Für den tunesischen Präsidenten Kais Saied lief in dieser Woche nicht alles nach Plan. Auf den Tag genau zwölf Jahre nach der Selbstverbrennung des tunesischen Gemüsehändlers Mohamed Bouazizi, die die tunesische Revolution und den arabischen Frühling auslöste, beschloss Saied, diese „revolutionäre Explosion“, wie er das Ereignis heute nennt, auf seine Art und Weise zu feiern.

Am 17. Dezember 2022 fanden die ersten Parlamentswahlen seit der in diesem Sommer von Präsident Saied durchgesetzten Verfassungsreform statt. Die Tunesierinnen und Tunesier zogen es am ersten Tag der Winterferien jedoch vor, die Sonne zu genießen, während die Wahllokale menschenleer blieben. Mit einer offiziellen Wahlbeteiligung von knapp über elf Prozent war die Abstimmung also ein Fiasko für Saieds „neue Republik“ und für seine Wahlbehörde ISIE, die im Übrigen nicht mehr so unabhängig ist, wie ihr vollständiger Name (Unabhängige Oberste Wahlbehörde) vermuten lässt. Ihre Mitglieder werden von Saied ernannt und halten sich an seine Befehle. Dem Wahlkampfslogan des Präsidenten – „Das Volk will und weiß, was es will.“ – konnte niemand entkommen. Tägliche SMS an alle Mobilfunknummern, Werbespots, Auftritte in den Medien, all seine Bemühungen blieben jedoch erfolglos: Das Volk will nicht oder weiß nicht, was es will. 

Die Tunesierinnen und Tunesier stellen den 2011 begonnenen demokratischen Übergangsprozess mittlerweile in Frage. 

Die vierten Parlamentswahlen seit der tunesischen Revolution sind jedoch nicht nur an den Boykottaufrufen der Opposition gegen Kais Saied oder an der fehlenden internationalen Aufsicht (das Europäische Parlament hatte am 16. Dezember beschlossen, keine Beobachter zu entsenden) gescheitert, sondern am allgemeinen Desinteresse und der Abneigung vonseiten der Bevölkerung gegenüber der gesamten politischen Klasse, die sie in den vergangenen zwölf Jahren enttäuscht hat. Alle haben versagt, und zwar ausnahmslos. Die Tunesierinnen und Tunesier haben kein Vertrauen mehr in ihre Eliten und stellen den 2011 begonnenen demokratischen Übergangsprozess mittlerweile in Frage.

Die Aufbruchsstimmung im Land nach 2011 konnte den wiederholten politischen Krisen, verschärft durch schwere wirtschaftliche Probleme, nicht standhalten. Zwar beglückwünscht sich das Land weiterhin zu den wenigen Freiheiten, die im Zuge der Revolution gewonnen wurden, doch wird die Revolution heute vor allem mit großer Ernüchterung wahrgenommen. Die Ereignisse in Tunesien werden von vielen mit Spannung verfolgt, während die schweigende Mehrheit zunehmend Mühe hat, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. 

Weder die Anhänger des Präsidenten noch die Opposition können eine „zufriedenstellende“ Alternative zur Überwindung der Krise präsentieren. Erstere vertreten die Auffassung, dass es übertrieben sei, von einer niedrigen Wahlbeteiligung zu sprechen, da es sich für das Volk um eine neue Erfahrung handele (es ist das erste Mal, dass über konkrete Personen abgestimmt wurde, in einer Wahl mit zwei Wahlgängen). Das ist jedoch eine völlige Realitätsverweigerung, die in einem zweiten Wahlgang zu einem neuen, sicherlich rechtsgültigen, aber nicht legitimen Parlament führen würde. Die Opposition fordert dagegen den Rücktritt des Präsidenten und der Regierung sowie vorgezogene Parlaments- und Präsidentschaftswahlen gemäß dem alten Wahlmodell von vor der gegen großen Widerstand durchgesetzten .

Beide Alternativen, einfach weiter so oder Rücktritt des Präsidenten, erscheinen voreilig und undurchdacht. Schlimmer noch: Mit dem Zusammenbruch der Wirtschaft, verstärkt durch die Aufschiebung des IWF-Kredits – der Währungsfonds hat gerade angekündigt, dass der Kredit über 1,9 MilliardenUS-Dollar nicht auf der Tagesordnung seiner Gespräche im Dezember stehen wird, um Tunesien mehr Zeit zu geben, sich unter günstigeren Bedingungen zu präsentieren –, bergen beide Szenarien die Gefahr, dass das Land in ein bitteres Chaos stürzt. Die daraus resultierende Situation könnte der Griechenlands vor einigen Jahren oder dem des Libanon von heute ähneln.

Im Gegensatz zu Griechenland ist Tunesien jedoch nicht Teil einer starken politischen und wirtschaftlichen Union wie der EU. Weder die Nachbarländer Algerien und Libyen noch die Golfmonarchien sind bereit und in der Lage, Tunesien vor dem Bankrott zu retten. Wenn die politischen Akteure in Tunesien nicht zur Vernunft kommen, ist das libanesische Szenario daher realistischer.

Der tunesische Präsident sollte die Verantwortung für diese beispiellose politische Krise übernehmen.

Der tunesische Präsident sollte die Verantwortung für diese beispiellose politische Krise übernehmen. Erstens, indem er sich an das Volk wendet und dessen Ablehnung des am 25. Juli 2021 eingeleiteten Prozesses zur Kenntnis nimmt. Zweitens sollte er die verschiedenen „Kriegsparteien“ unter der Leitung der wichtigsten nationalen Organisationen wie des Gewerkschaftsbunds und des Unternehmerverbands, der Anwaltskammer und der Menschenrechtsliga zu Gesprächen aufrufen. Auf diese Weise könnte eine Übergangsregierung gebildet werden, um das allgemeine politische Klima zu verbessern, die laufenden Geschäfte des Landes zu führen und Parlaments- und Präsidentschaftswahlen nach vorher festzulegenden Standards und im Sinne der Verfassung von 2014 vorzubereiten und durchzuführen.

Tatsächlich ähnelt die aktuelle politische Krise in gewisser Weise jener von 2013, als das Klima sehr angespannt war und mit einer für das Land außergewöhnlichen Welle der Gewalt und zwei politischen Morden zu explodieren drohte. Damals hatten die beiden gegnerischen Lager – das säkulare und das islamistische – in ihrem Kopf-an-Kopf-Rennen die Menschen auf die Straße gebracht. Diese Zeiten scheinen gegenwärtig jedoch weit weg zu sein, wenn man bedenkt, dass heute nur noch Sportvereine und der Gewerkschaftsbund in der Lage sind, die Massen zu mobilisieren.

Es ist also an der Zeit, Bilanz zu ziehen und das Spiel zu beenden, um zu verhindern, dass Tunesien im Chaos versinkt. Daher ist es jetzt so unglaublich wichtig, die richtigen Lehren zu ziehen, um zu retten, was zu retten ist. Das Land kann keine weitere schwere Krise verkraften, deren Auswirkungen sich nicht mehr auf die nationale Ebene beschränken, sondern kurz- und mittelfristig die gesamte Region beeinflussen werden.

Aus dem Französischen von Maike Hopp