Mehrheit. Sein Diskurs immunisiert ihn in den Augen dieser Menschen bisher gegen Kritik. Seine Kritik an den konservativen Eliten trifft wiederum auf konkrete Erfahrungen eines großen Teils der Bevölkerung. Die Mehrheit der Bevölkerung sieht in AMLO weiterhin eine Chance. Seine Überzeugungskraft zieht der Präsident vor allem aus der Politik für die Wenigen, die in der Vergangenheit gängige Praxis war.