Unter dem Motto „Brasilien ist zurück“ hat sich Präsident Lula da Silva seit seinem dritten Wahlerfolg im Oktober 2022 vor allem als Weltreisender betätigt. Die unter seinem Vorgänger Jair Bolsonaro entstandene Isolierung Brasiliens wollte Lula nicht nur rasch beenden, sondern er wollte auch die Rolle seines Landes als eine der führenden Mächte des Globalen Südens wiederherstellen. Deshalb brach er auch gleich zu Beginn seiner Amtszeit in die USA und nach China auf, denn es gehört seit vielen Jahrzehnten zum Selbstverständnis des Landes, sich zu den Großmächten der Welt zu zählen und gleichzeitig seine Neutralität zwischen den Blöcken zu betonen.

Als Gründungsmitglied der BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika), der Organisation, die für das zunehmende geopolitische Gewicht des Globalen Südens steht, bemüht sich Brasilien auch um eine Friedensinitiative für die Ukraine. Diese wird allerdings von der Ukraine selbst und von seinen westlichen Verbündeten eher kritisch und als wenig aussichtsreich angesehen. Um seine mögliche Vermittlerrolle nicht zu gefährden, hat Lula bisher alle Einladungen nach Kiew und Moskau abgelehnt.

Die Einladung aller Präsidenten Südamerikas zu einem Gipfeltreffen ohne formale Agenda Ende Mai, muss im Zusammenhang mit dem Bemühen Lulas um eine Wiederbelebung der internationalen Rolle Brasiliens gesehen werden. Bei dem letzten Präsidentenreffen 2014 im Rahmen der von Brasilia initiierten multilateralen Regionalorganisation UNASUR (Union Südamerikanischer Staaten) war das internationale Gewicht des Landes – nicht nur in der Region – noch deutlich erkennbar. Inzwischen hat sich jedoch seine wirtschaftliche Bedeutung verringert, denn in der letzten Dekade hat sich der Anteil des Landes an der globalen Wertschöpfung nahezu halbiert.

Lula betonte bei seiner Eröffnungsrede die Notwendigkeit, jenseits aller Ideologien zusammenzuarbeiten.

Auch unter den elf teilnehmenden Präsidenten – die peruanische Präsidentin erhielt von ihrem Parlament keine Ausreisegenehmigung – war der Mangel an politischem Gewicht aufgrund der jeweiligen innenpolitischen Situation überdeutlich. In Argentinien und Ecuador dürften baldige Neuwahlen zur Ablösung der jeweiligen Präsidenten führen. Die Staatsoberhäupter von Chile und Kolumbien, ebenso wie von Brasilien selbst, stehen wegen innenpolitischer Reformvorhaben unter starkem Druck der Opposition. Die aktuell eher fragile politische, wirtschaftliche und soziale Situation überschattete das Präsidententreffen, spiegelte aber gleichzeitig auch den seit 2017 erkennbaren Niedergang der regionalen Kooperationsmechanismen wider. So hatte vor allem die Kritik konservativer Regierungen an der „ideologischen“ Ausrichtung von UNASUR von 2017 bis 2019 zum Austritt zahlreicher Länder geführt (Argentinien, Brasilien, Chile, Ecuador, Kolumbien, Paraguay, Peru, Uruguay). Gerade deshalb betonte Lula bei seiner Eröffnungsrede die Notwendigkeit, jenseits aller Ideologien zusammenzuarbeiten, da kein Land der Region die Stärke habe, um den Herausforderungen der Geopolitik und der globalisierten Weltwirtschaft zu begegnen. Damit war der pragmatische Ton für die Gespräche gesetzt, denn ohne die Unterstützung seiner Nachbarstaaten kann Brasilien kaum die gewünschte Rolle als Sprecher der Region übernehmen.

Obwohl Präsident Lula das Präsidententreffen als Initialzündung für die Wiederaufnahme der Zusammenarbeit der UNASUR geplant hatte, konzentrierten sich die Gespräche, aufgrund der Anwesenheit des venezolanischen Präsidenten Nicolás Maduro, zunächst vor allem auf die ideologischen Unterschiede zwischen den anwesenden Präsidenten. Dafür war Präsident Lula jedoch selbst verantwortlich, da er – nach Ansicht verschiedener seiner Kolleginnen und Kollegen – die Menschenrechtsverletzungen und die autoritäre Politik im Nachbarland nicht genug betont hatte und Präsident Maduro damit die Rückkehr in die regionale Gemeinschaft erleichtert hatte. Die Unterstützung Brasiliens für den BRICS-Beitritt von Venezuela und Argentinien verstärkte diesen Eindruck noch weiter. Venezuela ist eng verbunden mit der größten regionalen Migrationskrise, mit mehr als fünf Millionen Flüchtlingen, und deren Rückwirkung auf die Innen- und Nachbarschaftspolitik der verschiedenen Staaten. Solange in Venezuela keine demokratische Fortschritte erkennbar sind, dürfte dies die regionale Zusammenarbeit weiterhin belasten.

Dennoch waren die Gespräche über die Vielzahl gemeinsamer Probleme von vielen Übereinstimmungen geprägt, die dann im Konsensus von Brasilia ihren Ausdruck fanden. Dabei dürfte sich in Zukunft die regionale Zusammenarbeit vor allem auf einzelne Themenbereiche konzentrieren. Bei den sechs prioritären Themen sind interessanterweise drei – Infrastruktur, Gesundheit und Sicherheit – von den erfolgreichsten regionalen Arbeitsgruppen der UNASUR übernommen worden. Dies ist besonders mit Blick auf die jüngsten Erfahrungen mit dem Zerfall der Lieferketten, den Auswirkungen der Pandemie und der Zunahme von organisierter Kriminalität gut nachvollziehbar. In allen drei Bereichen ist in den letzten Jahren von den entsprechenden nationalen Institutionen auch immer wieder auf die Notwendigkeit hingewiesen worden, die durch UNASUR erreichte Zusammenarbeit fortzusetzen.

Die drei neuen Prioritätsthemen – Klimawandel, Energie und Handel – lassen ihre zunehmende regionale Relevanz vor allem mit Blick auf die sehr aktuellen Unterthemen erkennen. Beim Klimawandel sieht sich Brasilien, aber auch seine Anrainerstaaten, angesichts der Amazonasproblematik in der Verantwortung – vor allem nach der ausgeweiteten Abholzung unter Expräsident Bolsonaro. Bei den Energiefragen sieht sich die Region aufgrund ihrer „natürlichen“ Vorteile in den Bereichen erneuerbare Energien durch Sonne und Wasserkraft gut gerüstet, wenn es auch aufgrund mangelnder Kooperation noch an effizienten Verteilungsmechanismen fehlt. Besonders erfreut sind die Staaten des Lithiumdreiecks – bestehend aus Argentinien, Bolivien, und Chile – über den Wettlauf von China, den USA und Deutschland, sich an der Förderung des Elements zu beteiligen, da sie über mehr als die Hälfte der Weltvorräte an Lithium verfügen.

Das erklärte Ziel ist es, auf die Errichtung einer Freihandelszone in Südamerika hinzuarbeiten.

Bei den Handelsfragen ging es in Brasilia vor allem darum, den regionalen Handel zu erleichtern. Das erklärte Ziel ist es, auf die Errichtung einer Freihandelszone in Südamerika hinzuarbeiten. Dabei stand die Schaffung einer regionalen Währung, des Sur („Süden“) im Vordergrund. Grund dafür ist nicht allein die Senkung der Transaktionskosten zwischen einzelnen Ländern durch Nichtverwendung des US-Dollars, sondern auch eine mögliche Vermeidung des erheblichen wirtschaftlichen Effekts von US-Sanktionen, vor allem gegenüber Russland.

In diesem Zusammenhang ist die regionale Bedeutung der Debatte über eine notwendige De-Dollarisierung innerhalb der BRICS-Staaten ebenso wenig zu unterschätzen, wie die zunehmende Verrechnung in Yuan beim Handelsaustauch mit China in Brasilien und Argentinien. Im Kreise der Präsidenten bestand kein Zweifel daran, dass der Weg zu einer regionalen Währung ein sehr langer sein würde, da er nicht nur in der Region selbst, sondern vor allem auch in den USA auf heftigen Widerstand stoßen dürfte. So soll zunächst einmal, in Zusammenarbeit mit den Zentralbanken, die Möglichkeit der Schaffung einer regionalen Verrechnungseinheit geprüft werden – wie etwa der ECU früher in der EU.

Der Konsens von Brasilia zeigt, dass der Wille zur Wiederaufnahme der regionalen Zusammenarbeit, angesichts der gravierenden Probleme in jedem einzelnen der Staaten, trotz ideologischer Unterschiede durchaus vorhanden ist, auch wenn der Name UNASUR nicht im Abschlussdokument auftaucht. Der Auftrag an die jeweiligen Außenministerinnen und Außenminister, innerhalb von vier Monaten einen Erfahrungsbericht über die bisherigen südamerikanischen Integrationsmechanismen vorzulegen und einen Fahrplan für die zukünftige Zusammenarbeit in Südamerika auszuarbeiten, dürfte den Weg für neue multilaterale Politikansätze in der Region ebnen.