Schon seit Beginn des Jahres demonstrieren Israelis gegen die Neuordnung von Staat und Gesellschaft, die das rechts-religiöse Kabinett Netanjahu vorantreibt. Mit markanten Slogans „Demokratia“ – „Schande“ (für die Regierung) – „Wir werden siegen“ – „Wir sind die Mehrheit“ wenden sie sich insbesondere gegen den Umbau der Justiz. Denn dieser würde die Gewaltenteilung aushöhlen und so den Weg zu einer illiberalen Demokratie ebnen.

Im Juni scheiterten die Bemühungen des israelischen Präsidenten Jitzhak Herzog, einen Kompromiss zwischen Regierung und Opposition zu den Hauptpunkten der Reform zu vermitteln. Seither treibt die Regierung den Justizumbau nicht mehr durch ein umfassendes Gesetzespaket, sondern durch einzelne Gesetzesvorlagen voran. Um dies zu verhindern, hat die Protestbewegung im Juli ihre Aktivitäten ausgeweitet und verschärft. Zusätzlich zu den wöchentlichen Massendemonstrationen in den größeren Städten Israels hat diese Woche schon zum zweiten Mal ein „Tag des Widerstands“ stattgefunden, an dem Autobahnen und Bahnhöfe blockiert und landesweit digitale Dienstleistungen gestört wurden. Reservisten aus Eliteeinheiten der Armee – unter anderem Kampfpiloten – kündigten an, nicht länger zu dienen, sollte die Regierung die Gesetzgebung durchpeitschen.

Ihr Störpotenzial – und damit ihr politisches Gewicht – verdankt die Bewegung dem breiten Bündnis, das sie repräsentiert. Denn es vereint Vertreterinnen und Vertreter aus den entscheidenden Bereichen Politik, Wirtschaft, Sicherheit und Zivilgesellschaft Israels. Obwohl von der zionistischen Linken organisiert, findet es breite Unterstützung auch im Zentrum und bei der liberalen Rechten. Die Sprecherinnen und Sprecher bei den Protestkundgebungen bilden genau diese Breite ab. So traten etwa am letzten Samstag in Tel Aviv der ehemalige Finanzminister im Kabinett von Netanjahu, Dan Meridor, auf, und es sprachen unter anderem Repräsentantinnen und Repräsentanten der Reservisten und der Hightech-Industrie.

Dem Bündnis geht es darum, Israels politische und gesellschaftliche Ordnung zu bewahren, nicht sie zu verändern.

Dem Bündnis geht es darum, Israels politische und gesellschaftliche Ordnung zu bewahren, nicht sie zu verändern. Dazu beruft es sich auf den in der Unabhängigkeitserklärung proklamierten „jüdischen und demokratischen Staat“. Damit einher geht, dass von den Podien die inhärenten Spannungen nicht artikuliert werden: weder das Spannungsverhältnis zwischen den beiden Säulen „jüdisch“ und „demokratisch“ im Inneren Israels noch die Tatsache, dass rund fünf Millionen Palästinenserinnen und Palästinenser unter einer auf Dauer angelegten Besatzung kein Mitspracherecht im israelischen Entscheidungsprozess haben. Zwar ist bei den Protesten ein Antibesatzungsblock präsent, dieser wird aber eher toleriert als willkommen geheißen.

Derzeit geht es der Protestbewegung in erster Linie darum, die von der Regierung beabsichtigte Aufhebung zentraler Rechtsprinzipien und die Veränderung der Verfahren bei der Ernennung der Richterinnen und Richter des Obersten Gerichts zu stoppen. Denn diese würden die Unabhängigkeit der Justiz unterminieren und ihre Kompetenzen bei der Überprüfung von Regierungshandeln und bei der Ernennung von Personal einschränken. Konkret soll noch vor der Sommerpause der Knesset – also nächste Woche – ein Gesetzentwurf verabschiedet werden, der dafür sorgen soll, dass die Anwendung der sogenannten Angemessenheitsklausel als leitendes Rechtsprinzip deutlich eingeschränkt wird.

Was sich zunächst technisch anhört, wäre ein entscheidender Schritt, um die Rechtsstaatlichkeit zu unterminieren. Denn das Prinzip der Angemessenheit spielt eine wichtige Rolle in Israels Regierungssystem. Es bildet die Leitlinie für das Oberste Gericht bei der Überprüfung von Regierungshandeln, sei es bei der Ernennung von Regierungsmitgliedern, sei es bei der Ernennung von Rechtsberaterinnen und -beratern in den Ministerien (die wiederum eine entscheidende Funktion bei der Wahrung rechtsstaatlichen Handelns haben), sei es bei Politik- oder Personalentscheidungen, die die Regierung trifft. Zu Letzteren könnte zum Beispiel die Entlassung eines unliebsamen Generalstaatsanwalts gehören – also der Person, die derzeit die diversen Anklagen wegen Vorteilsnahme und Korruption gegen Premier Netanjahu vertritt.

Noch ist unklar, ob es der Protestbewegung gelingen wird, die Gesetzesvorhaben zu stoppen.

Weitere Gesetzentwürfe sollen nach der Sommerpause eingebracht werden. Dazu gehört vor allem einer, der auf die Veränderung in der Zusammensetzung des Gremiums abzielt, das die Richterinnen und Richter (nicht zuletzt des Obersten Gerichts) ernennt. Dabei soll der Einfluss der Regierungsbank zulasten der Opposition ausgeweitet und die Beteiligung der Juristen-/Anwaltsverbände und der Richter des Obersten Gerichts zurückgedrängt werden. Es geht also darum, künftig Besetzungen der Gerichte zu ermöglichen, die in erster Linie politischen Prioritäten entsprechen, statt auf professioneller Qualifikation zu beruhen, und die nicht wie bislang aus einem Kompromiss zwischen Regierung und Opposition hervorgehen. Ein weiterer Gesetzentwurf zielt auf die Einschränkung der Kompetenzen bei der Normenkontrolle durch das Oberste Gericht ab sowie auf die Möglichkeit, diesbezügliche Gerichtsentscheidungen mit einfacher Mehrheit der Knesset zu überstimmen.

Gelingt es dem Kabinett Netanjahu im Wege der Salamitaktik, die genannten Vorhaben zum Umbau der Justiz umzusetzen, werden die entscheidenden Mechanismen außer Kraft gesetzt, die bis dato zur Verfügung stehen, um im israelischen System rechtsstaatliches Handeln abzusichern. Damit wäre der Weg in eine illiberale Mehrheitsdemokratie ohne effektiven Minderheitenschutz vorgezeichnet. Denn in Israel existieren keine anderen effektiven Gegengewichte zum Regierungshandeln: weder eine horizontale Gewaltenteilung (wie etwa in den Präsidialdemokratien der USA oder Frankreichs) noch eine vertikale Gewaltenteilung (wie etwa im föderalen System der Bundesrepublik) noch ein verfassungsrechtlich geschützter Menschenrechtskern oder suprastaatliche Kontrollorgane (wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte).

Noch ist unklar, ob es der Protestbewegung gelingen wird, die Gesetzesvorhaben zu stoppen oder zumindest einmal mehr auf Eis zu legen und damit einen neuen Vermittlungsprozess oder eine Volksbefragung zu erlauben. Aber es hat den Anschein, als ob beide Seiten – Regierung und Protestbewegung – zum Äußersten entschlossen sind, um in dieser Konfrontation zu obsiegen. Dies birgt auch das Risiko von Gewalt. Denn je mehr das Anti-Bibi-Bündnis seine disruptive Macht einsetzt, desto stärker dürfte die Regierung auf die Mobilisierung ihrer Anhängerschaft setzen, unter anderem unter der teils radikalisierten und bewaffneten Siedlerbevölkerung.

Zudem überdeckt die Mobilisation um den Justizumbau die Beschleunigung der Annexions-, Siedlungs- und Verdrängungspolitik, die parallel dazu von der Regierung Netanjahu vorangetrieben wird. Und diese stellt die Demokratie in Israel mindestens so stark in Frage wie der Umbau der Justiz. Denn es kann, so formuliert es die Minderheit unter den Protestierenden, keine Demokratie mit Besatzung geben.