Als Israelin bin ich von den am 7. Oktober verübten Gräueltaten der Hamas unmittelbar betroffen. Dieser schwärzeste Tag in Israels Geschichte hat nicht nur mein Analysevermögen getrübt, sondern vor allem meine Hoffnungskraft. Ich teile mit vielen liberalen Israelis das Gefühl, dass mein lebenslanges Wirken für Frieden und Demokratie ebenso in Trümmern liegt wie die niedergebrannten Kibbuzim.
Wenn ich mich an ein internationales Publikum wende, könnte ich es mir einfach machen und als Stimme der Mäßigung und Vernunft auftreten. Ich könnte einmal mehr meine Vision einer Zweistaatenlösung vortragen, der ich anhänge, seit ich in den 1970er Jahren als Teenager gegen die ersten israelischen Siedlungen im Westjordanland demonstriert habe. Ich könnte die Hoffnung äußern, dass Israel und Palästina sich aus der Asche des nordwestlichen Negev und des Gazastreifens erheben und auf einen territorialen Kompromiss verständigen, Frieden schließen und ihre jeweilige Bevölkerung entradikalisieren werden.
Träume zu äußern und Horizonte zu skizzieren, kann nicht schaden. Aber ich muss auch klar und deutlich benennen, welche Stimmung unter den Israelis in meinem Milieu vorherrscht – sowie unter denjenigen, die nicht diesem Milieu angehören. Ich muss mich in die Lage der gemäßigten Palästinenserinnen und Palästinenser hineindenken und davon ausgehen, dass viele von ihnen im Interesse der eigenen Sicherheit lieber schweigen.
Eines kann ich jedoch nicht: Ich kann mich nicht in Palästinenser und Pro-Palästinenser hineindenken, die hoffen, mich umbringen oder vertreiben und mein Land vernichten zu können. Aus Sicht meines verstorbenen Vaters sah der einzige dauerhafte Kompromiss mit der Hamas so aus: Israel existiert immer nur montags, mittwochs und freitags und an den anderen Wochentagen nicht. Der gleiche Ansatz gilt für alle Hamas-Anhänger (in ihrer eigenen Diktion: alle „Pro-Palästinenser“), die Israel als unrechtmäßiges Kolonialprojekt betrachten. Mit ihnen kann ich über politische und historische Fakten debattieren, aber mit jemandem, der einen tot sehen will, kann man nicht versuchen, Frieden zu schließen. Deshalb erhebe ich meine Stimme ausschließlich für diejenigen, deren Ziel ein unabhängiges Palästina und ein sicheres und demokratisches Israel ist, die nebeneinander existieren.
Ich kann mich nicht in Palästinenser und Pro-Palästinenser hineindenken, die hoffen, mich umbringen oder vertreiben und mein Land vernichten zu können.
Die Autoren eines auf dieser Website veröffentlichten Meinungsbeitrags haben der deutschen Regierung vorgeworfen, sie unterstütze allein aus der historischen Verpflichtung der Bundesrepublik gegenüber den Juden heraus ein verbrecherisches und 100-prozentig schuldiges Israel. Berlin wird vorgeworfen, die derzeitige Politik werde von einem außer Rand und Band geratenen Post-Holocaust-Autopiloten gesteuert. In dem Artikel kommt das Wort „Hamas“ nur einmal und die Oktober-Katastrophe zweimal vor – und zwar beiläufig als „die Geschehnisse des 7. Oktober“. Es wird die weit verbreitete Forderung wiederholt, den Krieg zu stoppen, aber das Schicksal der israelischen Geiseln wird nicht erwähnt. Ebenso wie viele, die „Free Palestine“-Flaggen schwenken, akzeptiert dieser Artikel, dass die Hamas weiter über Gaza herrscht. Der Beitrag kritisiert, dass Deutschland die Bemühungen blockiere, die Lieferung von Waffen an Israel einzustellen – unabhängig davon, ob diese Waffen für die Selbstverteidigung gedacht sind; vermutlich als erster Schritt auf dem Weg zur kompletten Lossagung von Israel.
Ich sage in aller Deutlichkeit: Die Bundesrepublik Deutschland sollte über scharfe und entschiedene Sanktionen gegen Netanjahus Koalitionsregierung nachdenken, die ihr Recht, zu regieren, verwirkt hat. Diese Meinung teile ich mit 70 Prozent der israelischen Bevölkerung. Nicht wegen des maßlosen Leids, das diese Regierung Gaza zufügt – und das viele rechtschaffene Menschen in Israel nach wie vor nicht sehen können, weil sie selbst unter Schock stehen und traumatisiert sind –, sondern wegen der Verbrechen, die sie an ihrer eigenen Zivilbevölkerung verübt hat. Während die Welt auf die Kriegsverbrechen der israelischen Armee in Gaza schaut, sehen viele Israelis in dem Einsatz einen schrecklichen, aber absolut notwendigen Versuch, die Hamas zu zerstören. Manche von uns – auch ich – haben unsere Meinung geändert, als der Krieg sich in die Länge zu ziehen begann und die Zahl der zivilen Opfer in Gaza stieg. Entgegen unserer Erwartung gab es keine Neuauflage des Geisel-Deals im November und der humanitären Feuerpause. Im Inland haben Netanjahu und seine Minister die Familien, die Opfer zu beklagen haben oder um Geiseln bangen, beharrlich ignoriert (mit Ausnahme der wenigen, die zu Netanjahus politischer Basis gehören). Die Polizei, die sich unter Sicherheitsminister Ben Gvir radikalisiert hat, ging wiederum dazu über, bei Demonstrationen auf sie einzuschlagen.
Dass die Hamas das Leben sowohl israelischer wie auch palästinensischer Zivilistinnen und Zivilisten zerstört hat, ist offensichtlich. Allerdings fügt auch Israels Regierung beiden Gruppen Schaden zu – nicht auf so barbarische Weise wie die Hamas, sondern auf ihre eigene politisch-machiavellistische Weise. Natürlich stehen Netanjahu und Hamas-Führer Sinwar moralisch nicht auf einer Stufe, aber beide sperren sich gegen eine Beendigung des Krieges, weil beide ihre jeweiligen Eigeninteressen verfolgen und für das Leid ihres eigenen Volkes und erst recht für das Leid anderer blind sind. Für die Hamas war das von Anfang an Programm. Netanjahu verfolgt diese Politik, seit er 2020 wegen Korruption angeklagt wurde. Eine prominente Rolle spielt dabei seine gut geölte Inlandspropaganda-Maschinerie, die verhindert, dass in Israels Medien und Öffentlichkeit das Leid in Gaza diskutiert wird. Nur sehr wenige israelische Medien zeigen ihren Lesern bzw. Zuschauern das verheerende Leid, das unschuldigen Menschen auf der anderen Seite zugefügt wird.
Der Zivilgesellschaft kann man dadurch helfen, dass man sich dem akademischen Boykott gegen israelische Universitäten und Studierende widersetzt.
Wie können die Freunde, die Israel noch bleiben, sich auf „die Zeit danach“ vorbereiten? Die vordringlichste Aufgabe ist, die gemäßigten Israelis und Palästinenser zu stärken. Die israelische Zivilgesellschaft, zu der jüdische und palästinensische Bürgerinnen und Bürger Israels gehören, hat im vergangenen Jahr große Widerstandskraft bewiesen, als sie sich gegen die demokratiefeindlichen Gesetze der Regierung stellte. Sie unterstützt einen Waffenstillstand, einen Geisel-Deal und eine politisch ausgehandelte Friedensperspektive für die Region. Der Zivilgesellschaft kann man zum Beispiel dadurch helfen, dass man sich dem akademischen Boykott gegen israelische Universitäten und Studierende widersetzt, dass man deutsche Straßen sowohl für Juden als auch für Israelis zu sicheren Orten macht und – auch das gehört dazu – Extremisten bestraft und abschiebt, die zur Vernichtung Israels und zur Tötung von Israelis aufrufen.
Laut aktuellen Meinungsumfragen, die Hochschulteams in Israel durchgeführt haben, wären über 50 Prozent der Israelis mit einer Zweistaatenlösung einverstanden, wenn das zukünftige Palästina entmilitarisiert und die ganze Region unter internationalen Schutz gestellt würde. Es mag sein, dass die bei dieser Umfrage gestellte Frage von einer allzu optimistischen Zukunft ausgeht, die eine israelische und palästinensische Führung voraussetzt, die nach wie vor schmerzlich fehlt. Trotzdem sind die Ergebnisse einigermaßen ermutigend. Wenn verlässliche Vorsichtsmaßnahmen getroffen würden, gäbe es einen Horizont für die Koexistenz Israels und Palästinas – zumindest auf israelischer Seite. Werden die Palästinenser mitziehen? Unter den palästinensischen Bürgerinnen und Bürgern Israels gibt es dafür eine breite Unterstützung. Sogar in Gaza gibt es Anzeichen für eine wachsende Akzeptanz der Zweistaatenlösung. Im Westjordanland ist das jedoch weit weniger der Fall.
Das Schlimmste von allem ist allerdings die globale „progressive“ Bewegung, die darauf drängt, Israel endgültig (und, wie es in den sozialen Medien vielfach heißt, „auf ewig“) zu delegitimieren. Man braucht einen Demonstranten, der „Free Palestine“ ruft, nur nach seiner Meinung zur Zweistaatenlösung zu fragen und kann an der Antwort eindeutig ablesen, ob der Betreffende für Frieden ist oder nicht. Diese einfache Frage zeigt die rote Linie zwischen Extremismus auf der einen Seite und einer konstruktiven Orientierung Richtung Zukunft auf der anderen.
Der eigentliche Riss, der den Nahen Osten und den Rest der Welt gefährdet, verläuft nämlich nicht zwischen rechts und links, westlich und nicht-westlich oder Juden und Arabern, sondern zwischen Gemäßigten und Extremisten. Betrachtet man die Ergebnisse der jüngsten Europawahl unter diesem Gesichtspunkt, so zeigt sich: Links- und Rechtsextremismus nähren sich gegenseitig und treiben die Fieberkurve in die Höhe, während die meisten gemäßigten Wählerinnen und Wähler untätig zu Hause geblieben sind, als würden wir in den 1920er Jahren leben. Wenn die Vernünftigen politisch träge sind, tun sie den Fanatikern den größtmöglichen Gefallen.
Wenn die Vernünftigen politisch träge sind, tun sie den Fanatikern den größtmöglichen Gefallen.
Israel hat diesen globalen Vormarsch des Extremismus eingeläutet (in unserem Fall ist er fast vollständig nationalistisch und/oder religiös geprägt). Netanjahu kam 20 Jahre vor Donald Trump an die Macht. Wir, die israelischen Friedensbefürworter, waren in den 28 Jahren, in denen fast durchgehend Netanjahu regierte, viel zu verschlafen. Man kann es nicht deutlich genug betonen: Netanjahu hat die Hamas stark gemacht, um die Palästinensische Befreiungsorganisation PLO und jeden anderen potenziellen palästinensischen Friedenspartner zu Fall zu bringen. Damit hat er den zunehmenden Fanatismus der Extremisten im eigenen Land befeuert und seine eigene politische Basis radikalisiert. Der jüdische River to the Sea-Fanatismus hat dem palästinensischen River to the Sea-Fanatismus nur zu gern Hilfestellung geleistet – in dem irrigen Glauben, an einem Krieg zwischen Gog und Magog führe kein Weg vorbei und dieser Krieg werde mit dem totalen, gottgewollten Sieg Israels enden.
Dabei wurde eines vergessen: Nach einem solchen Sieg wäre Israel nicht länger Israel. Ein kleineres Israel neben einem unabhängigen Palästina hingegen – abgesichert durch Entmilitarisierung und internationale Garantien – wird Israel näher an seine ursprüngliche Zweckbestimmung heranführen. Denn gedacht war es als ein liberaler, demokratischer Staat für die Juden, der seinen nicht-jüdischen Bürgerinnen und Bürgern die gleichen Bürgerrechte garantiert und Frieden mit seinen Nachbarn anstrebt, wo immer dies möglich ist.
Ich trage eine Mitverantwortung für diesen großen Fehler der Gemäßigten. Deshalb appelliere ich eindringlich an alle moderaten Kräfte, auf die Straße zu gehen – und fordere die gemäßigten westlichen Regierungen auf, zu helfen, Netanjahus Herrschaft mit demokratischen Mitteln zu beenden. Nachdem Benny Gantz jetzt aus der Regierung ausgestiegen ist, ist Netanjahus letztes moralisches Alibi dahin. Er muss mitsamt seinen Kumpanen entmachtet werden – nicht nur wegen des brutalen und zwecklosen Krieges gegen Gaza, sondern auch wegen seiner Todsünden gegen die eigenen Bürgerinnen und Bürger. Er hat mit Hilfe seines abscheulichen Propagandaimperiums die israelische Gesellschaft gespalten, einen hinterhältigen Anschlag auf Israels Demokratie und Gewaltenteilung verübt, unsere Sicherheit extrem vernachlässigt und Israels Wirtschaft und internationales Ansehen zerstört.
„Die Zeit danach“ wird nicht so aussehen, dass wir gleich am nächsten Morgen mit einer Zweistaatenlösung aufwachen. Dafür braucht es zuallererst einen Führungswechsel sowohl in Israel als auch in den palästinensischen Gebieten. Die neuen Führungsfiguren sollten vernünftige Männer und Frauen sein, die klug genug sind, um einen territorialen Kompromiss auszuhandeln, und charismatisch genug, um ihren Anhängern neue Hoffnung einzuflößen und ihre Vernunft zu reaktivieren.
„Ich bin weder für Israel noch für Palästina“, pflegte mein Vater zu sagen. „Ich bin für Frieden.“ Doch solange die Gemäßigten schwach bleiben, wird es einen Frieden der Gemäßigten nicht geben.
Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld