Die gebeutelte irakische Demokratie steht einmal mehr vor einer Zerreißprobe, die auf Kosten der irakischen Bevölkerung ausgetragen wird. Anhänger des Schiiten-Führers Muqtada al-Sadr stürmten in der vergangenen Woche zweimal das irakische Parlament und haben einen Sitzstreik begonnen. Mit ihrem Protest verhinderten sie erfolgreich die angesetzte Wahl von Mohammad Shia al-Sudani zum Premierminister. Al-Sudani war vom schiitischen Koordinationsrahmen, einem Zusammenschluss schiitischer Parteien mit Ausnahme der Bewegung al-Sadrs, für die Wahl nominiert worden.

Im Irak herrscht seit der Wahl im Oktober 2021 eine politische Pattsituation, in der vor allem die gespaltenen schiitischen Kräfte um ihren Einfluss kämpfen. Die Bewegung des schiitischen Klerikers al-Sadr ging mit 73 der insgesamt 329 Sitze als Gewinner aus der Wahl hervor, während zwei etablierte Iran-hörige schiitische Kräfte, die Fatah-Allianz und die Alliance of National State Forces, große Verluste erlitten. Nach der Wahl war al-Sadrs Ziel die Bildung einer Mehrheitsregierung in Form eines Dreierbündnisses aus seiner Bewegung, einem sunnitischen Zusammenschluss (Taqaddum-Koalition) und der kurdischen KDP. Der schiitische Koordinationsrahmen forderte dagegen die Fortsetzung der im Irak üblichen Einheitsregierung, an der er selbst auch beteiligt sein wollte.

Sadrs Rückzug aus dem Parlament wird als strategischer Schachzug gesehen, um sich als vermeintlich Außenstehendem einer politisch korrupten Elite Kredibilität bei der Bevölkerung zu verleihen.

Nachdem die Regierungsbildung gescheitert war, legten die Abgeordneten von Sadrs Bewegung ihr Mandat nieder. Damit lag der Ball in puncto Regierungsbildung im Spielfeld des schiitischen Koordinationsrahmens. Sadrs Rückzug aus dem Parlament wird allerdings als strategischer Schachzug gesehen, um sich dadurch als vermeintlich Außenstehendem einer politisch korrupten Elite Kredibilität bei der Bevölkerung zu verleihen und somit Kräfte für Proteste zu mobilisieren. Vor diesem Hintergrund waren die bislang größten Demonstrationen seit den im Oktober 2019 gestarteten Massenprotesten und dem Sitzstreik im Parlament alles andere als überraschend.

Die derzeitigen Demonstrationen sind auch nicht an die Person al-Sudani geknüpft. Al-Sudani wird von den „Sadristen“, den Unterstützern al-Sadrs, als Marionette von Nouri al-Maliki, dem Vorsitzenden der State of Law-Koalition und früheren Premierminister (2006–2014), inszeniert, wobei sich die beiden laut Aussagen irakischer Experten kaum nahestehen. Auch sei al-Sudani, der unter Nouri al-Maliki Minister für Menschenrechte war, im Vergleich zu anderen potenziellen Kandidaten nicht per se ein schlechtes Zeugnis auszustellen. Nach den aktuellen Geschehnissen werden al-Sudani allerdings kaum noch Chancen auf den Premierministerposten eingeräumt.

Am populistischen Königsmacher Sadr scheint kein Weg vorbeizuführen. Auf der einen Seite prangert er Korruption, Misswirtschaft und den Einfluss des Iran auf den Irak an, ist selber aber alles andere als ein Saubermann und schränkt durch sein impulsives Handeln die Möglichkeit für einen friedlichen und demokratischen Weg für den Irak massiv ein. Dies droht eine Eskalationsspirale in Gang zu setzen, die bislang noch keine Menschenleben, aber bereits über 100 Verletzte auf Seiten der Protestierenden und der Sicherheitskräfte gekostet hat. Potenzielle Szenarien reichen von Neuwahlen bis hin zu einem erneuten Bürgerkrieg. Zwei Faktoren machen das Bürgerkriegsszenario derzeit jedoch sehr unwahrscheinlich: Erstens stehen sich mit al-Sadr und dem schiitischen Koordinierungsrahmen Kräfte der irakischen Schia gegenüber, die zwar unterschiedlicher Auffassung über Irans Einfluss auf den Irak und die Form der Regierung sind, die aber religiöse Ansichten teilen und derzeit den heiligen Monat des Muḥarram begehen. Dies ist der erste Monat des islamischen Kalenders, in dem Schiiten um die Tragödie der Familie von Ḥusayn ibn ʿAlī trauern. Das Führen eines Krieges ist in dieser Zeit untersagt. Zweitens sind sich die Akteure des Kräftespiels sehr bewusst, dass ein Bürgerkrieg ihr Kuchenstück an der Macht verkleinern könnte, und es damit keinen Wohlstand mehr zu verteilen gäbe.

Die vergangenen Jahre haben gezeigt, dass die politische Elite daran scheitert, einen Wandel aus dem derzeitigen System heraus zu generieren.

Leidtragende der politischen Blockade sind die Demokratie und die irakische Bevölkerung. Bei der niedrigsten Wahlbeteiligung von 43,5 Prozent war die Legitimität des Parlaments ohnehin schon fraglich, mit dem Rücktritt der sadristischen Abgeordneten repräsentiert das Parlament erst recht nur noch eine Minderheit der Bevölkerung. Deren Vertrauen in die Demokratie ist bereits stark erschüttert. Von Oktober bis Dezember 2019 kam es in weiten Teilen Iraks zu den heftigsten Massenprotesten in der irakischen Geschichte nach 2003, in denen vor allem die junge irakische Bevölkerung ihren Unmut über die grassierende Korruption, mangelnde staatliche Dienstleistungen, die hohe Arbeitslosigkeit sowie das politische System ausdrückte. Die Proteste wurden durch irakische Sicherheitskräfte gewaltsam niedergeschlagen, wodurch hunderte Protestierende getötet und verletzt wurden. Die Kernforderungen der Tishreen(Oktober)-Bewegung waren eine grundlegende Reform des politischen Systems (u.a. Abschaffung des sogenannten Muhasasa-Systems, ein ethnisch-religiöses Quotensystem) sowie eine neue, nicht korrupte Regierung. Beide Forderungen blieben weitgehend unerfüllt. Die Tishreen-Bewegung hätte also allen Grund, wieder auf die Straße zu gehen.

Allerdings ist die Bewegung so gespalten wie nie. Radikale und religiöse Kräfte unterwanderten die Bewegung und versuchten, ihr ihre Ziele aufzudrängen. Manche ließen sich auch durch die Regierung kaufen, während andere sich aus der Protestbewegung heraus entstandenen Parteien anschlossen. Die Bewegung besitzt damit heute also vermutlich ein geringeres Mobilisierungspotenzial als früher.

Je länger die politische Blockade anhält, desto weiter wird das noch verbliebene Vertrauen der Bevölkerung in die Demokratie schrumpfen und desto unwahrscheinlicher wird es, dass die politische Krise friedlich gelöst werden kann. Die vergangenen Jahre haben gezeigt, dass die politische Elite daran scheitert, einen Wandel aus dem derzeitigen System heraus zu generieren. Mehr politische Partizipation der irakischen Bürgerinnen und Bürger in Form der Beteiligung an freien und gleichen Wahlen und ein gewisser Druck von der Straße könnten den lang ersehnten Wandel bringen. Dazu müssten allerdings korrupte Eliten aufhören, sich an ihrer Macht festzuklammern, und den Weg zu einer Demokratie freimachen, die nicht nur auf dem Papier steht, sondern auch gelebt wird.