Mit seinem Entscheid im Verfahren um Südafrikas Völkermordklage stellt der Internationale Gerichtshof (IGH) sich mit Macht gegen Israels Verweigerungshaltung. Mit überwältigender Mehrheit erklärte das Gericht die Klage für „plausibel“ und ordnete Sofortmaßnahmen an. Diese seien erforderlich, um zu verhindern, dass Israel mit seinem weiteren Vorgehen in Gaza „irreparable Schäden“ verursacht und die Rechte verletzt, die den Palästinensern aufgrund der Völkermordkonvention zustehen.
Die öffentliche Haltung etlicher israelischer Vertreter hatte den Tenor: „Wie kann jemand es überhaupt wagen, uns wegen Völkermordes anzuklagen?“ Sie führten ins Feld, dass Israel nach dem Holocaust gegründet worden sei, um das jüdische Volk vor Völkermord zu schützen, dass am 7. Oktober Israel schließlich von der Hamas angegriffen worden sei und dass die Hamas in vielen Verlautbarungen genozidale Absichten habe erkennen lassen.
Keines dieser Argumente entlastet Israel jedoch vom Vorwurf des Völkermordes. Weder Israels Geschichte noch sein Selbstverteidigungsanspruch bedeuten, dass die von ihm eingesetzten Methoden zur Bekämpfung der Hamas nicht trotzdem genozidalen Charakter haben könnten. Das Gericht fand genügend Anhaltspunkte dafür, dass die palästinensische Zivilbevölkerung auf Schutz durch den Gerichtshof angewiesen ist.
Mit seiner Entscheidung weist der Gerichtshof auch Israels westliche Unterstützer in die Schranken. Die Biden-Administration hatte das Verfahren als „wertlos“ bezeichnet, die britische Regierung nannte es „unsinnig“. Mit 15 zu 2 Stimmen kamen die Richter zu einem anderen Urteil.
Das Gericht befand unter anderem, dass humanitäre Hilfen für die hungernde Bevölkerung in Gaza ermöglicht werden müssen sowie dass Anstachelung zum Völkermord unterbunden und bestraft werden muss. Dieser Auffassung schloss sich sogar der angesehene israelische Richter Aharon Barak an. Dadurch wurde in diesen beiden Punkten allen Versuchen, die Kritik an Israels Vorgehen in Gaza als Doppelmoral oder Antisemitismus abzutun, durch ein Votum mit 16 zu einer Stimme eine noch deutlichere Absage erteilt.
Überwältigend detailliert schilderte der Gerichtshof das außerordentliche Leid der palästinensischen Zivilistinnen und Zivilisten in Gaza.
Überwältigend detailliert schilderte der Gerichtshof das außerordentliche Leid der palästinensischen Zivilistinnen und Zivilisten in Gaza, die von den israelischen Streitkräften bombardiert und belagert werden. Das Gericht begnügte sich nicht mit den gegensätzlichen Darstellungen der israelischen und südafrikanischen Anwälte, sondern stützte sich auf die Aussagen von UN-Vertretern. Diese schilderten die entsetzliche Situation in Gaza und berichteten, wie dort Menschen sterben, verwundet, traumatisiert und vertrieben werden, Hunger leiden und medizinisch nicht versorgt werden. Nach Überzeugung des Gerichtshofs könnte das Leid sich noch erheblich verschlimmern, wenn er nicht einschreitet.
In seinem knapp formulierten Entscheid ging das Gericht nur am Rande auf den Streit um den Tatbestand ein, verwarf aber implizit zentrale Argumente, die Israel zu seiner Verteidigung angeführt hatte. Die israelischen Anwälte hatten vor allem geltend gemacht, die Hamas benutze die Zivilbevölkerung als menschlichen Schutzschild und Wohngebiete als Operationsbasis für ihre Kampfhandlungen. Dies erkannte das Gericht jedoch nicht als Rechtfertigung für Operationen wie den Abwurf von 900-Kilo-Bomben über dicht besiedelten Gebieten an, die zu hohen Verlusten an Menschenleben unter der Zivilbevölkerung führen.
Israels Anwälte hatten betont, ihr Land lasse humanitäre Hilfslieferungen in den Gazastreifen zu. Aus den Schilderungen von UN-Vertretern ging jedoch eindeutig hervor, dass die Hilfen so spärlich fließen und durch bürokratische Hürden so erschwert werden, dass sich die Zivilbevölkerung inzwischen am Rand der Katastrophe befindet.
Außerdem führten die Anwälte an, in vielen Fällen hätten israelische Soldaten das Leben palästinensischer Zivilisten geschützt, aber der Tatbestand des Völkermordes kann auch dann erfüllt sein, wenn nur ein Teil der Bevölkerung ins Visier genommen wird. Möglicherweise richtet die israelische Regierung gerade so viel Zerstörung an, dass sie die Palästinenser aus Gaza vertreibt; dies legen die Aussagen mehrerer Minister nahe.
Eines der stärksten Argumente der südafrikanischen Kläger war der Verweis auf Aussagen führender Vertreter Israels, in denen Völkermordabsichten zum Ausdruck kommen. Die israelische Regierung hatte versucht, sich damit herauszureden, diese Äußerungen seien Affekthandlungen gewesen und würden durch Geheimbefehle des israelischen Kabinetts entkräftet, die dem Gerichtshof vorgelegt worden seien.
Mit den jetzigen Verhandlungen ist in diesem Verfahren noch lange nicht das letzte Wort gesprochen.
Das überzeugte das Gericht jedoch nicht. Es verwies auf eine Äußerung von Verteidigungsminister Joaw Gallant, der in der Befehlskette eine Schlüsselstellung einnimmt und erklärt hatte, er habe „alle Hemmungen fallen lassen“ und Israel kämpfe gegen „Tiere in Menschengestalt“. Auch ein Statement von Staatspräsident Izchak Herzog wurde von den Richtern zitiert: „Es ist eine ganze Nation, die verantwortlich ist. Die Rhetorik von den unwissenden, unbeteiligten Zivilisten entspricht nicht der Wahrheit.“
Mit den jetzigen Verhandlungen ist in diesem Verfahren noch lange nicht das letzte Wort gesprochen. Bis in der Hauptsache entschieden und über die Frage geurteilt wird, ob Israel sich in Gaza des Völkermordes schuldig gemacht hat, kann es Jahre dauern. Doch die vom Gericht angeordneten Sofortmaßnahmen könnten sich als enorm wirkungsvolles Mittel erweisen, um das Sterben und Leiden der palästinensischen Zivilbevölkerung umgehend einzudämmen.
Entscheidend wird die Frage der Umsetzung sein. Der Gerichtshof hat eigens darauf hingewiesen, dass seine Entscheidung „bindend“ sei, doch er hat keine Möglichkeit, sie mit militärischen oder polizeilichen Mitteln durchzusetzen. Um Maßnahmen zu erzwingen, bräuchte er eine Resolution des UN-Sicherheitsrates und müsste sich dafür mit der Vetomacht USA auseinandersetzen, die sich schon oft schützend vor Israel gestellt hat.
Der politische Druck, der Entscheidung zu entsprechen, wird jedoch enorm sein. Nachdem Israel dem Gericht genug Vertrauen entgegengebracht hat, um seine Anwälte nach Den Haag zu schicken und dort seine Argumente vortragen zu lassen, stünde es Israel extrem schlecht zu Gesicht, wenn es dem Gerichtshof jetzt eine Absage erteilt, weil es verloren hat. Israels Premierminister Benjamin Netanjahu hat zwar den im Raum stehenden Völkermordvorwurf – mit dem das Gericht sich, wie erwähnt, in der Sache noch nicht befasst hat – als „ungeheuerlich“ bezeichnet, aber nicht gesagt, er werde sich an die vom Gericht angeordneten Sofortmaßnahmen nicht halten. Es bleibt zu hoffen, dass er Wort hält.
Einige Beobachter waren enttäuscht, dass der IGH keine Waffenruhe angeordnet hat. Dies war allerdings kaum zu erwarten, denn der Internationale Gerichtshof befasst sich nur mit Streitigkeiten zwischen Staaten, sodass die Hamas keine Prozesspartei darstellt – und in einem bewaffneten Konflikt, der in vollem Gange ist, eine Kriegspartei zu einem einseitigen Waffenstillstand zu verpflichten, ist nicht plausibel.
Südafrika ist es mit der Anrufung des höchsten Rechtsorgans der Welt gelungen, sich als Land des Globalen Südens über machtpolitische Erwägungen zu erheben.
Was der Gerichtshof hingegen angeordnet hat, ist Folgendes: Israel muss „alles in seiner Macht Stehende unternehmen“, um Handlungen zu verhindern, die von der Völkermordkonvention geächtet werden. Es muss in ausreichendem Umfang humanitäre Hilfe für den Gazastreifen ermöglichen, um das Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung zu beenden sowie aufstachelnde öffentliche Äußerungen führender Vertreter Israels unterbinden und bestrafen. In einem Monat muss Israel dem Gerichtshof über die eingeleiteten Schritte berichten.
Gleichwohl lassen die gerichtlichen Anordnungen viel Spielraum. Genau hier sind die Unterstützer Israels gefragt. Werden sie ihre anfängliche Skepsis gegenüber dem Völkermordverfahren überwinden und Israel drängen, dem Gerichtsentscheid zu entsprechen? Bei vergleichbaren Entscheidungen gegen Myanmar, Russland und Syrien stellten westliche Regierungen sich hinter den IGH. Es würde der „regelbasierten Ordnung“, auf die die Staaten des Westens sich berufen, enorm schaden, wenn sie für Israel eine Ausnahme machen würden.
Am längsten Hebel sitzt Joe Biden. Die US-Regierung leistet Israel jedes Jahr Militärhilfe im Umfang von 3,8 Milliarden Dollar und ist sein wichtigster Rüstungslieferant. Wenn die israelische Regierung die Entscheidung des Gerichtshofs ignoriert, sollte diese Unterstützung eingestellt werden. Der US-Präsident sollte seine Angst vor den politischen Konsequenzen im eigenen Land oder seine persönliche Identifikation mit Israel nicht wichtiger nehmen als das Leben so vieler palästinensischer Zivilistinnen und Zivilisten.
Als weiterer Druckfaktor könnte sich der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) erweisen. Anders als der für zwischenstaatliche Streitigkeiten zuständige IGH zieht der IStGH Einzelpersonen für Tatbestände wie Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Verantwortung. Wer sein Verhalten bessert, kann trotzdem für bereits begangene Verbrechen belangt werden, aber sollte Israel den IGH-Entscheid ignorieren, wäre dies für IStGH-Chefankläger Karim Khan ein Grund mehr, tätig zu werden.
Vieles ist noch ungeklärt, aber der jetzige Entscheid ist ein Sieg für das Rechtsstaatsprinzip. Südafrika ist es mit der Anrufung des höchsten Rechtsorgans der Welt gelungen, sich als Land des Globalen Südens über machtpolitische Erwägungen zu erheben. Der Entscheid des Gerichtshofs zeigt: Auch Regierungen mit mächtigen Freunden können zur Rechenschaft gezogen werden. Das bedeutet Hoffnung für die bitter leidenden Zivilistinnen und Zivilisten in Gaza – und es ist ein kleiner, aber wichtiger Schritt hin zu einer Welt, die Recht und Gesetz achtet.
Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld
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