In Europa tobt ein Krieg, dessen Ende kaum absehbar ist. Die Beziehungen nicht nur zwischen Moskau und dem Westen, sondern auch zwischen dem aufstrebenden China und der angestammten Weltmacht in Washington eilen von Tiefpunkt zu Tiefpunkt. Nie zuvor seit Ende des Kalten Krieges war die globale Eskalationsgefahr größer als zuletzt. Eine Region aber, bislang trauriges Synonym für Krieg, Flucht und Gewalt, schert aus.
Im Nahen und Mittleren Osten stehen die Zeichen plötzlich ganz asynchron auf Entspannung. Da, wo vor kurzem noch Todfeinde einander gegenüberstanden, ist nun Pragmatismus eingekehrt. Versöhnung über Versöhnung feiern einst spinnefeinde Rivalen. Recep Erdoğan und Mohammed bin Salman, Ägyptens Präsident Sisi und der Emir von Katar, der türkische und der israelische Präsident, Abu Dhabi und Teheran – selbst dem Schlächter von Damaskus, den ein Jahrzehnt lang der Bannstrahl traf, werden die roten Teppiche wieder ausgerollt. Die jüngste Annäherung zwischen Iran und Saudi-Arabien, den beiden hegemonialen Gegenpolen, deren Feindschaft die Region in Atem gehalten hat, ist die Krönung dieses Prozesses. Es wäre, so sie denn gelingt, gleichzeitig Chinas weltpolitisches Meisterstück. Der endgültige Beweis, dass das Reich der Mitte global auf Augenhöhe mit Washington spielt.
Im Mittleren Osten steht dieses Rapprochement vor allem für die De-Ideologisierung in den Außenbeziehungen. Zwölf Jahre nach dem Ausbruch des Arabischen Frühlings ist Ruhe eingekehrt. Eine trügerische, eine Friedhofsruhe. Denn die Autokraten, die jetzt Frieden schließen, sind übriggeblieben. Die einstigen Herausforderer der bleiernen autokratischen Herrschaft – die jungen, liberalen, ehrgeizigen Demokraten genauso wie die düstere, aber nicht minder dynamische Kraft des politischen Islams – sind ausgelaugt. Nicht selten wurden ihre Protagonisten aus der Region vertrieben oder unterdrückt, sind in den Kerkern oder tot. In Tunesien wird das letzte bisschen Demokratie gerade beerdigt, auch die Regierung im (noch) demokratischen Israel sägt am Ast der Rechtsstaatlichkeit. Währenddessen zeigt das brutale Regime in Teheran, dass es mehr braucht als nur Straßenproteste, um eine Diktatur zu beseitigen.
Die harte Hand nach innen kontrastiert mit dem neugefundenen Pragmatismus nach außen.
Die harte Hand nach innen kontrastiert mit dem neugefundenen Pragmatismus nach außen. Die Zeiten der großen Hegemonievisionen sind vorbei. In erstaunlicher Gleichzeitigkeit schien diese Einsicht sowohl in Riad als auch Teheran zu reifen. Eine späte Genugtuung möglicherweise für Barack Obama, der den Streithähnen einst zurief: „Share the region!“ Dies wollte gerade der forsche Kronprinz aus Riad lange nicht wahrhaben. Eine blutige Nase im Jemen später gelangte aber auch er zur Einsicht, dass es keine realistische Option mehr ist, Iran „bis zum letzten amerikanischen Soldaten zu bekämpfen“ (so der ehemalige US-Verteidigungsminister Robert Gates).
So ist es womöglich gerade der Rückzug der Amerikaner, der die Entspannung im Mittleren Osten erst möglich machte. Der Iran wiederum ist eine Realität, die sich nicht wegwünschen lässt. Eine Macht an der Schwelle zur Atombombe, die man besser nicht zum Feind hat, gerade in Zeiten des zunehmenden Antagonismus mit dem Westen. Denn die amerikanischen Basen im Golf liegen unglücklicherweise unmittelbar in Irans Nachbarschaft, wo Teheran als Antwort auf mögliche israelisch-amerikanische Luftangriffe zurückschlagen könnte.
Aber auch für den Iran ist die Umarmung des ehemaligen Erzfeindes eine Einsicht in realpolitische Notwendigkeiten. Washingtons Politik des „maximalen Drucks“ hat dem Regime mehr zugesetzt, als es bereit ist, zuzugeben. Die beispiellos radikale jüngste Protestwelle war für die Machthaber auch deshalb so gefährlich, weil sie sich über die ohnehin regimefern gesinnten Bevölkerungsteile hinausbewegte. Die jahrelange ökonomische Sanktionsmisere hat die Unterstützung durch die traditionellen Trägerschichten erodiert. Die Islamische Republik braucht wirtschaftlich wieder Luft zum Atmen, will sie ihre hochrisikoreiche Außenpolitik fortsetzen. Der Frieden in der Region ist somit gerade die Voraussetzung, die Auseinandersetzung mit dem Westen auf globaler Ebene durchzuhalten.
Die globale Ebene ist auch die Arena, in die die Mächte der Region drängen. Längst nicht nur in Teheran gilt die multipolare Weltordnung als ideologisches Ziel sowie als Chance, den eigenen Einfluss und Wohlstand zu mehren. Während der Iran sich im immer enger werdenden Bündnis mit Russland Augenhöhe erkämpft hat, nachdem er jahrzehntelang nur Bittsteller war, weist er allianztechnisch zumindest Kontinuität auf: stabil anti-amerikanisch. Die eigentlich pro-westlichen Verbündeten dagegen, Ankara und Riad allen voran, navigieren mit geradezu atemberaubender Chuzpe durch die raue multipolare See. Es ist eine Balancepolitik auf höchstem Niveau, die dort zu beobachten ist.
Längst nicht nur in Teheran gilt die multipolare Weltordnung als ideologisches Ziel.
Das NATO-Staatsoberhaupt Erdoğan trifft Putin auf dessen erster Auslandsreise nach Kriegsausbruch – ausgerechnet in Teheran. Die saudische Regierung stimmt die Regulierung der Ölförderquoten im OPEC-plus-Kartell -eng wie nie- zuvor mit Moskau ab. Von einer Isolation Russlands ist im Mittleren Osten nichts zu merken. Geradezu töricht wäre es, wenn der Westen von den Machthabern erwarten würde, dass sie sich im Falle einer Konfrontation mit China ganz anders verhielten. Machtpolitisch lässt sich konstatieren, dass die Regierungen der großen Regionalstaaten fast allesamt, und jenseits der ökonomischen Kollateralschäden, die Teile ihrer Bevölkerungen zu erleiden haben, zu den einstweiligen Gewinnern der neuen Epoche gehören.
Friedhofsruhe nach innen, Aussöhnung mit den Rivalen und ein Streben in die globale Arena – dieser Dreiklang produziert vorerst noch kein stabiles Gleichgewicht. Doch unter der Oberfläche brodelt es. Keiner der den Arabischen Frühling einst begründenden Grundwidersprüche ist gelöst. Jenseits des im Geld schwimmenden Golfs ist es vor allem die sozioökonomische Perspektivlosigkeit, die vielerorts eine politische Konsolidierung gefährdet. Die iranische Revolte ist nur die jüngste, die vorerst unter dem Gewicht der Repression gebrochen wurde. Sie wird nicht die letzte sein.
Überdies bleibt der Iran das größte Risiko für den so zerbrechlichen wie oberflächlichen Frieden. Es sind gerade merkwürdig asynchrone Entwicklungen, die eine kaum zu durchbrechende Eskalationsdynamik begründen. Die innenpolitische Fragilität des Regimes kontrastiert mit dem großen außenpolitischen Selbstbewusstsein. Die Annäherung an die Rivalen in der Region mit einem immer stärkeren Antagonismus gegenüber dem Westen. Auch wenn beide Seiten einen ganz großen Konflikt vermeiden wollen, ist derzeit unklar, wie ein politischer Ausstieg aus der Eskalationsspirale noch gelingen kann. Wo wäre ein stabiler Landungspunkt, an dem sich ein neues Atomabkommen stabilisieren ließe? Ein Abkommen, das dafür sorgte, dass der de facto nukleare Schwellenstaat die letzte Schwelle nicht noch überschreitet. Zudem in einer Lage, in der Russland keine konstruktive Rolle mehr spielen möchte.
In Moskau wird derzeit alles dem Ziel untergeordnet, dem Westen zu schaden, auch um den Preis eigener Kollateralschäden. So wäre China möglicherweise die letzte Großmacht, die noch vermitteln könnte. Fast die Hälfte seiner Öl- und Gasbedarfe importiert Peking vom Golf. Ein Krieg in der Region würde das Land empfindlich treffen. Gegen das Lösen des persischen Nuklearknotens erscheint die saudisch-iranische Annäherung freilich wie ein Kinderspiel. Das bisschen Frieden im Nahen Osten mag somit nur ein kurzes Durchatmen sein. Die Ruhe vor dem Sturm.