Selbst vehemente Israel-Kritiker stutzen und staunen womöglich, was die israelische Bevölkerung diese Woche erreicht hat. Nachdem wochenlang immer mehr Menschen gegen die von der Regierung geplante Justizreform demonstriert hatten, gingen am Sonntagabend Hunderttausende auf die Straße – proportional entspräche dem ein Protestmarsch von Millionen Amerikanerinnen und Amerikanern. Zuvor hatte Premierminister Benjamin Netanjahu verkündet, er werde seinen Verteidigungsminister Joaw Gallant feuern, der von dem Gesetzesvorhaben abgerückt war.
Verstärkung bekamen die Demonstrierenden von den Gewerkschaften, die mit einem landesweiten Streik unter anderem den wichtigsten Flughafen des Landes lahmlegten, von Diplomaten, die in israelischen Konsulaten und Botschaften die Arbeit aussetzten, und von einigen Reservisten, die mit Befehlsverweigerung drohten. Nie zuvor stand der moderne Staat Israel so kurz vor einer Revolution.
Am Montag gab Netanjahu nach und erklärte, er werde das Gesetzgebungsverfahren aufschieben und sich „eine Auszeit für Dialog“ nehmen. Wenn die Welt ein besserer Ort – oder Israel jünger – wäre, hätte er seinen Rücktritt eingereicht. Politisch hat er, statt den Wählerauftrag für Stabilität, Sicherheit und Wirtschaftswachstum zu erfüllen, seinen eigenen Anhängern ein Fiasko beschert. Staatspolitisch hat er Israel an den Rand der Katastrophe geführt, weil ihm sein persönlicher juristischer Vorteil und der ideologische Starrsinn einiger seiner kriminellen, extremistischen und zwielichtigen Koalitionspartner offensichtlich wichtiger waren als alles andere.
Und dennoch: Er hat nachgegeben. Dafür gebührt ihm ein gewisser Respekt. Zwar ist nicht klar, ob er wirklich vorhat, in einen echten Dialog mit der Opposition einzutreten, oder ob er bloß taktiert. Deshalb sollten die Israelis jedes Wort aus seinem Mund und jeden Schritt, den er unternimmt, genau unter die Lupe nehmen.
Wenn über Israels Demokratie geurteilt wird, sollte sie zumindest am Maßstab anderer Demokratien gemessen werden.
Dass er nachgegeben hätte, lässt sich vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron nicht behaupten. Er setzte sich über die öffentlichen Massenproteste und das Parlament hinweg, um seine umstrittene Rentenreform durchzusetzen. Dass der mexikanische Präsident Andrés Manuel López Obrador nachgegeben hätte, kann man ebenfalls nicht behaupten. Er drückte – ebenfalls gegen erbitterte Proteste – ein Gesetz durch, mit dem die Wahlinstitutionen des Landes demontiert werden. Und man kann es auch nicht von jenem amerikanischen Ex-Präsidenten behaupten, der einen Mob dazu aufgestachelt hat, die Ergebnisse einer demokratischen Wahl zu leugnen.
Wenn über Israels Demokratie geurteilt wird, sollte sie zumindest am Maßstab anderer Demokratien gemessen werden. Wenn man diesen Standard zugrunde legt, ist sie vielleicht intakter als bisweilen angenommen. Dafür spricht mindestens dreierlei.
Die Proteste waren ein Aufstand der politischen Mitte gegen den politischen Rand.
Erstens stellten Israels Demonstranten sich nicht gegen den Status quo oder gegen „das System“. Im Gegenteil: Sie gingen auf die Straße, um dieses System zu verteidigen. Bei jeder Protestkundgebung wurden Israel-Flaggen geschwungen. Mir sind keine Meldungen von schwerer Sachbeschädigung oder von Körperverletzung zu Ohren gekommen, und zu Tode kam erst recht niemand. Die Regierung und ihre Verbündeten haben versucht, die Demonstranten als „Linke“ zu diskreditieren. Das ist schon deswegen absurd, weil zu den Kritikern der Justizreform unter anderem der rechte Ex-Premierminister Naftali Bennett und ein Dutzend ehemaliger Direktoren des Nationalen Sicherheitsrates wie der frühere Mossad-Chef Yossi Cohen und andere gehören, die Netanjahu unmittelbar unterstellt waren.
Mit anderen Worten: Die Proteste waren ein Aufstand der politischen Mitte gegen den politischen Rand – und haben bewiesen, dass diese Mitte sehr viel vitaler und kraftvoller ist als anderswo in der demokratischen Welt.
Gegner der Regierung räumen ein, dass es durchaus Gründe für eine wie auch immer geartete Justizreform gibt.
Zweitens räumen viele prinzipientreue Gegner der Regierung ein, dass es durchaus Gründe für eine wie auch immer geartete Justizreform gibt. Der israelische Oberste Gerichtshof ist außergewöhnlich mächtig, und die Grenzlinien zwischen Exekutive, Legislative und Judikative zu hinterfragen und manchmal auch neu zu ziehen, ist in jeder Demokratie legitim. Laut Ex-Verteidigungsminister Benny Gantz, einem der führenden Köpfe der Opposition, „stimmen die meisten israelischen Bürgerinnen und Bürger – mindestens 80 Prozent – den Reforminhalten zu 80 Prozent zu“.
Der Spielraum für Kompromisse ist also groß. Wenn man die Konsultationen auf eine breite Grundlage stellt und den Prozess klarer gestaltet, wäre eine breite Unterstützung für die Neuordnung der Justiz denkbar. Doch wenn Netanjahu daran festhält, dass er die Möglichkeit haben will, Gerichtsentscheidungen mit hauchdünner Parlamentsmehrheit zu kippen und die Richter für seinen eigenen Korruptionsprozess selber zu ernennen, wird seinen Bemühungen immer der Makel der Parteilichkeit und des Eigeninteresses anhaften.
Die Israelis sehen ein, dass ihre physische Sicherheit weniger auf ihrer militärischen Stärke als auf gesellschaftlichem Vertrauen beruht.
Drittens sehen die Israelis ein, dass ihre physische Sicherheit weniger auf ihrer militärischen Stärke als auf gesellschaftlichem Vertrauen beruht, sodass selbst erbitterte politische Rivalen nicht umhinkommen, sich gegenseitig als Kampfgenossen zu achten. Das ist auch bei Netanjahu angekommen, als er in der vergangenen Woche warnte, die Dienstverweigerung der Reservisten bringe den Staat in „schreckliche Gefahr“. Ein jüdischer Staat, der das Vertrauen einer ganzen Bevölkerungshälfte – zumal der wirtschaftlich besser gestellten, säkulareren und global mobileren Hälfte – verliert, wird sich selbst den Garaus machen, noch bevor seine Feinde dies tun.
Die meisten Israelis, die in dem Bewusstsein aufgewachsen sind, dass der Sicherheitspuffer ihres Landes ungemein dünn ist, wissen das; vergessen wird es nur von Opportunisten und Fanatikern. In dieser Woche haben die Demonstrierenden sie daran erinnert, dass blanker Majoritarismus für alle eine Gefahr ist.
Am Sonntag wies der israelische Schriftsteller Amotz Asa-El vom Shalom Hartman Institut mich darauf hin, dass das antike Israel zwölf Bürgerkriege über sich ergehen lassen musste – angefangen vom Krieg zwischen dem Stamm Benjamin und dem übrigen Israel (Buch der Richter, 19–21) bis zu den Zeiten des großen Aufstands gegen die Römer, als die jüdischen Milizen sich in Jerusalem gegenseitig bekämpften. „Das entspricht ungefähr einem Krieg alle vier Generationen“, so Asa-El.
Im Mai wird der Staat Israel 75 Jahre alt – das entspricht mindestens drei Generationen. Für Siegesfeiern ist es noch zu früh. Doch die Israelis, die auf die Straße gegangen sind, haben ihr Land möglicherweise davor bewahrt, diese Geschichte zu wiederholen.
© New York Times
Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld