Die Lage an Israels Grenze zum Libanon spitzt sich zu. Die Angst vor einem neuen Krieg, der die ganze Region erfassen könnte, ist derzeit präsenter denn je. Dabei war selbst der Gaza-Krieg nie nur auf den Gazastreifen begrenzt. Die libanesische Hisbollah zeigte sich von den Terrorangriffen der Hamas am 7. Oktober 2023 zwar überrascht. Doch nur einen Tag später trat die stärkste nicht-staatliche Kraft in der iranischen „Achse des Widerstands“ in den Krieg ein und begann, wenngleich widerwillig, mit Angriffen auf israelische Militäreinrichtungen.

Seitdem sind neun Monate vergangen, in denen sich Hisbollah und die israelischen Streitkräfte einen immer heftigeren Schlagabtausch lieferten. Das ACLED-Projekt, welches Daten zu gewaltsamen Konflikten erhebt, registrierte seit dem 7. Oktober mehr als 7 400 Angriffe über die 120 Kilometer lange Grenze. Satellitenbilder, Radardaten und Statistiken zeigen, wie weite Teile des Südlibanon verwüstet und in eine menschenleere Pufferzone verwandelt wurden. Und auch Israels Norden wurde empfindlich getroffen. Mehr als 150 000 Menschen wurden auf beiden Seiten der Grenze durch die Kampfhandlungen vertrieben, mindestens 543 Libanesen und 21 Israelis getötet. Dennoch waren beide Seiten lange Zeit darauf bedacht, die Eskalation nicht auf die Spitze zu treiben – die Konfliktintensität blieb über Monate stabil. Diese Situation droht nun jedoch zu kippen, ein Bodenkrieg zwischen Israel und Hisbollah scheint zum Greifen nahe.

Beschränkten die Hisbollah ihre Angriffe über Monate auf militärische Ziele, so zeigte sie mit Drohnenflügen über Haifa zuletzt ihre Fähigkeiten, auch Zivilisten weit im israelischen Landesinneren zu treffen. Ein erfolgreicher Raketenangriff auf eine israelische Iron-Dome-Batterie demonstrierte zudem, dass die israelische Luftabwehr kein unüberwindbares Hindernis darstellt. Ohnehin besteht in Israel die Sorge, dass man einem Angriff nicht standhalten könnte, sollte Hisbollah ihr gesamtes Arsenal an Raketen und Selbstmorddrohnen zum Einsatz bringen. Tel Aviv erhöhte vor diesem Hintergrund mit Luftschlägen auf hochrangige Hisbollah-Kommandeure den Einsatz. Israels Verteidigungsminister Yoav Gallant sagte hierzu, sein Land suche keinen Krieg, könne den Libanon jedoch im Falle des Falls „in die Steinzeit zurückversetzen“.

Die Zeichen stehen unmissverständlich auf Sturm. Das legen auch die strategischen Dilemmata der involvierten Konfliktparteien nahe. Für Israel ist die Situation an der Nordgrenze unhaltbar. Lange vermied der jüdische Staat, sich den Zeitpunkt eines neuen Krieges im Norden diktieren zu lassen und priorisierte den Aufbau der eigenen Resilienz. Im Kontext von Kriegsmüdigkeit und einer Legitimitätskrise der amtierenden Regierung herrscht mäßiger Enthusiasmus in der Bevölkerung für die Eröffnung einer zweiten, potenziell deutlich verlustreicheren Front im Norden. Doch ist die derzeitige Vertreibung zehntausender Bürgerinnen und Bürger aus grenznahen Gebieten ein innenpolitisches Pulverfass. Nur wenn es der Regierung gelänge, die militärischen Kapazitäten der Hisbollah signifikant zu schwächen, könnte sie den Binnenvertriebenen glaubhaft eine sichere Rückkehr in ihre Dörfer ermöglichen. Auf der anderen Seite verringert die aktuelle weitgehende Evakuierung des Nordens aber auch die unmittelbaren Kosten einer möglichen Bodenoffensive.

Hisbollah weiß um den hohen Blutzoll, den ein neuerlicher Krieg mit Israel fordern würde.

Zudem meinen einige regierungsnahe Strategen, es sei an der Zeit, Israels Sicherheitsproblem im Norden ein für alle Mal zu lösen. Der 7. Oktober hat das in Israel lange Zeit dominante Paradigma, man könne die Konflikte in der Nachbarschaft managen, schwer erschüttert. Verschwunden ist die Überzeugung, unter Inkaufnahme gelegentlicher Militäroperationen, Seite an Seite mit seinen Feinden koexistieren zu können. Stattdessen diskutiert die israelische Öffentlichkeit die Notwendigkeit, möglichen Sicherheitsbedrohungen stärker proaktiv zu begegnen, wenn nötig auch auf Kosten einer Eskalation des Schattenkriegs mit Teheran.

Hierbei kommen auch die iranischen Fortschritte beim Atomprogramm zum Tragen: Sollte der Iran israelische oder US-amerikanische Angriffe auf sein Territorium nuklear abschrecken können, wäre er nicht mehr gleichermaßen auf verbündete Milizen wie Hisbollah angewiesen. Diese könnten dann offensiver gegen Israel agieren. Die Islamische Republik hat hier die Zeit auf ihrer Seite, was Israel veranlassen könnte, eher früher als später neue Fakten zu schaffen.

Gleichzeitig fehlt eine klare Idee, was Israel mit einem Militäreinsatz überhaupt erreichen könnte. Die Schaffung einer demilitarisierten Zone im Südlibanon entspräche im Grunde der heutigen Situation: Luftangriffe, Artilleriebeschuss und der Einsatz von weißem Phosphor haben einen Großteil des Gebiets nördlich der Grenze unbewohnbar gemacht. Dies hat die Sicherheit Israels jedoch nicht merklich verbessert. Um den Raketenbeschuss dauerhaft zu unterbinden, müssten die Israelischen Verteidigungsstreitkräfte tief in libanesisches Gebiet vordringen und dieses halten. Dies könnte Israel erneut in eine Besatzungssituation verwickeln, aus der sie sich – ähnlich wie im Jahr 2000 – möglicherweise nur noch mit Mühe befreien könnten.

Dass sich die Hisbollah von den israelischen Kriegsdrohungen beeindrucken lässt, scheint daher zweifelhaft. Im Kontext des Gaza-Kriegs hat die Miliz ihr ramponiertes Image als Widerstandsbewegung dadurch wiederbelebt, dass sie einen dauerhaften Waffenstillstand in Gaza zur Grundbedingung für Verhandlungen gemacht hat. Sie weiß um den hohen Blutzoll, den ein neuerlicher Krieg mit Israel fordern würde. Gleichzeitig sieht sie aber auch das innergesellschaftliche Spaltungspotenzial, das ein solcher Krieg für Israel birgt.

Der Iran würde einer erheblichen Schwächung der Hisbollah nicht tatenlos zusehen.

Nicht zuletzt sind viele Hisbollah-Mitglieder angesichts der bescheidenen Performance der israelischen Streitkräfte gegen die Qassam-Brigaden im viel kleineren und umzäunten Gazastreifen der Auffassung, man könne der israelischen Armee durchaus standhalten. Bislang ging die Hisbollah noch aus jedem Krieg gestärkt hervor. Diesmal verfügt sie zudem über ein gewaltiges Arsenal von schätzungsweise 130 000 Raketen, darunter ballistische Raketen, die den Süden Israels erreichen könnten. Ihre Einheiten sind gut ausgebildet und haben im syrischen Bürgerkrieg Kampferfahrung gesammelt. Ferner verschärft wird die Gemengelage durch den Umstand, dass Hisbollah heute ein zentraler Bestandteil der iranischen Sicherheitsarchitektur ist.

Die Rettung Assads und die faktische Übernahme des libanesischen Staates haben der Gruppe einen besonderen Status innerhalb von Teherans „Achse des Widerstands“ verschafft. Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah wird von einigen bereits als potenzieller Erbe der religiös-politischen Autorität Chameneis gehandelt. Fiele die Hisbollah, wäre Teherans Einfluss in der Levante empfindlich geschwächt. Milizen in Irak und Syrien hätten wenig Anreiz, weiter auf Teheran zu setzen, wenn Iran der Hisbollah nicht zur Seite spränge. Ohnehin drängen viele dieser Gruppen darauf, Teheran solle seinen martialischen Worten gegen Israel endlich Taten folgen lassen.

Der Iran würde einer erheblichen Schwächung der Hisbollah daher wohl nicht tatenlos zusehen. In die Kampfhandlungen eingreifen könnten die zahlreichen mit Iran verbündeten Milizen, die Teheran erst Anfang des Jahres im Rahmen einer Vereinbarung mit den USA nur mit Mühe gebremst hat. Möglich wären auch Angriffe gegen US-Stellungen im Nahen Osten. Der aktuell „kalte Frieden“ zwischen Teheran und Washington wäre aufgekündigt. Schließlich besteht auch die Gefahr einer direkten Konfrontation zwischen Iran und Israel. Die rote Linie eines direkten Angriffs auf das Territorium des anderen wurde bereits im April überschritten.

Es spricht wenig dafür, dass Hisbollah, Iran und Israel diese verfahrene Situation aus eigener Kraft auflösen werden. Die internationale Gemeinschaft ging bislang davon aus, dass auf keiner Seite echtes Interesse an einer Eskalation besteht. Vermittlungsversuche fokussierten daher vor allem auf wechselseitige Kommunikation von Positionen, um Missverständnissen und Fehleinschätzungen sowie einer nicht intendierten Eskalation vorzubeugen. Niemand will einen Krieg – so das Mantra des bisherigen Konfliktmanagements.

Für Israel ist die Situation im Norden nicht länger tragbar.

Dieses Paradigma wurde von der Realität überholt. Die Konfliktparteien bewegen sich rapide auf ein Szenario zu, in dem es für sie erfolgversprechender sein könnte, zu eskalieren, als den Status quo zu erhalten. Für Israel ist die Situation im Norden nicht länger tragbar. Die Hisbollah wiederum ist zunehmend überzeugt davon, dass Israel ohnehin früher oder später eine Bodenoffensive im Südlibanon starten wird. Sie zeigt daher wenig Bereitschaft für Konzessionen und rüstet auf.

Diese Transformation der Konfliktdynamik erfordert ein anderes internationales Engagement als bisher. Dieses darf sich nicht länger auf Mediation beschränken, sondern muss gezielt die Kalküle der Akteure zu verändern suchen und ihnen einen gesichtswahrenden Ausweg aufzeigen. Die Schaffung neuer Anreizstrukturen darf Europa nicht anderen überlassen. Von vielen Regionalakteuren, die als mögliche Vermittler im Gespräch sind, ist kein ernsthaftes Engagement zur Verhinderung eines Krieges zu erwarten. Weder Ägypten noch die Golfstaaten sind gewillt, in Sachen Gaza oder Libanon in den Ring zu steigen.

Umso stärker sind Israels europäische Partner gefordert – schon aus Eigeninteresse. Für den Libanon wäre ein Krieg eine Katastrophe und verbunden mit weitreichenden humanitären Folgen. Doch seine Schockwellen würden im gesamten Nahen Osten und Mittelmeerraum spürbar. Die ohnehin fragile Lage in der weiteren Region droht vollends zu eskalieren.

Innenpolitisch wäre, im Kontext einer erstarkenden Rechten, ein Exodus von Kriegsflüchtlingen aus dem Libanon und der Region – darunter Hunderttausende Syrerinnen und Syrer, die dort Zuflucht gefunden haben – für die europäischen Demokratien eine echte Belastungsprobe. Gleiches gilt für die Preissteigerungen und Produktionsengpässe, die eine Blockade zentraler Welthandelsrouten nach sich zöge.

Unterschätzt wird überdies, wie sehr die Lage im Libanon mit der in Gaza zusammenhängt. Es gibt kaum ein Szenario, in dem eine Eskalation im Norden nicht auch die Gewalt im Gazastreifen neu entfachen und eine Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts torpedieren würde. Letztlich ist es allein deshalb kaum vorstellbar, dass sich Europa aus den Kampfhandlungen heraushalten könnte. Sollte Israel existenziell bedroht werden, wird sich insbesondere Deutschland gezwungen sehen, sein Prinzip der Staatsräson mit Leben zu füllen. Um dieses Szenario zu verhindern, braucht es eine Initiative von außen. Der Einsatz war selten so hoch.