Wenn die Iranerinnen und Iraner am 18. Juni den neuen Präsidenten ihres Landes wählen können, begleiten besondere Umstände den Urnengang. Noch nie wurden so viele Bewerber wie aktuell von einer Kandidatur ausgeschlossen. Der Weg zum Präsidentenamt scheint geebnet zu sein für den erzkonservativen Ebrahim Raissi. In der Vergangenheit gab es zwar immer wieder Überraschungen und die Favoriten des Establishments hatten mehrfach das Nachsehen. Doch dafür, dass es auch dieses Mal so kommt, spricht momentan nicht viel. Die Islamische Republik steht vor einer Zäsur.
Seine politische Agenda bestünde aus „Hinrichtungen und Gefängnis“ – mit dieser Breitseite attackierte der nun scheidende Präsident Hassan Rohani bei einem TV-Duell 2017 seinen damaligen Herausforderer Raissi im Rennen um die Präsidentschaft. Im Vergleich dazu fielen die diesjährigen Debatten im Staatsfernsehen mau aus. Sie boten kaum mehr als wechselseitige Schuldzuweisungen für Irans wirtschaftliche Misere. Ein Sinnbild für die veränderten Rahmenbedingungen der bevorstehenden Wahlen.
Raissi, der nun ein zweites Mal antritt, hat kaum Konkurrenz. Diesen Umstand verdankt der 61-Jährige dem Wächterrat, jenem Gremium, das in der Islamischen Republik über die Zulassung von Kandidaten bei Parlaments- und Präsidentschaftswahlen entscheidet.
Wie bereits in der Vergangenheit schloss der Rat – de facto unter der Kontrolle von Ali Chamenei, dem Obersten Führer und mächtigsten Mann im Staate – hunderte Bewerber aus. Doch dieses Mal wurde sogar Angehörigen des konservativen Establishments, wie dem langjährigen Parlamentspräsidenten Ali Laridschani, eine Kandidatur versagt. Aus den Reihen der Moderaten und Reformkräfte wurde kein einziger prominenter Vertreter zur Wahl zugelassen.
Aus den Reihen der Moderaten und Reformkräfte wurde kein einziger prominenter Vertreter zur Wahl zugelassen.
Diese weitreichende Beschränkung des politischen Wettbewerbs ist selbst für die Islamische Republik ein Novum. Zwar waren ihre Wahlen niemals frei und fair. Doch ließ die Obrigkeit der Bevölkerung bislang stets eine echte Wahl zwischen plausiblen Vertretern unterschiedlicher Flügel des Systems. Von den sechs Kandidaten, die neben Raissi nun bei der Wahl ins Rennen gehen, hat jedoch keiner das Format, den Wahlsieg von Chameneis Adlatus ernsthaft zu gefährden.
Das erzkonservative Establishment greift nach der totalen Macht. Im komplexen System der Islamischen Republik kontrolliert es ohnehin die wichtigsten Schaltstellen, die sich einer Legitimierung durch die Bevölkerung entziehen. Nun will es auch die gewählten Institutionen beherrschen. Bereits im Februar 2020 übernahmen die Hardliner das Parlament, begünstigt durch den Ausschluss tausender Moderater und Reformer. Würde Raissi jetzt Präsident werden, wären Letztere vollends marginalisiert.
Auf dem Spiel steht dabei auch die Nachfolge des 82-jährigen Chameneis als Oberster Führer – und damit nicht weniger als der künftige Charakter der Islamischen Republik. Noch vor wenigen Jahren, beflügelt durch den Abschluss des Atomabkommens 2015, forderten moderatere Politikerinnen und Politiker grundlegende Reformen. Der mittlerweile verstorbene Ex-Präsident Ali-Akbar Haschemi-Rafsandschani wollte 2016 das Amt gar abschaffen.
Nach der Aufkündigung des Nukleardeals durch die Trump-Administration 2018 wendete sich jedoch das Blatt. Die Hardliner erhielten Oberwasser und gehen seither aufs Ganze. Dabei orientieren sie sich an autokratischen Vorbildern wie Wladimir Putin oder Xi Jinping, die systematisch den politischen Wettbewerb in ihren Systemen beschränkt haben.
Das erzkonservative Establishment greift nach der totalen Macht.
Das Vorgehen und die Vision der Hardliner sorgen für heftige Kritik, auch innerhalb der islamisch-republikanischen Elite. Hassan Chomeini, Reformpolitiker und Enkel des Gründers der Islamischen Republik Ruhollah Chomeini, mahnte, „niemand habe das Recht, für uns zu bestimmen, wen wir wählen sollen“. Der mittlerweile bei der Staatsführung in Ungnade gefallene Ex-Präsident Mahmud Ahmadinedschad wähnt das Land nach der Entscheidung des Wächterrats „auf dem Weg zum Zusammenbruch“. Sogar aus den Reihen der Hardliner kommt Kritik auf. Der Chefredakteur von Tasnim, einem Nachrichtenportal der Revolutionsgarde, kritisierte ebenfalls die Entscheidung des Wächterrats – und bringt damit die Sorgen eher traditioneller Konservativer zum Ausdruck, die die Islamische Republik in ihrer bisherigen Form erhalten wollen.
Raissi selbst bietet ebenfalls nicht zu knapp Angriffsfläche. Er trägt nicht nur Verantwortung für die Exekution tausender politischer Gefangener 1988. Nachdem ihn Chamenei 2019 zum Chef der Justiz ernannte, war eine seiner ersten Amtshandlungen die, selbst nach den Maßstäben der Islamischen Republik, bislang blutigste Niederschlagung öffentlicher Proteste im November desselben Jahres. Zu beklagen sind hunderte Tote, noch immer tausende Inhaftierte und zahlreiche im Anschluss an die Proteste Hingerichtete. Seit Raissi die Geschicke der Justiz verantwortet, nahmen Folter und Isolationshaft in den Gefängnissen zu, politischen Gefangenen wird zunehmend medizinische Behandlung versagt und erstmals seit 20 Jahren wurde wieder ein Todesurteil wegen Alkoholkonsums vollstreckt.
Weite Teile der iranischen Bevölkerung zeigen sich angesichts dieser Gemengelage resigniert und wollen den Wahlen fernbleiben. Laut Meinungsumfragen iranischer Institute planen gerade einmal 41 Prozent der Wahlberechtigten, ihre Stimme abzugeben. Zum Vergleich: Bei den letzten drei Präsidentschaftswahlen lag die Wahlbeteiligung jeweils über 70 Prozent.
Speziell ehemalige Wählerinnen und Wähler der Moderaten und Reformer wollen nicht zur Wahl gehen. Dies liegt nicht allein an der Tatsache, dass der aussichtsreichste Kandidat ihres Lagers, Ex-Zentralbankgouverneur Abdolnaser Hemmati, ein vergleichsweise blasser Technokrat ohne eigene politische Machtbasis ist.
Auch Rohanis Bilanz nach acht Jahren im Amt trug zur Ernüchterung bei. Der scheidende Amtsinhaber, der 2013 die Regierung mit dem Versprechen eines Neuanfangs im Zeichen von „Besonnenheit und Hoffnung“ übernahm, hinterlässt eine multidimensionale Krise. Bemühungen um Reformen, etwa zur Stärkung von Bürgerrechten oder zur Einführung internationaler Normen in der Wirtschaft, missglückten. Sein Vorhaben, Korruption und Nepotismus Einhalt zu gebieten, scheiterte ebenfalls.
Auch Rohanis Bilanz nach acht Jahren im Amt trug zur Ernüchterung bei.
Die größte außenpolitische Errungenschaft seiner Präsidentschaft, das Atomabkommen aus dem Jahr 2015, wurde durch den Ausstieg der USA zunichtegemacht. Washingtons Sanktionen stürzten in der Folge die Wirtschaft in die schwerste Rezession seit dem Irak-Krieg in den 1980er Jahren. Die Corona-Pandemie, die das Land aktuell mit einer vierten Infektionswelle heimsucht, potenzierte diese Probleme schließlich.
Eine Folge: Immer mehr Iranerinnen und Iraner verarmten in den letzten Jahren. Die Mittelschicht, Wählerbasis der Moderaten und Reformer, schrumpfte. Von Armut und sozialem Abstieg betroffen ist aber zunehmend auch die Kernklientel der Konservativen: das vorrevolutionäre Lumpenproletariat, das durch die Islamische Republik einen sozialen Aufstieg ins Kleinbürgertum erfuhr, sich nunmehr aber der materiellen Früchte der Revolution beraubt sieht. Es waren Iranerinnen und Iraner dieses Milieus, die die Massenproteste der letzten Jahre getragen haben.
Auch mit Blick darauf stellte Raissi in seinem Wahlkampf bislang die Bekämpfung der Armut und die wirtschaftliche Entwicklung Irans in den Mittelpunkt. Ob er die vielfältigen ökonomischen und gesellschaftlichen Probleme Irans lösen kann, ist jedoch mehr als fraglich.
Während Raissi selbst noch nie ein Regierungsamt innehatte, dürften sich die meisten technokratischen Experten der Rohani-Regierung aus der Politik und Verwaltung zurückziehen respektive zurückgedrängt werden. Schwerer noch wiegt, dass aufgrund politischer und ökonomischer Perspektivlosigkeit hochqualifizierte Akademikerinnen und Akademiker vermutlich in noch größerer Zahl Iran den Rücken kehren dürften. Eine Zunahme des Brain-Drains, bereits jetzt eine der größten Bürden des postrevolutionären Irans, würde die Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft auf lange Sicht erheblich beeinträchtigen.
Von Armut und sozialem Abstieg betroffen ist aber zunehmend auch die Kernklientel der Konservativen.
Paradoxerweise ist es das Feld der Außenpolitik, auf dem eine Präsidentschaft Raissis nicht nur Kontinuität, sondern womöglich in sehr begrenztem Maße sogar Chancen böte. Denn die strategischen Grundlinien werden nicht allein von der Regierung bestimmt, sondern im Obersten Nationalen Sicherheitsrat ausgehandelt und schließlich vom Obersten Führer getragen. Von der grundsätzlichen Entscheidung etwa, Verhandlungen über eine Wiederbelebung des Atomabkommens zu führen, würde wohl auch ein Präsident Raissi nicht abrücken. Hierzu sagte Raissi jüngst, es sei die Pflicht einer jeden Regierung, auf die Aufhebung der „gewaltsamen Sanktionen“ hinzuwirken.
Bezeichnenderweise steht die treibende Kraft der iranischen Außenpolitik, die Revolutionsgarde, Raissi politisch nahe. Unter einem Präsidenten Raissi würde Irans Außenpolitik, anders als in den zurückliegenden acht Jahren, vermutlich stärker aus einem Guss sein. Konkurrierende Politikansätze von Außenministerium und Revolutionsgarde, die zwischenzeitlich öffentlich zur Schau gestellt wurden, dürften dann der Vergangenheit angehören. Dies böte die Gelegenheit, endlich direkt mit jenen Kräften in Teheran in Verhandlungen zu treten, die tatsächlich Entscheidungen von Tragweite treffen können – so wie dies beispielsweise Saudi-Arabien seit einigen Monaten macht.
Ob es am Ende so kommt und Raissi tatsächlich Präsident wird, bleibt abzuwarten. Nicht wenige Iranerinnen und Iraner könnten im letzten Moment doch noch geneigt sein, zur Wahl zu gehen, um mit einer Stimme für den moderateren Hemmati die Pläne der Staatsführung zu durchkreuzen. Nichtsdestotrotz: Die Vorgänge rund um die bevorstehende Wahl markieren eine Zäsur. Iran steht an einem Wendepunkt.