Dieses Mal konnte Raketenbeschuss der Bagdader Green Zone das Abhalten der Parlamentssitzung nicht stoppen: Gut ein Jahr nach den Parlamentswahlen vom 10. Oktober 2021 endete vergangenen Donnerstag mit der Wahl des kurdischen Politikers Abdul Latif Rashid zum Präsidenten die politische Blockade im Irak. Am Montag wurde er vereidigt, die Bildung einer Regierung unter dem Schiiten Mohammed Shia al-Sudani als Premier ist nur noch Formsache. Das Dreigestirn des Muhasasa-Systems, des ethnisch-religiösen Quotensystems, ist damit komplett – Sunnit Mohammed Al-Halbousi bleibt Parlamentssprecher, der Kurde Abdul Latif Rashid ist Iraks neuer Präsident und der Schiit Mohammed Shia al-Sudani führt die Regierung als Premierminister an.

Einer geht leer aus: Der schiitische Geistliche und Unruhestifter Muqtada al-Sadr hat zu hoch gepokert. Dabei hatte seine Bewegung als Gewinner der Parlamentswahl mit Abstand die besten Karten. Mit dem Niederlegen der Abgeordnetenmandate seiner Bewegung hat er sich selbst aus dem innerparlamentarischen Geschehen katapultiert und das Spielfeld dem ihm feindlich gegenüberstehenden schiitischen Koordinationsrahmen überlassen. Zwar hat er versucht, seine Macht durch die Stürmung der Green Zone und durch Parlaments-Sit-ins auszuspielen, doch es scheint, als habe er keine Trümpfe mehr im Ärmel. Die derzeitige, für ihn ungewohnte, Zurückhaltung ist wohl Ausdruck seines eigenen Eingeständnisses, auf die falsche Strategie gesetzt zu haben. Wer al-Sadr kennt, weiß allerdings, dass er sich ungern an den Spielfeldrand drängen lässt und dass ohne ihn weder politischer noch sozialer Frieden geschlossen werden kann. Es ist davon auszugehen, dass er hinter der Bühne die Strippen für den Misserfolg der neuen Regierung ziehen und sich bereits für Neuwahlen in Stellung bringen wird.

Der schiitische Geistliche und Unruhestifter Muqtada al-Sadr hat zu hoch gepokert.

Internationale Player wie die United Nations Assistance Mission for Iraq (UNAMI) atmen auf – ihrer Ansicht nach ist der Weg nun frei, dass sich der Irak nach über einem Jahr Selbstbeschäftigung wieder den wirklichen Problemen des Landes zuwendet: Wirtschaftskrise, Klimakrise, Korruption. Die Gefahr einer weiteren Destabilisierung und damit einhergehender Flüchtlingsbewegungen scheint erst einmal abgewandt. Doch wird die neue Regierung tatsächlich Antworten auf Iraks große Herausforderungen finden und gesellschaftlichen Frieden herstellen können?

Egal wie ambitioniert die neue irakische Regierung in ihren Anstrengungen sein mag, bereits heute steht fest, dass dem Irak in kürzester Zeit die nächste Eskalation bevorsteht, wenn sich das System nicht grundsätzlich ändert. Die immanente Dysfunktionalität des irakischen politischen Systems reproduziert sich und generiert fortlaufend soziale Ungleichheiten, die sich im Laufe der Zeit potenzieren. Der politische Klientelismus begünstigt immer wieder dieselben Kreise und erzeugt damit Unzufriedenheit bei jenen, die davon ausgeschlossen und strukturell benachteiligt werden. Mit deren Frust steigt auch die Gefahr gewalttätiger Auseinandersetzungen, die den Irak seit vielen Jahren regelmäßig erschüttern. Doch politische, wirtschaftliche und militärische Macht (in Form von Milizen) liegen gebündelt in denselben Händen und auf Aufstände wird mit gewaltsamer Repression reagiert.

Wenn sich das System nicht grundsätzlich ändert, steht dem Irak in kürzester Zeit die nächste Eskalation bevor.

Das Spielfeld der neuen irakische Regierung ist damit klar abgesteckt: Reformen sind nur insofern möglich, als die bestehenden Machtverhältnisse beibehalten werden. Diese politische Kultur gepaart mit der dominierenden Rentenökonomie, dem aufgeblähten öffentlichen Sektor und allgegenwärtiger Korruption lässt jede Art von Wandel illusionär erscheinen. Ein fatales Signal an ein krisengebeuteltes Land, das trotz wachsender Öleinnahmen nicht einmal für die Grundversorgung der stark wachsenden Bevölkerung aufkommen kann.

Wie könnte ein friedlicher Weg für einen transformativen Wandel aussehen? Voraussetzung hierfür wäre zuallererst ein Eingeständnis der Regierung und politischen Elite über die Dysfunktionalität des politischen Systems. Weiter erfordert es den Willen, sich tatsächlich in den Dienst des Volkes zu stellen und in Selbstlosigkeit zu üben. Mit dem Verständnis als Übergangsregierung könnten die notwendigen Schritte zu einem politischen System eingeleitet werden, die den Irak nicht nur auf dem Papier zu einer Demokratie machen.

Die Iraker haben nicht das Gefühl, dass Wahlen ein Sprachrohr für ihre Stimme oder ein Hebel für Veränderungen sind.

Hierzu gehört das Führen eines breiten nationalen Dialogs. Dieser könnte zum einen das stark erschütterte Vertrauen der Bevölkerung in die Demokratie zurückbringen. Seit den ersten irakischen Parlamentswahlen nach der US-Invasion in 2005 ist die Wahlbeteiligung kontinuierlich gesunken, 2021 fiel sie auf ein Rekordtief von 43,5 Prozent. Die Iraker haben nicht das Gefühl, dass Wahlen ein Sprachrohr für ihre Stimme oder ein Hebel für Veränderungen sind. Kein Wunder, da in den letzten Jahren weder politische Stabilität bestand, noch tatsächliche Reformen eingeleitet wurden. Anstatt den Wählerwillen in Regierungshandeln zu übersetzen, haben politische Parteien nur um ihren Einfluss und den Machterhalt gekämpft. Zum anderen könnte ein nationaler Dialog dazu beitragen, die tiefen Gräben zwischen verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppierungen im Irak zu schließen. Gerade nach dem Machtkampf zwischen den Anhängern al-Sadrs und des Koordinationsrahmens gilt es auch innerhalb der irakischen Schia die Wogen zu glätten. Das Ausspielen und das Aufhetzen der verschiedenen Gruppen durch eigennützige Eliten standen der Bildung einer irakischen Identität bisher massiv im Weg. Dies entspricht im Kern den Forderungen der Oktoberbewegung von 2019 (Tishreen), das konfessionell dominierte System abzuschaffen und einen vereinten souveränen irakischen Staat zu fördern.

Letztendlich gelingt ein nachhaltiger politischer und sozialer Frieden nur, wenn die Waffen fallen gelassen werden. Solange vor allem pro-iranische, schiitische Milizen als verlängerter Arm politischer Parteien fungieren und unter anderem Demokratieaktivisten bedrohen, steht dies einer gesunden Demokratie diametral entgegen. Diese zu fördern, ist die größte innerirakische Herausforderung der nächsten Zeit, bei der die internationale Gemeinschaft unterstützen sollte, um einen tiefgreifenden und nachhaltigen Wandel einzuleiten und sich für immer aus den klientelistischen Netzen zu befreien.