Nach mehr als zwölf Jahren Zwangsausschluss hat die Arabische Liga am 7. Mai beschlossen, das syrische Regime wieder in ihren Reihen aufzunehmen. Knapp zwei Wochen später wurde Baschar al-Assad im saudi-arabischen Dschidda vom Kronprinzen und Premierminister des Königreichs Saudi-Arabien, Mohammed bin Salman, auf dem Gipfeltreffen der Staaten der Arabischen Liga empfangen.
Seit Ende 2018 hatten vor allem die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) eine Führungsrolle bei der Normalisierung der Beziehungen zu Syrien gespielt: Die VAE öffneten ihre Botschaft in Damaskus wieder und haben laut Medienberichten Assad auch zur Klimakonferenz COP28 Ende dieses Jahres eingeladen. Die Schlüsselrolle für die syrische Rückkehr zur Arabischen Liga dürfte aber Saudi-Arabien gespielt haben, das seine Beziehungen zu Syrien ab April 2023 deutlich verbesserte. Die Beweggründe für Riads Entscheidung, das Regime in Damaskus auf diese Weise zu „rehabilitieren“, hängen mit nationalen Zielsetzungen und regionalen Dynamiken zusammen. So ist die Unterbindung des Captagon-Schmuggels beispielsweise eine Priorität des saudischen Königreichs. Ein Großteil der Produktion und des Vertriebs von Captagon, einem Amphetamin-Derivat, wird von der Vierten Division der syrischen Armee und ihr nahestehenden Geschäftsleuten beherrscht, die während des Krieges aufgestiegen sind.
Darüber hinaus ist der Normalisierungsprozess Ergebnis einer Änderung der saudischen Außenpolitik. Die konfrontative Vorgehensweise bin Salmans – einschließlich des 2015 begonnenen Krieges gegen den Jemen und der größtmöglichen Druckausübung gegen den Iran und seine Verbündeten in der Region – war weitestgehend erfolglos. Die saudische Haltung nach außen wurde politisch zu kostspielig und zu einer Bedrohung für die wirtschaftlichen Reformpläne des Landes. Daher versucht Riad inzwischen, freundschaftlichere Beziehungen zu seinen Nachbarn aufzubauen.
Dies begann mit dem Ende der „Blockade“ gegen Katar im Januar 2021, gefolgt von einer offiziellen Versöhnung zwischen den beiden Ländern. In ähnlicher Weise änderte Riad seine Beziehungen zur Türkei, symbolisiert durch das Treffen von bin Salman und Präsident Erdoğan im Juni 2022 in Ankara. Im März 2023 kündigte Saudi-Arabien eine Einlage von fünf Milliarden US-Dollar bei der türkischen Zentralbank an, um die Wirtschaft des Landes anzukurbeln. Mit der historischen politischen Annäherung zwischen dem Iran und Saudi-Arabien durch die Vermittlung Chinas Anfang April wurde die Versöhnungspolitik fortgeführt.
Die USA und die Europäische Union haben die Normalisierungsprozesse offiziell verurteilt.
Beide Staaten haben seither ihre Bereitschaft erklärt, gemeinsam für „Sicherheit, Stabilität und Wohlstand“ im Nahen Osten einzutreten. Für Saudi-Arabien ist dies besonders wichtig, um die Lage im Jemen zu stabilisieren und neue Sicherheitsbedrohungen an seiner Südgrenze zu verhindern. Auch die Wahrnehmung Saudi-Arabiens, die USA könnten dem Königreich nicht mehr die nötige Sicherheit bieten (insbesondere nach dem Ausbruch der Arabischen Revolutionen im Jahr 2011 oder nach den Bombenanschlägen auf Aramco-Produktionsanlagen 2019 und 2020), trägt zu dieser Entwicklung bei.
Letztendlich hängen die Veränderungen in der saudischen Außenpolitik damit zusammen, dass das Land sich verstärkt auf wirtschaftliche Reformen und die Erreichung der sogenannten Saudi Vision 2030 konzentrieren will. Dieses Programm sieht vor, die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen zu beenden, bis 2030 jährlich 100 MilliardenUS-Dollar an ausländischen Direktinvestitionen einzuwerben sowie ebenfalls bis 2030 jährlich 100 Millionen Touristinnen und Besucher im Land zu empfangen.
Die USA und die Europäische Union haben die Normalisierungsprozesse offiziell verurteilt, konnten aber die Länder der Region nicht davon abhalten, die Beziehungen zu Damaskus wieder aufzunehmen. In den USA wurde im Mai 2023 ein neuer Gesetzentwurf mit der Bezeichnung Assad Regime Anti-Normalization Act eingebracht. Er würde die Liste der möglichen Zielpersonen des bestehenden Caesar Act erweitern auf alle Abgeordneten des syrischen Parlaments, hochrangige Mitglieder der regierenden Baath-Partei und auf Personen, die für die Veruntreuung und Abzweigung internationaler Hilfsgelder verantwortlich sind.
In der Europäischen Union könnten die fortschreitenden Normalisierungsprozesse in Damaskus zu einer weiteren Spaltung der europäischen Staaten in ihrer Politik gegenüber Syrien führen. Bislang herrschte in der EU der Konsens, dass es keine Normalisierung, keine Aufhebung der Sanktionen und keinen Wiederaufbau vor einem politischen Wandel im Land geben könne. Die Entwicklungen im Nahen Osten könnten nun von einigen EU-Mitgliedstaaten genutzt werden, um ebenfalls eine Normalisierung der Beziehungen zu Damaskus zu fordern – insbesondere, um die Rückführung von Geflüchteten nach Syrien verstärkt voranzutreiben.
Der Prozess muss auch als ein Effekt der schwindenden Macht der USA gesehen werden.
Der Prozess muss auch als ein Effekt der schwindenden Macht der USA gesehen werden. Dieser Niedergang bietet nicht nur anderen globalen Mächten wie China und Russland mehr Raum, um in der Region Nahost und Nordafrika zu agieren, sondern begünstigt auch regionale Mächte, die zunehmend unabhängiger auftreten und ihren Einfluss in der Region ausweiten. Dazu gehören beispielsweise die Türkei, Saudi-Arabien, Katar und die VAE.
Ganz allgemein sind Saudi-Arabien und andere regionale Akteure bestrebt, eine Art „autoritäre Stabilität“ in der Region zu konsolidieren, die ihre politischen und wirtschaftlichen Interessen sichert. Trotz der ständigen Rivalitäten zwischen diversen Staaten der Region sind diese sich einig, dass man zu einer ähnlichen politischen Situation wie vor den Aufständen 2011 zurückkehren möchte. So hat Katar zum Beispiel den „arabischen Konsens“ über die Rückkehr von Syrien in die Liga der Arabischen Staaten akzeptiert, obwohl es sich eigentlich dagegen sträubte. Offenbar wollte man nicht riskieren, die Führung in Riad und anderen arabischen Hauptstädten zu verärgern. Katar hat in den vergangenen Monaten und Jahren seine Beziehungen zu Saudi-Arabien, Ägypten, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Bahrain stetig verbessert. Darüber hinaus setzte sich auch Dohas enger Verbündeter, die Türkei, für eine Normalisierung gegenüber dem syrischen Regime ein.
Die Wiedereingliederung Syriens in die Liga wird allerdings den Wiederaufbau und die wirtschaftliche Erholung des Landes nicht zwangsläufig voranbringen. Die bisherigen Sanktionen sind zwar ein erhebliches Hindernis für die Anwerbung ausländischer Investitionen und Kooperationen und damit für einen tragfähigen Rahmen für den Wiederaufbauprozess, die Erholung der Wirtschaft und die Stärkung der staatlichen Strukturen – aber sie sind bei weitem nicht das einzige Problem Syriens.
Die Politik des syrischen Regimes ist schlichtweg nicht darauf ausgerichtet, die wirtschaftlichen und sozialen Probleme des Landes zu lösen.
Erstens ist die unsichere und instabile wirtschaftliche Lage in Syrien ein erhebliches Hindernis für die Ankurbelung lokaler und ausländischer Investitionen. Zweitens war Damaskus bisher nicht in der Lage, die finanzielle Situation des Landes zu verbessern und die kontinuierliche Abwertung des syrischen Pfunds zu verhindern. Dieser Umstand macht die Aussicht auf schnelle und mittelfristige Renditen und Gewinne aus Investitionen im Land zunichte. In dieser wirtschaftlich desolaten Situation gibt es keinerlei Anreize für Investitionen, weder von innen noch von außerhalb des Landes. Drittens verfügt Syrien sowohl im öffentlichen als auch im privaten Sektor nur über begrenzte finanzielle Kapazitäten. Hinzu kommen kriegsbedingt der Mangel an funktionierender Infrastruktur sowie an qualifizierten Arbeitskräften. Damaskus hat bislang nur sehr bescheidene Investitionen in den Wiederaufbau oder die Entwicklung seiner Infrastruktur getätigt und stattdessen den größten Teil seiner Ausgaben für die Kriegsanstrengungen, die Löhne im öffentlichen Sektor und Subventionen verwendet, die allerdings ebenfalls kontinuierlich abnehmen.
Ende 2022 wurden die gesamten Einlagen bei privaten Banken in Syrien auf 1,9 MilliardenUS-Dollar geschätzt (im Vergleich zu 13,87 Milliarden im Jahr 2010). Zusätzlich zu den unzureichenden Finanzierungsquellen leidet das Land unter einem Mangel an qualifizierten Arbeitskräften, da es eine konstant hohe Auswanderungsrate gibt, insbesondere unter jungen Akademikerinnen und Akademikern.
Darüber hinaus dient jede Wiederaufbaupolitik des syrischen Regimes nicht denjenigen Bevölkerungsschichten des Landes, die am stärksten vom Krieg und der katastrophalen sozioökonomischen Lage im Land betroffen sind. Das Armutsniveau liegt heute bei über 90 Prozent – verglichen mit einer Armutsquote von 33,6 Prozent im Jahr 2007. Im Januar 2023 benötigten etwa 15,3 Millionen Menschen in Syrien humanitäre Hilfe. Die Politik des syrischen Regimes ist schlichtweg nicht darauf ausgerichtet, die wirtschaftlichen und sozialen Probleme des Landes zu lösen. Stattdessen hat für das Regime die Konsolidierung der eigenen Macht und gegebenenfalls die Bestrafung der Bevölkerung Vorrang. Das Assad-Regime wird versuchen, politisch und wirtschaftlich von einem zukünftigen Wiederaufbau zu profitieren und gleichzeitig seine (vermeintliche) Stabilität zu festigen.
Der fortgesetzte Normalisierungsprozess dient also offensichtlich den Interessen des syrischen Regimes, das seine Herrschaft aufrechterhalten will. Die Normalisierung liegt jedoch auch im Interesse der autoritären Staaten in der gesamten Region, die ebenfalls ihre Macht sichern sowie alle idealistischen Fortschritte, die aus dem Arabischen Frühling 2011 hervorgegangen sind, rückgängig machen und zerschlagen wollen.
Aus dem Englischen von Tim Steins