Auch vier Jahre nach dem Ausbruch einer der größten Wirtschaftskrisen der letzten 150 Jahre lastet die Nicht-Umsetzung erforderlicher Reformen weiter schwer auf der Wirtschaft des Libanons – so die Verlautbarung des Internationalen Währungsfonds zum Ende seines Inspektionsbesuches im Libanon Mitte September. Der IWF betonte die dringende Notwendigkeit eines umfassenden Reformprogramms. 

Als der Libanon im März 2020 erstmals in seiner Geschichte seine Schulden nicht begleichen konnte, wurde der IWF formal um Unterstützung angerufen. Die Verhandlungen gestalteten sich von Beginn an kompliziert. Progressive Stimmen warnen vor den negativen Konsequenzen IWF-typischer Austeritätspolitik. Aber auch die regierende Führungsschicht zeigt trotz anderslautender Behauptungen kaum Reformwillen, profitiert sie doch vom Status quo. Stattdessen wird im Hintergrund ein sogenannter „Schattenplan“ umgesetzt, der größere Einlegerinnen und Einleger bevorzugt und die Schuldenlast auf kleine Einleger verlagert, die gezwungen sind, ihre Dollar-Ersparnisse zu einem ungünstigen Wechselkurs in Libanesische Pfund (LBP) umzutauschen. Der offizielle Wechselkurs beträgt aktuell ein US-Dollar zu 15 000 LBP, doch der tatsächliche Wert liegt auf dem im Alltag omnipräsenten Schwarzmarkt bei 89 000 LPB pro Dollar. Hebt man Erspartes also zum offiziellen Wechselkurs in LBP ab, erhält man dafür lediglich einen Bruchteil der Kaufkraft. Größere Einlegerinnen oder Unternehmen hingegen sind von diesem Modell kaum betroffen, da sie nicht auf den Zugang zu ihren Ersparnissen angewiesen sind und frisch ins Land kommende Dollar nutzen können. Der Plan sieht vor, die Wirtschaft so auf einem wesentlich niedrigeren Niveau zu stabilisieren, während immer mehr Dollarreserven aufgewendet werden, um das Pfund auf dem aktuellen Niveau zu halten und somit Zeit zu gewinnen. Das verstärkt die soziale Ungerechtigkeit im Land aber nur noch weiter.

Trotz dieser Schwierigkeiten wurde im April 2022 überraschend ein Staff Level Agreement über drei Milliarden US-Dollar mit dem IWF geschlossen. Die Vereinbarung setzt diverse strukturelle Reformen (sogenannte prior actions) voraus und ist in dieser Form noch nicht bindend. Das Abkommen sieht eine grundsätzlich nachvollziehbare Strategie der Umstrukturierung des Finanzsektors, effizientere Governance-Strukturen und Transparenz im Wechselkurssystem vor. Dem Abkommen mangelt es jedoch an Spezifikationen und Verbindlichkeit. Außerdem stehen die drei Milliarden in keinem Verhältnis zu den circa 70 Milliarden, die fehlen, um alle Einleger auszuzahlen. An einer Umsetzung bestehen enorme Zweifel, da die Finanzelite des Libanons weiterhin kaum Interesse an Reformen zeigt.

Der Libanon steht am Rande des sozioökonomischen Kollapses.

Heute steht der Libanon am Rande des sozioökonomischen Kollapses. Große Teile der Mittelschicht sind in die Armut abgerutscht, über zwei Millionen Menschen sind von akuter Ernährungsunsicherheit betroffen. Über dem Land liegt eine Glocke der Depression, viele derjenigen, die konnten, haben das Land verlassen. Das Narrativ vom unvermeidlichen Untergang im führungslosen Chaos – seit den Parlamentswahlen im Mai 2022 konnte kein Kabinett bestimmt werden und auch auf einen Präsidenten konnte man sich in den vergangenen zwölf Wahlgängen nicht einigen – lässt sich anschaulich erzählen, greift aber zu kurz. Gründe für das Chaos sind die jahrelang verfehlte Wirtschafts- und Sozialpolitik sowie der hanebüchene Umgang mit der Krise.

Seit dem Ende des Bürgerkrieges (1975 bis 1990) steuerte der Libanon – durch enormen Schuldenaufbau, verfehlte neoliberale Wirtschafts- und Sozialpolitik sowie weitverbreitete Korruption – zielstrebig auf eine Krise zu. Diese Entwicklung mündete 2019 in eine landesweite überkonfessionelle Protestwelle, die zeitweise Hoffnung auf einen tatsächlichen und tiefgreifenden Umbau des Systems weckte. Einst auf die Überwindung religiöser Gräben ausgerichtet, zeichnet sich das politische System heute durch Stillstand und um Einfluss ringende Patronage-Netzwerke aus. Dringend benötigte Reformen bleiben auf der Strecke. Zwischen 2005 und 2017 hat das Parlament beispielsweise keinen Haushalt verabschiedet, öffentliche Ausgaben wurden praktisch nicht kontrolliert und der öffentliche Sektor wurde zunehmend aufgebläht. In Abwesenheit spürbarer demokratischer Kontrolle und mit dem Wissen der Führungsschicht konnte die Zentralbank Banque du Liban unter ihrem langjährigen Vorsitzenden Riad Salameh (1993 bis Juli 2023), der unter anderem in Deutschland wegen Geldwäsche und Veruntreuung per Haftbefehl gesucht wird, nach Gutdünken schalten und walten und ein massives Schneeballsystem aufbauen, mit dem der Wert der libanesischen Währung auf einem unnatürlich hohem Niveau gehalten wurde.

Über Jahre war das libanesische Pfund künstlich an den US-Dollar gekoppelt.

Über Jahre war das libanesische Pfund künstlich an den US-Dollar gekoppelt. Da der Libanon weit mehr importiert als exportiert, benötigte das Land kontinuierlich frische US-Dollar, um die künstliche Währungsbindung aufrechtzuerhalten. Zu diesem Zweck haben Banken durch riskantes Finanz-Engineering Anreize gesetzt, die den Bedarf an frischen US-Dollar decken sollten. So boten beispielsweise Banken mit Unterstützung der Zentralbank mit der politischen Elite vernetzten Einlegerinnen hohe Zinssätze auf US-Dollar-Einlagen an. Diese enormen Zinssätze wurden mit dem Geld der bestehenden Einleger finanziert, sodass man permanent auf frische Devisenzuflüsse angewiesen war. Es wurde immer mehr geliehen und als die Krise sich verstärkte und immer weniger US-Dollar ins Land kamen, brach das System schließlich zusammen. Banken schlossen und verweigerten Kundinnen und Kunden Zugriff auf ihre Konten, um einen Run auf die Einlagen zu verhindern. Das führte zu einem massiven Vertrauensverlust in den Finanzsektor und stürzte das politische System in eine Legitimitätskrise. 

Ein IWF-Deal könnte die einzige Möglichkeit sein, die verschiedenen politischen Fraktionen an einen Tisch zu bringen, um dringend benötigte Reformen umzusetzen.

In dieser verfahrenen Situation beginnt sich das Narrativ um den IWF-Deal zu verändern. Grundsätzliche Kritik am IWF aus einer progressiven Richtung bleibt legitim, die Frage lautet allerdings: Was ist die Alternative? Die letzten vier Jahre haben offengelegt, wo die Interessen der regierenden Klasse liegen. Reformen aus dem Inneren des Systems heraus scheinen zunehmend unmöglich. Ein IWF-Deal könnte die einzige Möglichkeit sein, die verschiedenen politischen Fraktionen an einen Tisch zu bringen, um dringend benötigte Reformen umzusetzen. Der Blick richtet sich dann auf die sozial gerechte und nachhaltige Ausgestaltung des Deals. Können Instrumente eingeführt werden, die die politische Führungsschicht, die Zentralbank sowie die Finanzelite stärker demokratisch kontrollieren? Staatliche Institutionen und demokratische Prozesse müssen gestärkt, staatliche Funktionen wiederhergestellt und die unabhängige Gerichtsbarkeit gewährleistet werden. Ein IWF-Deal muss die breite Bevölkerung entlasten etwa durch Investitionen in universelle und inklusive soziale Sicherungssysteme und durch progressive Besteuerung, statt harte Sparmaßnahmen und weitere Privatisierungen durchzusetzen. Ein Deal kann nur dann politisch nachhaltig sein, wenn er sozial gerecht ausgestaltet wird. Soll sich etwas Grundlegendes am aktuellen politischen System ändern, so müssten sowohl der IWF als auch die Geberländer auf weit in das politische System hineinreichende Maßnahmen bestehen und Unterstützung an klare Kriterien der Transparenz- und Rechenschaftspflicht binden.

In einer Region, in der die Räume für kritisches gesellschaftliches Engagement stetig kleiner werden, ist der Libanon bislang noch ein demokratisches Land mit großer Offenheit für zivilgesellschaftliche Initiativen, mit kritischen Medien und dem Engagement junger, motivierter Menschen. Auf dem aktuellen Weg besteht die Gefahr, dass das System immer weiter erodiert und diese Offenheit zunehmend eingeschränkt wird. Können IWF-Kredite also tatsächlich entgegen bisheriger Erfahrungen in der Region eine Demokratie stärken? Soll der Libanon sich nachhaltig und sozial gerecht aus dieser Krise befreien, so scheinen tiefgreifende, die Privilegien der aktuellen politischen Führungsschicht betreffende Reformen unumgänglich. Ein progressiver IWF-Deal könnte im Falle des Libanons weniger eine Gefahr für die Demokratie darstellen als eine für deren langsame Genesung unerlässliche Pille, deren Geschmack insbesondere den das System bislang dominierenden Kreisen bitter aufstoßen muss.