Nach fast zwei Jahren Pandemie sind ihre globalen wirtschaftlichen Folgeschäden noch immer nicht vollständig zu erfassen. Eines ist jedoch klar: Die wirtschafts- und finanzpolitischen Möglichkeiten, den negativen Folgen der Pandemie etwas entgegenzusetzen, sind weltweit höchst ungleich verteilt. Während die Länder der G20 bereits 2020 gigantische 24 Prozent ihrer Bruttoinlandsprodukte für die Unterstützung ihrer Wirtschaften mobilisieren konnten, haben die meisten Länder im Globalen Süden nicht einmal annähernd solche finanziellen Möglichkeiten. Insbesondere für viele Länder mit unterem und mittlerem Einkommen gibt es kaum einen staatlich gestaltbaren Ausweg aus der Krise.
Tunesien, ein typisches Land mit mittlerem Einkommen, das über viele Jahre die Reformvorstellungen der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds (IWF) umgesetzt hat, erlebte 2020 den größten Wirtschaftseinbruch seit der Unabhängigkeit. Die öffentliche Verschuldung stieg in nur einem Jahr um 18 Prozentpunkte auf knapp 90 Prozent der Wirtschaftsleistung. Während in anderen Ländern nun die wirtschaftliche Erholung Einzug hält, sind die Aussichten für Tunesien unklar. Dies hängt auch mit der politischen Krise und der Schuldensituation zusammen. Im Juni 2021 stoppte der tunesische Präsident Kais Said die Arbeit des Parlaments und übernahm dessen Kompetenzen. Die Grundrechte der Tunesier werden zwar mehrheitlich respektiert, doch auch vier Monate nach der Machtübernahme ist unsicher, wie es langfristig weitergehen soll.
Die wirtschafts- und finanzpolitischen Möglichkeiten, den negativen Folgen der Pandemie etwas entgegenzusetzen, sind weltweit höchst ungleich verteilt.
Bereits vor der Verschlechterung der politischen Lage hielt der IWF es für wahrscheinlich, dass die Verschuldung Tunesiens mittelfristig weiterhin untragbar ansteigt. Um sie auf ein tragfähiges Niveau zu senken, empfahl er schon im Februar 2021 Sparmaßnahmen, darunter die Kürzung der Ausgaben für Gehälter im öffentlichen Dienst, die Abschaffung von Energiesubventionen sowie die gezielte Konzentration von Sozialausgaben auf die ärmsten Bevölkerungsschichten. Aber diese Maßnahmen würden die ohnehin schon schrumpfende Mittelschicht weiter belasten. Eine rasche Abkehr von der lockeren Fiskalpolitik würde zudem die wirtschaftliche Erholung nach der Pandemie gefährden.
Alternativ könnte die hohe Schuldenquote auch durch die Anpassung des Schuldenstands oder des Schuldendiensts erreicht werden. Dies würde bedeuten, die Gläubiger durch Forderungsverzicht an der Wiederherstellung der Schuldentragfähigkeit Tunesiens zu beteiligen. Tatsächlich standen Schuldenerleichterungen als Instrument zur Bekämpfung der Pandemiefolgen 2020 hoch auf der politischen Agenda: Der IWF bot 29 einkommensschwachen Ländern einen Schuldendiensterlass an. Die G20 einigten sich im April 2020 auf die kurzfristige Aussetzung des Schuldendienstes für 73 dieser Länder, wenige Monate später schufen sie ein Umschuldungsrahmenwerk – das G20 Common Framework.
Doch für Länder mit mittlerem Einkommensniveau gab es diese Möglichkeiten nicht. Der Zugang zu den Initiativen wurde nicht nach tatsächlichem Entlastungsbedarf geregelt, sondern nach dem Pro-Kopf-Einkommen in den Ländern. Nur die nach Kategorien der Weltbank als arm geltenden Länder hatten Zugang. Als Land mit mittlerem Pro-Kopf-Einkommen war Tunesien trotz seines Schuldenproblems nicht qualifiziert. Umschuldungen und Teilerlasse sind daher auch nicht Teil der Empfehlungen des IWF zur Reduktion der tunesischen Schuldenlast. Im Gegenteil: Durch die Sparmaßnahmen, die der IWF dem Land empfiehlt, soll zwischen 2021 und 2025 das Schuldendienstniveau in voller Höhe aufrechterhalten werden.
Länder mit mittlerem Einkommen, die von einer Schuldenkrise bedroht sind, stehen vor einem Dilemma.
Tunesien ist kein Einzelfall. Länder mit mittlerem Einkommen, die von einer Schuldenkrise bedroht sind, stehen vor dem Dilemma, entweder weitere Schulden aufzunehmen und damit die Schuldenkrise zu vertiefen oder sich für fiskalische Austerität zu entscheiden und damit ihre wirtschaftliche Entwicklung zu gefährden. Aufgrund ihrer bereits kritischen Schuldensituation haben viele dieser Länder ohnehin nur geringen Spielraum für die weitere Kreditaufnahme. Schon 2021 mussten 85 Länder im Globalen Süden Ausgaben kürzen. Bis 2023 steigt diese Zahl voraussichtlich auf 115 Länder an. Dabei waren in vielen Ländern öffentliche Gesundheits- und Sozialausgaben bereits vor der Corona-Pandemie auf einem gefährlich niedrigen Niveau.
Länder, die von den Entschuldungsinitiativen der G20 und des IWF ausgeschlossen sind, können außerhalb des G20-Rahmens ihre Gläubiger um Schuldenerleichterungen ersuchen. Doch private Gläubiger und ihre Institutionen nutzten im Kontext der Pandemie erfolgreich das Argument, Entschuldung sei nicht im Interesse der Schuldnerländer: Immer wieder wurden Banker und Fondsmanager mit der Aussage zitiert, dass Schuldenerleichterungen die künftige Kreditaufnahme verteuern könnten. Dagegen, so die Banker, könnten durch die Beibehaltung des pünktlichen Schuldendienstes auch in der Krise stabile Finanzbeziehungen mit privaten Kreditgebern aufrechterhalten bleiben.
Das Bedrohungsszenario wirkte: Im April 2021 zerstreute der tunesische Zentralbankgouverneur öffentlich das Gerücht, dass Tunesien Umschuldungsverhandlungen anstreben könnte. Kurze Zeit später bediente das Land pünktlich seine Anleiheschulden in Höhe von 1 Milliarde US-Dollar, mit dem Ergebnis, dass seine Währungsreserven auf ein gefährlich niedriges Niveau sanken. Dabei ist das Argument, die Inanspruchnahme von Schuldenerleichterungen führe zum Ausschluss vom Kapitalmarkt, empirisch nicht haltbar. So oder so brachte der brave Gehorsam Ländern mit mittleren Einkommen im unteren Bereich (lower middle income countries) nicht die versprochene Unterstützung: Tatsächlich zahlte diese Ländergruppe mehr an Zins- und Tilgungszahlungen an private Gläubiger im Ausland zurück als sie im gleichen Zeitraum von diesen an neuen Krediten zur Verfügung gestellt bekamen.
Bis heute wurden die vom IWF und den G20 geschaffenen Initiativen nicht auf alle Länder mit Entlastungsbedarf ausgeweitet. Im Gegenteil, trotz der Rhetorik des IWF bezüglich der ernsten Gefahr einer „großen Spaltung“ zwischen reicheren Ländern und den meisten Entwicklungsländern lässt die internationale Gemeinschaft überschuldungsgefährdete Länder mit mittlerem Einkommen einfach im Stich. Diese haben wenig Spielraum, in den Aufschwung zu investieren, und können daher nicht mit einer schnellen wirtschaftlichen Erholung rechnen.
Die internationale Gemeinschaft lässt überschuldungsgefährdete Länder mit mittlerem Einkommen im Stich.
Tunesien war bisher aus Sicht der Gläubiger ein „guter Schuldner“, der seine Schulden stets pünktlich zurückzahlte. Dies ist jedoch in der aktuellen Krise nur möglich, wenn den Rechten der Gläubiger Vorrang vor den wirtschaftlichen und sozialen Rechten der tunesischen Bürger eingeräumt wird. Bereits vor der Krise war in manchen Regionen Tunesiens die Gesundheitsversorgung nicht mehr gewährleistet.
Die Restrukturierung nicht tragfähiger Schulden kann ein wirksames Mittel sein, um die Schuldenquote zu stabilisieren und fiskalischen Spielraum zu schaffen, ohne die Bevölkerung des Schuldners übermäßig zu belasten. Gerade im Kontext einer so folgenreichen globalen Krise wäre es geboten, die Last der Anpassung gleichmäßig auf Schuldner und Gläubiger zu verteilen. In dieser Situation ist das größte Risiko einer Schuldenkrise nicht, dass Zahlungen an die Gläubiger ausfallen, sondern dass Länder durch die Kosten für den Schuldendienst in ihrer Entwicklung erstickt werden und z.B. wichtige Investitionen zur Bekämpfung von Armut und Klimawandel ausbleiben.
Oberstes Gebot muss daher sein, die gesundheitliche, wirtschaftliche und soziale Lage in den betroffenen Ländern so schnell und umfassend wie irgend möglich zu stabilisieren und nachhaltige Investitionen in Klimaschutzmaßnahmen und die Erreichung der Ziele für Nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen (SDGs) zu ermöglichen. Die Sicherung der kurzfristigen Einnahmeerwartungen einzelner Gläubiger ist demgegenüber nachrangig. Im Hinblick auf die notwendigen Weichenstellungen zur Erreichung der Klima- und Nachhaltigkeitsziele wäre alles andere ein erheblicher Verlust – nicht nur für die Länder selbst, sondern für die gesamte Welt.
Angesichts der fehlenden Initiative vonseiten der G20 sind die Regierungen von kritisch verschuldeten Entwicklungs- und Schwellenländern gezwungen, für ihre Interessen stärker selbst einzutreten. Einzelne Länder wie Pakistan oder Jamaika, oder ganze Ländergruppen wie die Allianz der Kleinen Inselstaaten (AOSIS), machten Vorschläge, welche Reformen nötig sind, um aus der Schuldenkrise zu kommen. Es gilt, diese Eigeninitiativen sicht- und hörbar zu machen, damit Schuldnerländer in Zukunft bei der Lösungsfindung nicht ausgeschlossen werden.
Die Welt kann sich ein Jahrzehnt Überschuldungskrise schlicht nicht leisten.
Tunesien, das seit dem Umbruch von 2011 das „bedeutendste Zielland der Transformationspartnerschaft der Bundesregierung mit der arabischen Welt“ ist, sollte stärkere politische und diplomatische Unterstützung aus Deutschland erfahren. Wichtige Aspekte der Außenpolitik der Ampel-Koalition, von grünem Wasserstoff bis zu Migration und einer werte-basierten Außenpolitik, haben ihren Dreh- und Angelpunkt in Nordafrika.
Zudem hat die künftige Bundesregierung die politische Grundlage dafür geschaffen, nachhaltige Lösungen für die Schuldenkrise umzusetzen, nicht nur in armen Ländern. Der am 24. November vorgestellte Koalitionsvertrag enthält eine Vereinbarung zur Schaffung eines Staateninsolvenzverfahrens. Bereits die Koalitionsverträge von 2002 (rot/grün) und 2009 (schwarz/gelb) enthielten allerdings ähnliche Formulierungen, ohne dass die Vereinbarungen je umgesetzt wurden. Die neue Regierung muss dieses Mal den guten Worten im Koalitionsvertrag Taten folgen lassen. Die deutsche G7-Präsidentschaft 2022 wäre ein guter Startpunkt. Die Welt kann sich ein Jahrzehnt Überschuldungskrise schlicht nicht leisten.