Der Westen hat die Kurden verraten! Solange die kurdischen Milizen in Syrien bereit waren, den sogenannten Islamischen Staat (IS) zu bekämpfen, stellten die Regierungen in Berlin und Washington bereitwillig Unterstützung in Form von Waffenlieferungen, finanziellen Mitteln und Ausbildungsmissionen bereit. Sie bezeichneten die von den kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) angeführten Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) als verlässlichen Partner. Doch nun, wo die türkische Regierung eine Offensive auf die von der YPG kontrollierte Enklave Afrin im Nordwesten Syriens initiiert hat, steht der Westen ihnen nicht zur Seite.
In dem von der YPG kontrollierten Nordosten Syriens unterhalten die USA mehrere Militärbasen und sogar einen Flughafen.
Derartige Kritik findet sich zur Zeit sowohl in Meinungsartikeln der großen Zeitungen als auch von Seiten der Grünen und Linken. Doch die Argumentation übersieht wesentliche Punkte. Erstens hat der „Westen“ nur äußerst begrenzten Einfluss auf die Situation in Afrin. Zweitens wurde den kurdischen Milizen nie versprochen, ihnen im Fall eines Angriffs auf Afrin zur Seite zu stehen. Drittens hat der „Westen“, allen voran die USA, bis dato die übrigen von der YPG kontrollierten Gebiete durchaus verteidigt und viertens hat die YPG mit ihrer Politik der letzten drei Jahre die derzeitige Eskalation mit herbeigeführt.
Rückenwind aus Washington
Die Unterstützung des Westens für die kurdische YPG begann Ende des Jahres 2014, als der IS in Syrien auf dem Vormarsch war und die mehrheitlich kurdisch bewohnte Stadt Kobanê belagerte. Mit Hilfe der US-Luftwaffe gelang es den Milizen der YPG, die Eroberung Kobanês zu verhindern und den IS in der Folgezeit kontinuierlich zurückzudrängen. Seither sind Waffen im Wert von mehreren hundert Millionen US-Dollar an die YPG geliefert worden. In dem von der YPG kontrollierten Nordosten Syriens unterhalten die USA mehrere Militärbasen und sogar einen Flughafen. Die Unterstützung für die YPG erfolgte nicht nur militärisch, sondern auch politisch. Das von der YPG dominierte Bündnis der Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) wurde von den USA als multiethnische, multireligiöse Organisation und als emanzipatives Bollwerk in einer Krisenregion beworben. Mit Rückenwind aus Washington konnten die YPG und ihr politischer Arm, die Partei der Demokratischen Union (PYD), ihre Macht im Norden Syriens drei Jahre lang zementieren. Die YPG und PYD sind eng mit der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) verflochten, die sich seit mehr als 30 Jahren in einem bewaffneten Konflikt mit dem türkischen Staat befindet. Die Konsolidierung des als „Rojava“ bezeichneten de-facto-Autonomiegebiets erfolgte jedoch alles andere als friedlich: Die PYD/YPG verfolgte konkurrierende, kurdische Parteien und monopolisierte die Medienlandschaft.
Afrin stand nie unter dem Schutz „des Westens“
Afrin bildet hierbei einen Ausnahmefall: Das Gebiet liegt im Nordwesten Syriens und war nie territorial mit den übrigen Kantonen „Rojavas“ verbunden. Auch war das US-Militär nie in Afrin vertreten. Stattdessen waren zuletzt russische Soldaten in Afrin stationiert. Russlands Kontakte zur PKK und ihren syrischen Ablegern gehen zurück auf die Zeiten des Ost-West-Konflikts, als die Regierung in Moskau in der PKK einen Verbündeten im NATO-Grenzgebiet sah. Entsprechend spielt sich die laufende Offensive in einer Region ab, die nicht zum US-amerikanischen Einflussgebiet gehört. Die USA haben zwar versprochen, ihre syrischen Partner zu verteidigen, die Enklave Afrin hierbei jedoch ausgenommen. Das bedeutet im Umkehrschluss nicht, dass die USA die YPG/SDF generell fallenlassen. Als die türkische Regierung ankündigte, die Offensive würde nicht in Afrin stoppen, sondern auch die übrigen von der YPG kontrollierten Gebiete ins Visier nehmen, besuchten US-Militärs demonstrativ die an der möglichen Front gelegene Stadt Manbidsch.
Was bleibt, sind hunderttausende von Zivilisten, die einmal mehr die Leidtragenden sind.
Auch einen Vorstoß von Truppen des Assad-Regimes, die in Richtung von der YPG/SDF kontrollierte Ölfelder in der östlichen Provinz Deir ez-Zor marschierten, beantwortete das US-Militär umgehend mit einem Gegenangriff, der mindestens 100 der Angreifer tötete. Syriens Nordosten ist für die vorläufige Strategie der US-Regierung, die sich durch ihre militärische Präsenz im Land politisches Mitspracherecht erhofft, äußerst wichtig. Die Zukunft der Unterstützung für die YPG/SDF steht in den Sternen, doch für den Moment ist sie Realität. Das Versprechen, dauerhaft als Schutzmacht für das politische Projekt der PYD in Syrien zu fungieren, haben hingegen weder die USA noch übrige dem „Westen“ zugeordnete Länder gegeben. Durch das bisherige Engagement hat die PYD samt ihres bewaffneten Armes allerdings zuvor undenkbares Gewicht erlangt. Dank finanzieller Mittel, millionenschwerer Waffenlieferungen und US-Präsenz vor Ort sind PYD und YPG zur unangefochtenen Macht in Nordsyrien aufgestiegen. Versäumt haben die PYD/YPG und ihre Mutterorganisation PKK dabei jedoch, ihren ungeahnten Zuwachs an Macht in ein langfristiges, politisches Projekt zu übersetzen.
Versäumnisse auf allen Seiten
So sehr Unterstützer dieser Bewegungen deren demokratische Strukturen und ihr friedliches Wesen betonen mögen, die Realität sieht anders aus. Nach wie vor wird die politische Opposition verfolgt, werden Menschen – auch Kinder – für den Dienst an der Waffe zwangsrekrutiert, wird Gewalt auch in die Türkei getragen. Die blinde Unterstützung des „Westens“ hat diese Entwicklung sicherlich befeuert, doch hätte es auch in der Verantwortung besagter Kurdenparteien gelegen, das Verhältnis zur Türkei neu zu ordnen. Der 2013 aufgenommene Friedensprozess zwischen dem türkischen Staat und der PKK scheiterte zwei Jahre später sowohl an der kompromisslosen Position der türkischen Regierung als auch an der Weigerung der PKK, ihre Truppen gemäß des verhandelten Abkommens aus der Türkei abzuziehen. Die PKK und ihre syrischen Ableger hätten innerhalb der letzten drei Jahre durchaus Möglichkeiten gehabt, den neu entfachten Konflikt mit dem türkischen Staat zu entschärfen und damit die militärische Intervention in Afrin unwahrscheinlicher zu machen, wenn nicht zu verhindern. Unerwähnt soll nicht bleiben, dass der türkische Staat gleichermaßen deeskalierend hätte handeln können. In diesem Sinn geht es an dieser Stelle nicht um eine moralische Einordnung, sondern um einen möglichst neutralen Blick auf die Standpunkte konkurrierender Akteure. Aus dieser Perspektive haben alle Beteiligten zur Eskalation beigetragen: Der Westen durch seine blinde, von eigenen Interessen geleitete Unterstützung für eine machthungrige Organisation, der türkische Staat durch seine kompromisslose Haltung gegenüber der kurdischen Bevölkerung und die PKK samt ihrer syrischen Ableger durch ihren konfrontativen Kurs nach Innen und Außen. Was bleibt, sind hunderttausende von Zivilisten, die einmal mehr die Leidtragenden sind.