Nach monatelangen Kämpfen ist es der syrischen Armee und ihren Verbündeten gelungen, die letzte Versorgungslinie zu trennen, welche das von Rebellen gehaltene Ost-Aleppo mit der Außenwelt verband. Damit hat die effektive Belagerung von schätzungsweise 300 000 Menschen begonnen und der Kampf um die strategisch immens wichtige Metropole eine neue Phase erreicht. Dabei war vor wenigen Wochen in Politik-Kreisen immer noch die Rede von einem Waffenstillstand. Staffan de Mistura, der UN-Sondergesandte für Syrien, hatte Ende Juni sogar noch angekündigt, neue Gespräche für den Folgemonat zu planen. Die Realität in Syrien sieht anders aus: Die Entwicklungen seit Beginn des relativen Waffenstillstands, der am 27. Februar dieses Jahres begann, führen vor Augen, in welch weiter Ferne eine diplomatische Lösung für den Krieg liegt, der seit seinem Beginn im Frühjahr 2011 über 300 000 Menschenleben gekostet hat und mehr als die Hälfte der Bevölkerung in die Flucht zwang.

 

Scheitern in Genf — schon wieder

Am 29. Mai verkündete Mohammed Alloush, der Chef-Unterhändler des Hohen Verhandlungskomitees des syrischen Oppositions-Rebellen-Blocks, seinen Posten aufzugeben. Alloushs Rücktritt war ein deutliches Zeichen für das Scheitern des politischen Prozesses. In Genf kam es nicht einmal zu direkten Gesprächen zwischen der Opposition und Vertretern des Regimes Bashar al-Assads. Das ist wenig verwunderlich: Der Präsident hatte jegliche Verhandlungen über eine Übergangsregierung bereits im Vorfeld ausgeschlossen. Der Ende Februar von den USA und Russland ausgehandelte relative Waffenstillstand führte zeitweise zwar zu einem Rückgang der Kampfhandlungen, wurde jedoch nicht von dem nötigen politischen Prozess begleitet. Einen Tag nach Alloushs Rücktritt flogen russische und syrische Kampfflieger erneut Angriffe auf die Provinzen Idlib und Aleppo und töteten hunderte Zivilisten.

Die Entwicklungen seit Beginn des relativen Waffenstillstands führen vor Augen, in welch weiter Ferne eine diplomatische Lösung für den Krieg liegt.

Südlich von Aleppo erlitten die Truppen des syrischen Präsidenten und seiner Verbündeten schwere Verluste. Das Rebellenbündnis Jaish al-Fatah (Armee der Eroberung), angeführt vom Al-Qaida Ableger Jabhat al-Nusra (Nusra-Front) hatte bereits Anfang April al-Eis erobert, eine strategisch wichtige Stadt nahe der Hauptstraße von Damaskus nach Aleppo. Wenige Wochen später rückten die Rebellen in Khan Tuman ein und töteten zahlreiche iranische Kämpfer und vom Iran geführte ausländische Milizionäre. Die erfolgreiche Offensive im Süden der Metropole führte zur Rückeroberung großer Teile des Territoriums, welche das Assad-Regime mit Hilfe der direkten russischen Intervention seit Ende 2015 gewonnen hatte.

Dennoch präsentierte sich Präsident Assad abermals siegessicher, insbesondere seit Regierungstruppen die historische Stadt Palmyra vom sogenannten Islamischen Staat (IS) zurückerobert hatten. Am 04. Juni rückten Regierungstruppen sogar von Hama in die Provinz al-Raqqa ein und kündigten eine Offensive auf die gleichnamige Hauptstadt der Dschihadisten an. Lediglich drei Wochen später scheiterten sie jedoch an einem Gegenangriff des IS, der die begrenzten militärischen Kapazitäten des syrischen Militärs veranschaulichte. In einer Rede vor dem Parlament kündigte Präsident Assad an, „jeden Quadratmeter“ von Syrien aus den Händen der Terroristen — sein Terminus für die gesamte bewaffnete Opposition — befreien zu wollen. Die einzige Option sei der Sieg, andernfalls würde Syrien nicht weiter existieren. Von Diplomatie keine Spur. Entsprechend legte der UN-Sondergesandte de Mistura Anfang Juni die Gespräche in Genf für unbestimmte Zeit auf Eis.

 

Waffenstillstände und Luftangriffe: Kein Widerspruch in Syrien

Über einen Waffenstillstand auch nur zu sprechen, scheint im Fall Syriens absurd: Wenige Stunden nachdem das syrische Militär am 11. Juni einen solchen für die Stadt Idlib im Nordwesten des Landes ausgerufen hatte, bombadierte die Luftwaffe einen lokalen Markt und tötete 34 Bewohner. Gleichzeitig begannen heftige Kämpfe in den Mallah Farmen im Norden Aleppos, nahe der Castello Straße, der letzten Versorgungslinie des von Rebellen gehaltenen Teils der Metropole. Trotz intensiver Luftangriffe gelang den Pro-Assad-Truppen jedoch über Wochen kein Durchbruch. Für kurze Zeit schien das Momentum für das Regime, gewährleistet durch Russlands militärische Intervention, passé: Die Rebellen hatten weite Teile des zuvor eroberten Territoriums zurückgewonnen und stießen in das alawitische Kernland in Latakia vor, während der IS erfolgreich Gasfelder bei Palmyra besetzte.

Als Reaktion auf die Rückschläge im Nordwesten Syriens verlegte die Hisbollah ihre Kämpfer zurück nach Aleppo, nachdem sie ihre Truppen im Frühjahr im Süden Syriens konzentriert hatte. Der wachsenden Skepsis in den Reihen seiner Bewegung begegnete der Generalsekretär der schiitischen Miliz, Hassan Nasrallah, mit einer gewohnt emotionalen Rede in der er verkündete, die Verteidigung Aleppos sei gleichbedeutend mit der Verteidigung des Libanons. Begleitet von hunderten Luftangriffen besetzten Eliteeinheiten der syrischen Armee — während eines weiteren „Waffenstillstands“ zum Ende des Fastenmonats Ramadan — gemeinsan mit irakischen und palästinensischen Milizen am 08. Juli schließlich die Mallah Farmen.

 

Der Belagerungsring hat sich geschlossen

Die Castello Straße liegt seither unter direktem Artillerie-Feuer und wurde von den Rebellen für den zivilen Verkehr geschlossen. Damit ist Ost-Aleppo von der Außenwelt abgeschnitten und steht unter effektiver Belagerung. Um die Front im Norden zu entlasten und die Castello Straße wieder zu öffnen, haben Rebellen im Inneren Aleppos begonnen, den vom Assad-Regime kontrollierten Westen der Stadt anzugreifen — ohne Erfolg. Dafür rückten Pro-Assad-Truppen am 26. Juli in strategisch wichtige Gebiete Ost-Aleppos ein während die kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) die Gelegenheit nutzten und Rebellen aus einem weiteren Viertel vertrieben.

Zwar hat die „Internationale Gemeinschaft“ ihre Besorgnis über die sich anbahnende humanitäre Katastrophe geäußert, bleibt bisher jedoch tatenlos. Al-Qaida nutzt die Situation: Der syrische Ableger, die Nusra-Front, hat zu einem vereinten Kampf zur Befreiung Aleppos aufgerufen. Damit öffnet sich ein neues Kapitel des von den Dschihadisten gewünschten Narrativs, der einzig verlässliche Schutzpatron der sunnitischen Bevölkerung zu sein. Befeuert wird dieses Narrativ von der jüngsten Initiative der USA, welche vorsieht, mit Russland koordinierte Luftangriffe gegen die Nusra-Front und den IS zu fliegen. In diesem Zusammenhang hat US-Außenminister John Kerry die größten und einflussreichsten Rebellengruppen Ahrar al-Sham und Jaish al-Islam als „Untergruppen“ der Nusra-Front und des IS bezeichnet. Kerrys Aussage ist nicht nur kritisch zu bewerten, weil Jaish al-Islam Teil des Hohen Verhandlungskomitees ist und der Außenminister dem Oppositionsblock somit seine Legitimität abspricht. Er füttert außerdem die russische Propaganda, welche besagte Bewegungen pauschal als terroristisch brandmarkt und damit die fortlaufenden Luftangriffe gegen beliebige Ziele legitimiert.

Zwar hat die „Internationale Gemeinschaft“ ihre Besorgnis über die sich anbahnende humanitäre Katastrophe geäußert, bleibt bisher jedoch tatenlos.

Berichten zufolge konnte die Nusra-Front seit Februar diesen Jahres mehr als 3 000 Syrer aus Idlib und Süd-Aleppo als neue Kämpfer rekrutieren. Diese immense Zahl kam bereits vor der Belagerung Aleppos zustande und zeigt, von welcher Bedeutung der Schutz syrischer Zivilisten ist: Die Ränge der Nusra-Front werden zweifelsfrei weiter wachsen, solange die täglichen Luftangriffe auf Zivilisten anhalten und der Bevölkerung kein alternativer Schutz geboten wird.

Sofern die Rebellen keinen Korridor zur Versorgung Ost-Aleppos öffnen können, ist eine humanitäre Katastrophe gewiss. Laut dem stellvertretenden Leiter des Oppositions-Rates in Aleppo, Zakaria Aminu, genügen die rationierten Vorräte in der Stadt für maximal drei Monate. Aleppo ist nicht die erste Stadt, die das Assad-Regime mit einer schonungslosen „Verhungert-oder-ergebt-euch“-Strategie zu zermürben versucht — jedoch die größte. Wenn die internationalen Entscheidungsträger, allen voran die USA und die EU, nicht ihr volles politisches Gewicht in die Waagschale werfen, steht den hunderttausenden Einwohnern Ost-Aleppos ein noch qualvolleres Schicksal bevor als sie es ohnehin bereits erleiden müssen. Am 22. Juli hat die UN einen 48-stündigen Waffenstillstand gefordert, um dringend benötigte Hilfslieferungen in die Stadt zu bringen. Derartige Apelle verpufften jedoch bereits in den letzten Jahren unsanktioniert. Stattdessen bombardierten syrische und russische Kampfflieger wenige Tage später fünf Krankenhäuser in Ost-Aleppo und verdeutlichten damit einmal mehr, dass die systematische Zerstörung ziviler Infrastruktur Teil der Strategie des Assad-Regimes ist. Die UN Resolutionen 2165 and 2258 verlangen eindeutig, dass alle Konfliktparteien direkte und ungehinderte Lieferungen von Hilfsgütern ermöglichen müssen. Ohne Sanktionsmechanismen sind diese Resolutionen allerdings nicht mehr als wiederholte  Ermahnungen. Deshalb ist der Ruf nach Schutzzonen im Norden Syriens sowie nach einem Korridor für Zivilisten zum Erreichen ebenjener berechtigter denn je.

 

Russland verkündet die Einrichtung humanitärer Korridore — Ziel erreicht?

Das russische Verteidigungsministerium hat am 28. Juli eine großangelegte humanitäre Operation angekündigt: Vier Korridore sollen den in Ost-Aleppo verbliebenen Menschen einen Ausweg bieten. Drei davon für Zivilisten, einer für unbewaffnete Rebellen. Damit reagiert der Schutzpatron des Assad-Regimes auf den internationalen Druck und gewinnt abermals die nötige Zeit, um Fakten zu schaffen. Kann die Eskalation der humanitären Katastrophe damit abgewendet werden? Bisher gibt es dafür keinerlei Anzeichen. Vielmehr folgt die Ankündigung einem erprobten Schema: Zugang zu humanitärer Hilfe wird versprochen und Kämpfern eine Amnestie in Aussicht gestellt. Gehalten wurden diese Versprechen nie. Der Begriff „humanitäre Korridore“ suggeriert die Möglichkeit einer Flucht in sichere Zonen, die in Syrien jedoch nach wie vor nicht existieren. Ein Bruchteil der Rebellen mag das Angebot einer Amnestie wahrnehmen und sich der Willkür des Assad-Regimes ausliefern. Wenigen Zivilisten wird möglicherweise die Flucht von einem Kriegsgebiet in das nächste ermöglicht. Die Mehrheit jedoch wird in der Stadt verharren während die Bombardements weitergehen werden — begleitet von Propaganda, die argumentiert, es habe die Möglichkeit zur Flucht gegeben.

Ernstzunehmende humanitäre Korridore müssen in sichere Zonen münden und von Dauer sein. Gewährleisten kann das unter den derzeitigen Umständen nur eine Initiative unter Führung der USA. Gegner argumentieren zwar, der Schritt erfordere die Ausschaltung der russischen Luftabwehrstellungen im Land. Bereits jetzt operieren die Luftwaffen verschiedenster Länder jedoch über syrischem Luftraum und es entspräche nicht dem rationalen Kalkül russischer Außenpolitik, die Einrichtung humanitärer Schutzzonen unter Führung der USA und ihrer Verbündeten militärisch zu beantworten. Gewiss bleibt ein Restrisiko bestehen — die Gefahren, die aus einer Absage an humanitäre Verantwortung und der zunehmenden Erstarkung des Extremismus resultieren, wiegen jedoch fraglos schwerer.