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Iran erlebt momentan eine Zeitenwende. Die jüngsten Parlamentswahlen leiteten einen weitreichenden Umbruch ein, weg vom Pragmatismus hin zu einer konfrontativen Ausrichtung. Es ist davon auszugehen, dass diese die Politik der Islamischen Republik in den kommenden Jahren prägen wird.

Gescheitert ist damit bis auf weiteres der Versuch einer persischen Perestroika, gekennzeichnet durch eine Öffnung nach Außen und moderate Reformen im Innern. Für diesen Entwurf steht der noch amtierende Präsident des Landes, Hassan Rohani. 2013 trat er an mit dem Versprechen, den Streit um das Atomprogramm beizulegen und Iran in die internationale Gemeinschaft zurückzuführen. Nach dem Wegfall der Sanktionen sollte die iranische Wirtschaft endlich wieder angekurbelt werden. Parallel zum Vorhaben neoliberaler Wirtschaftsreformen wurden zaghafte Schritte in Richtung einer soziopolitischen Lockerung unternommen.

Die Bilanz der Regierung fällt allerdings dürftig aus. Das 2015 abgeschlossene Atomabkommen steht kurz vor dem Scheitern. Nach dem einseitigen Ausstieg der Vereinigten Staaten 2018 reagiert Iran und setzt nun seinerseits wichtige Teile der Vereinbarung nicht mehr um. Derweil leidet die iranische Wirtschaft nicht allein an den Folgen von weitreichender Korruption und Missmanagement, sondern auch massiv unter den US-Sanktionen.

Der Ausstieg der USA aus dem Atomabkommen und das Scheitern Europas, den US-Sanktionen etwas Nennenswertes entgegenzusetzen, entfesselten jene Kräfte in Teheran, die das Heil der Islamischen Republik in Konfrontation und Abschottung sehen.

In Teheran vermochten es Rohanis Widersacher, eine Verbindung unterschiedlicher radikaler Kräfte, Reformversuche der Regierung zu blockieren. Hierzu nutzten sie ihren Zugriff über de facto nicht vom Volk kontrollierte Institutionen wie den Wächter- oder Schlichtungsrat. Im politischen System der Islamischen Republik sind jene dem Parlament und der Regierung übergeordnet und beschränken diese in ihrem Handeln massiv.

Hoffnungen auf mehr Teilhabe wurden spätestens im November letzten Jahres zerstört. Landesweite Proteste nach einer Erhöhung der Benzinpreise wurden mit bislang unbekannter Gewalt niedergeschlagen. Hunderte Todesopfer sind zu beklagen, Tausende wurden inhaftiert. Diejenigen in Teheran, die für Pragmatismus warben, stehen nun mit leeren Händen da. Der Frust ihrer Anhänger innerhalb der iranischen Bevölkerung wächst. Desillusioniert wenden sie sich vom System ab.

Geschlagen hat nunmehr die Stunde der Radikalen. So entfesselten der Ausstieg der USA aus dem Atomabkommen und das Scheitern Europas, den US-Sanktionen etwas Nennenswertes entgegenzusetzen, jene Kräfte in Teheran, die das Heil der Islamischen Republik in Konfrontation und Abschottung sehen. Sie wissen das politische Momentum auf ihrer Seite und machen sich daran, langfristig Fakten zu schaffen.

Bei der Wahl machten die Radikalen unter dem Banner der „Prinzipalisten“ sowie andere Erzkonservative das Rennen. Vertreten fühlen sich durch das neue Parlament immer weniger Iranerinnen und Iraner.

Den Auftakt bildeten die jüngsten Parlamentswahlen. Das radikale Establishment der Islamischen Republik ging aufs sprichwörtlich Ganze. Angesichts der mageren Bilanz Rohanis fiel das Potential des moderaten Lagers, Wählerinnen und Wähler zu mobilisieren, ohnehin nur dürftig aus. In diesem Punkt ähnelt die Situation heute der von 2004, als die Anhänger des Reform-Präsidenten Mohammad Chatami bei den Parlamentswahlen enttäuscht zu Hause blieben und auf die Stimmabgabe verzichteten.  

Doch die Hardliner wollten diesmal nichts riskieren. Der Wächterrat schloss massenhaft Reformisten und moderate Konservative von den Wahlen aus. Von 16 000 Bewerbern wurden gerade einmal 7 100 zur Wahl zugelassen, also weniger als 45 Prozent. Zur Einordnung: Bei den Parlamentswahlen 2000 erhielten noch über 80 Prozent aller Kandidaten die Zustimmung des Wächterrats, der dem mächtigsten Mann im Staate nahesteht, Revolutionsführer Ali Chamenei. Bezeichnenderweise wurde bei den jüngsten Wahlen auch über ein Drittel aller amtierenden Parlamentarier von der Wahl ausgeschlossen, freilich aus den Reihen der Reformisten und moderaten Konservativen.

Bei der Wahl machten dann, wenig überraschend, die Radikalen unter dem Banner der „Prinzipalisten“ sowie andere Erzkonservative das Rennen. Vertreten fühlen sich durch das neue Parlament immer weniger Iranerinnen und Iraner. Für politische Entscheidungen, die im Regelfall informell innerhalb der Elite der Islamischen Republik ausgehandelt werden, hat das Parlament ohnehin nur nachrangige Bedeutung. Mit dem weitgehenden Wegfall reformorientierter Abgeordneter wird es nun noch schwächer.

Das Land dürfte sich weiter von progressiven Reformen entfernen, sowohl in der Wirtschaftspolitik als auch mit Blick auf Fragen sozialer Freiheiten und politischer Teilhabe.

Die Übernahme des Parlaments durch die Prinzipalisten ist dabei nur der erste Schritt. Nächstes Jahr stehen Präsidentschaftswahlen an. Auch hier streben die radikalen Kräfte an, den Nachfolger Rohanis zu stellen. Der aktuelle Präsident Rohani darf nach zwei Amtszeiten nicht mehr zur Wahl antreten. Bis zur Wahl im Mai 2021 dürfte das neue Parlament den Präsidenten vollends blockieren und die politische Agenda des Landes weiter zu Ungunsten der moderaten Kräfte verändern.

Schließlich steht auch die Frage der Nachfolge des 80-jährigen Revolutionsführers Ali Chamenei im Raum. Zeitgleich zu den Parlamentswahlen wurden Zwischenwahlen für den Expertenrat abgehalten, das Gremium, das über den Nachfolger Chameneis entscheiden wird. Auch hier gewannen die Hardliner, ebenfalls dank tatkräftiger Unterstützung des Wächterrats.

Für die Politik Irans bedeuten diese Entwicklungen eine weitere Manifestierung des radikalen Kurses der letzten Monate. Das Land dürfte sich weiter von progressiven Reformen entfernen, sowohl in der Wirtschaftspolitik als auch mit Blick auf Fragen sozialer Freiheiten und politischer Teilhabe.

Von einem wirtschaftlichen Kollaps bleibt Iran zwar, allen Unkenrufen zum Trotz, weit entfernt. Fraglich ist jedoch, ob es der Staatsführung gelingt, die ökonomischen Nöte der Bevölkerung spürbar zu lindern.

In der Folge ist auch zu erwarten, dass Iran wirtschaftlich weiter deutlich unter seinen Potentialen bleibt. Denn aufgrund der Sanktionen – eine zeitnahe Verständigung mit Washington bleibt unwahrscheinlich – ist nicht nur der Handel mit Europa eingebrochen, alleine um 74 Prozent im letzten Jahr. Auch Hoffnungen auf eine Alternative im Osten wurden enttäuscht: Aufgrund des langen Arms der US-Sanktionen ging der Handel mit China (-34 Prozent) und Indien (-79 Prozent) deutlich zurück. Im Fahrwasser der Sanktionen nimmt der Handel über klandestine Strukturen zu; Korruption breitet sich noch weiter aus.

Von einem wirtschaftlichen Kollaps bleibt Iran zwar, allen Unkenrufen zum Trotz, weit entfernt. Mit Ausnahme des Energiesektors verzeichnet die iranische Wirtschaft sogar bereits wieder ein leichtes Wachstum. Fraglich ist jedoch, ob es der Staatsführung gelingt, die ökonomischen Nöte der Bevölkerung spürbar zu lindern. Hohe Inflation führte hier in den letzten Monaten zu einem drastischen Rückgang von Kaufkraft und realen Haushaltseinkommen. Leid und Frust nehmen stetig zu. Derweil hat die iranische Bevölkerung immer weniger die Chance, innerhalb des Systems der Islamischen Republik Protest zum Ausdruck zu bringen. Die vom Ausschluss Tausender begleiteten Parlamentswahlen verschärfen dieses Dilemma, das enormen sozio-politischen Sprengstoff birgt.

Ein potenziell ebenfalls explosiver Faktor bleibt auch Irans Außenpolitik. Sowohl im Nukleardossier als auch in der Regionalpolitik dürfte Teheran weiter auf Druck setzen. So strebt Iran seit letztem Jahr einen Nexus zwischen den US-Sanktionen, nuklearer Nichtverbreitung und regionaler Sicherheit an. Das Ziel: die Kosten für die „Maximum Pressure“-Politik Washingtons in die Höhe zu treiben.

Ein potenziell ebenfalls explosiver Faktor bleibt auch Irans Außenpolitik. Sowohl im Nukleardossier als auch in der Regionalpolitik dürfte Teheran weiter auf Druck setzen.

Schon heute setzt Iran wichtige Komponenten des Abkommens nicht mehr um. So nutzt Teheran etwa, entgegen der Vereinbarung, modernere und somit schnellere Zentrifugen für die Urananreicherung. Nicht nur in Europa führt diese Entwicklung zu wachsenden Sorgen über mögliche Implikationen für Irans Atomwaffenfähigkeit. Während Iran versucht, eine machtvolle Position für mögliche Verhandlungen in der Zukunft aufzubauen, droht kurzfristig der vollständige Kollaps des Atomabkommens. Die Konsequenzen für den Mittleren Osten sind unkalkulierbar.

In der Regionalpolitik setzt Teheran parallel dazu auf eine dosierte Konfrontation. Mit gezielten Angriffen auf Öl-Tanker und -Raffinerien offenbarte Iran die große Verwundbarkeit seiner Rivalen Saudi-Arabien und der Vereinigten Arabischen Emirate. Bezeichnenderweise reagierten diese bereits und gingen auf Teheran zu. Dort fühlen sich die Falken bestätigt. Weitere iranische Schläge in naher Zukunft sind nicht auszuschließen, wenn Teheran sich dazu bemüßigt fühlen sollte, seine Position gegenüber Abu Dhabi und Riad, oder aber auch gegenüber Washington und Tel Aviv, noch einmal mit Taten zu untermauern. Welch enormes Eskalationspotential in diesem Zusammenhang vorliegt, zeigen die Dynamiken rund um die Tötung des iranischen Generals Ghassem Soleimani durch die USA.

Vor dem Hintergrund dieser Gemengelage wird die Tragweite des gescheiterten Versuchs einer Perestroika in Iran klar. In Moskau misslang dereinst das Unterfangen einer umfassenden Reform und mündete im Zusammenbruch des Sowjetreichs. Ein solches Szenario zeichnet sich in Iran bislang nicht ab, im Gegenteil. Vielmehr erlebt das Land eine Ausweitung der – ohnehin bereits erheblichen – Konzentration politischer Macht in den Händen der Radikalen. Die moderaten Teile der islamisch-republikanischen Nomenklatura fügen sich ihrem Schicksal.

Offen bleibt derweil, ob der krisengeplagten iranischen Bevölkerung eine neue politische und ökonomische Vision vermittelt werden kann. Für die immer mächtiger werdenden Hardliner dürfte dies, vor allem angesichts steigender politischer Repression und ökonomischer Not, die Gretchenfrage sein.