Wir wollen eine neue Realität im Norden“, so Zachi Ha-Negbi, israelischer nationaler Sicherheitsberater am 14. Dezember 2023. Premierminister Netanjahu wird noch deutlicher: „Wir werden Beirut in Gaza verwandeln.“ Und diesmal deutet vieles darauf hin, dass Israel nicht nur blufft, sondern es ernst meint. Auch um den Preis einer neuerlichen Eskalation, die womöglich den Startschuss markiert für einen regionalen Flächenbrand im ganzen Nahen und Mittleren Osten.

Dabei sah es zunächst so aus, als ob genau dieses Horrorszenario vermieden werden könnte. In einem bemerkenswerten Drahtseilakt gelang es der amerikanischen Ordnungsmacht, den Konflikt zwischen Israel und der radikalislamischen Hamas auf Gaza begrenzt zu halten. Es war eine Mischung aus drastischer Abschreckung und Deeskalation, möglich gemacht durch die massive Verlagerung von See- und Luftstreitkräften in die Region, aber auch durch intensive Pendeldiplomatie mit der klaren Nachricht an Teheran und Beirut, dass Washington keinen großen Krieg will. Und zumindest hier schien ein Interessenausgleich mit der von Iran aus koordinierten „Achse des Widerstands“ möglich. Denn sosehr die Islamische Republik die Bluttat der Hamas auch feierte, sosehr sie die Temperatur durch den vielfältigen Einsatz ihrer Terrorproxies hochdrehte, die große Eskalation wollte man auch in Teheran nicht riskieren.

In zwei vielbeachteten Reden machte das auch Hassan Nasrallah, der Generalsekretär der libanesischen Hisbollah, deutlich. Er konnte gar nicht genug betonen, dass der „brillante Erfolg des 7. Oktober zu 100 Prozent palästinensisch sei. Was umgekehrt hieß: Man würde sich zwar solidarisch zeigen, aber einen totalen Kriegseinstieg auf Seiten der Hamas sollte niemand erwarten. Eine Haltung, die nicht nur derjenigen seiner Teheraner Lehnsherren entsprach. Iran ist zu berechnend, um sich in einen Krieg hineinziehen zu lassen, der die innenpolitisch gerade erst wiederhergestellte Regimestabilität gefährden könnte.

Denn es läuft grundsätzlich gerade gut für das Mullahregime. Durch sein extrem brutales Vorgehen in Gaza ist der israelische Erzfeind dabei, sich global zu isolieren. Im Windschatten des Krieges heilt Teheran sein Verhältnis zur arabischen Welt. Der saudische Rivale, gefühlt gestern noch in Normalisierungsverhandlungen mit Tel Aviv, streckt nun die Arme aus. Vor dem Hintergrund der Solidarität mit den Palästinensern rückt die muslimische Welt glaubensströmungsübergreifend zusammen. Iran steht auf Augenhöhe mit Moskau, konversiert in Peking über Weltpolitik und ist Teil von BRICS-Plus, des mächtigsten Clubs der Schwellenländer. Das langfristige Ziel – die Isolation Israels und das Herausdrängen der Amerikaner aus dem Mittleren Osten – fest im Blick: Wozu dies im Affekt durch einen unkontrollierbaren Krieg gefährden?

Im Windschatten des Krieges heilt Teheran sein Verhältnis zur arabischen Welt.

Aber Nasrallah spricht nicht nur für Iran. Spätestens seit der Ermordung des Achse-Masterminds Qasem Soleimani ist er zum Primus inter Pares innerhalb des pro-iranischen Netzwerks avanciert. Er hat viel zu verlieren und er spürt den Druck aus dem eigenen Land. Gebeutelt durch Wirtschafts-, Finanz-, Sozial- und politische Krise liegen der libanesische Staat und dessen Gesellschaft am Boden. Zwar zieht sich die Solidarität mit den Palästinensern quer durch alle Lager des zutiefst zersplitterten Landes. Einen Krieg mit Israel will jedoch nur eine Minderheit riskieren. Haushoch prangen in Beirut die Plakate mit Antikriegsbotschaften. Auch die Politik des Landes, zwar seit über einem Jahr unfähig, sich auf ein neues Staatsoberhaupt zu einigen, läuft in denkwürdiger Eintracht Sturm gegen ein solches Szenario.

Nasrallah weiß um die Kriegsmüdigkeit der Libanesen. Auch Hisbollah selbst hat den hohen Blutzoll nicht vergessen, den die Miliz einst entrichtete, um Präsident Assad im syrischen Nachbarland vor einem Umsturz zu bewahren. Und nicht zuletzt ist es die Abschreckungskraft Israels, die einen Beitrag leistet. Der Krieg von 2006 steckt tief im Bewusstsein. Selbst der sonst so selbstsichere Generalsekretär musste damals bekennen: Wenn er gewusst hätte, mit welcher Härte die Israelis diesen Krieg führen würden, dann hätte er ihn nie begonnen. Die totale Zerstörung ziviler Infrastruktur in Gaza beruht auf der Dahiye-Doktrin, benannt nach Israels damals bereits unerbittlichem Bombardement der schiitischen Vorstädte Beiruts.

Hisbollah ist heute stärker denn je. Der Abstieg des einst reichen Landes lief parallel zum Aufstieg der Miliz mit angeschlossener Partei. Für viele Beobachter gibt es hier mehr Kausalität als Koinzidenz. Trotzdem wäre es zu monokausal, alle Übel des Libanon allein auf die iranische Intervention zu projizieren. Zwar ist die Hisbollah, anders als beispielsweise die palästinensische Hamas, Fleisch vom Fleische des Iran. Sie hat jedoch gerade durch ihre militärische Fähigkeit und die Organisationskraft ein gutes Maß an innerer Autonomie erlangt. Das, was man seit dem 8. Oktober feststellt, ist gerade kein kopfloses Drauflosschlagen, sondern eine kalibrierte, höchstberechnende Reaktion, die sich in einem delikaten Balanceakt versucht: einerseits durch Raketenangriffe islamistische Solidarität mit der Hamas üben und dadurch Israels Truppen im Norden des jüdischen Staates zu binden. Andererseits diesen Schlagabtausch jedoch so weit innerhalb der ungeschriebenen „rules of engagement“ zu halten, dass es zu keiner unkontrollierbaren Eskalation, mithin einem echten Krieg kommt.

Bei aller Ambiguität, die die Hisbollah aus strategischer Sicht natürlich verbreitet, gibt es heute aus Sicht Süd-Beiruts eigentlich nur eine einzige rote Linie, die einen völligen Kriegsausbruch unausweichlich machen würde: eine israelische Invasion des Südlibanon. Diese allerdings, so die augenscheinliche Überzeugung, würde Israel nicht wagen, zu groß sei doch das Abschreckungspotenzial. Es mag diese Überzeugung sein, die sich nun womöglich als Erstes von zwei fatalen Fehlkalkülen herausstellen könnte, die letztlich die Lunte am Pulverfass entfachen könnte.

Für Premier Netanjahu kann es nur die Flucht nach vorne geben.

Das Israel, welches die Hisbollah kennt, hat am 7. Oktober aufgehört zu existieren. Der Schock über die Terrortat der Hamas ist derart tief, dass der Wunsch nach einer endgültigen militärischen Lösung offenbar die politische Vernunft überschattet. Schon das Ziel, die Hamas zu „vernichten“, ist militärisch kaum realistisch. Der ehemalige britische Verteidigungsminister weist zu Recht daraufhin, dass die Art der Kriegsführung, die von der betroffenen palästinensischen Zivilbevölkerung gar nicht anders als Kollektivbestrafung wahrgenommen werden könne, eine ganze Generation neu zu radikalisieren und Israel global zu isolieren drohe.

Wer der Überzeugung ist – und immer größere Teile der politischen und militärischen Eliten Israels scheinen dies zu sein –, dass sich der Konflikt mit Hisbollah genau wie der mit der Hamas nur militärisch lösen lasse, der sieht nun womöglich einen goldenen Moment gekommen. Die Zivilbevölkerung des Nordens von Israel ist evakuiert, die Streitkräfte mobilisiert. Das Land steht global mit dem Rücken zur Wand, längst hat sich eine „viel Feind, viel Ehr“-Attitüde breit gemacht. Die amerikanische Schutzmacht warnt zwar mehr denn je vor einem Zündeln gen Norden. Allerdings steht sie Gewehr bei Fuß bereit und hat riesige Kapazitäten im Nahen Osten zusammengezogen.

Bereits im Gazakrieg wirkt es bisweilen so, als ob der Schwanz mit dem Hund wedelt und nicht umgekehrt, als ob Amerikas Druck in Jerusalem und Tel Aviv eher als freundlicher, aber im Zweifelsfall zu übergehender Rat anzusehen sei. Washingtons Widerstand gegen einen neuerlichen Libanonkrieg, so darf man realistischerweise annehmen, endet exakt in dem Moment, in dem dieser ausbricht. Ab dann werden die Amerikaner ihre komplette Schlagkraft in den Dienst des Verbündeten stellen. Mit diesem Wissen lässt sich ein Krieg natürlich ganz anders planen.

Hinzu kommt die problematische Anreizstruktur der israelischen Führung. Für Premier Netanjahu kann es nur die Flucht nach vorne geben. Sollte der Krieg morgen enden, ist seine politische Karriere übermorgen vorüber. Und für die womöglich rationaleren Minister Galant und Gantz, beides Ex-Generäle, mag ein Präventivschlag gegen Hisbollah einem Warten auf einen „neuen 7. Oktober“ im Norden vorzuziehen sein.

Die Eröffnung einer zweiten Front wäre nichts minder als wahnwitzig.

Israels Logik könnte sich mit hoher Wahrscheinlichkeit als das zweite gefährliche Fehlkalkül herausstellen. Die Eröffnung einer zweiten Front wäre nichts minder als wahnwitzig. Hisbollah ist als womöglich höchstgerüstete Miliz der Welt ein ganz anderes Kaliber als Hamas. Bis zu 200 000 Raketen schreiben Experten der in Europa als Terrororganisation gelisteten Partei zu. Bis zu 100 000 Mann könnte Nasrallahs Truppe unter Waffen bringen. Anders als die Hamas ist sie nicht im Gazastreifen gefangen, sondern verfügt neben beträchtlicher militärischer Erfahrung auch über ein syrisches Hinterland, über das sich Waffenlieferungen aus Iran organisieren ließen. Dass Teheran zudem dabei zuschauen würde, wie Israel das Kronjuwel in der „Achse des Widerstands“ plattmacht, ist kaum realistisch. Ein Krieg im Libanon wäre das Ereignis, das den Flächenbrand in der ganzen Region endgültig entfachen könnte. Alle Lichter, in Washington wie in Europas Hauptstädten, müssten jetzt eigentlich auf Rot stehen.

Dass der Westen die Zeichen der Zeit erkannt hat, ist derweil ungewiss. Womöglich schlittert er hier in die nächste Großkrise. Die hektischen diplomatischen Bewegungen, insbesondere amerikanischer und französischer Vermittler, wirken mehr erratisch als durchdacht. Israel fordert die Komplettumsetzung der UN-Resolution 1701 von 2006: Unklar bleibt dabei, welchen Preis Hisbollah dafür akzeptieren würde, die eigenen Elitetruppen hinter den Fluss Litani zurückzuziehen und die Raketenangriffe zu stoppen. Ebenso, wer ein solches Arrangement vor Ort durchsetzen könnte. Der Süden ist traditionell Hisbollahland, hier dominieren die Schiiten. Alles historische Prestige saugt die „Partei Gottes“ aus ihrer „Befreiung“ des Südens von der israelischen Okkupation. Zwar ist auch Hisbollah klar, welche Zerstörungskraft ein solcher Krieg hätte – genau deshalb agiert sie vergleichsweise rational und risikoavers. Sie ist letztlich aber kein „normaler“ politischer Akteur, sondern eine Kraft, die sich ihre Weltanschauung nicht einfach – Kompromiss hier, Kompromiss dort – wegverhandeln lässt.

In den letzten Wochen mag etwas Ruhe eingekehrt sein im Libanon. Die Menschen haben sich an die schleichende Eskalation im Süden gewöhnt. Stabilität sieht aber anders aus. Der Eskalation der Worte könnte nur zu bald eine Eskalation der Waffen folgen.