Wir haben alle vom Sturz von Baschar al-Assad geträumt, aber nie wirklich geglaubt, dass wir diesen Moment erleben würden. Ein Freund hat die überwältigenden Gefühle auf Facebook perfekt eingefangen: „Wir Syrer sind alle Lügner; wir haben geschworen, dass wir Syrien nicht vermissen und niemals um es weinen werden, aber hier sind wir: alle in Tränen aufgelöst, unkontrollierbar.“ Diese Worte spiegeln meinen eigenen Unglauben wider. Am Sonntagmorgen, nachdem ich stundenlang die Entwicklungen in der Nacht verfolgt hatte, wachte ich mit über 200 Nachrichten auf. Assad war gestürzt. Es war kein Traum, es war Wirklichkeit. Allerdings wich meine Euphorie einem Unbehagen, als die Nachricht sackte.
Der Sturz von Assad ist unbestreitbar ein Wendepunkt in der modernen Geschichte Syriens. Eine Diktatur, die 54 Jahre lang mit eiserner Hand regierte, ist innerhalb weniger Tage zusammengebrochen. Das allein ist schon episch. Jahrzehntelang vermittelte Assads Regime die Illusion der Unbesiegbarkeit – ein unerschütterliches Machtgefüge, das jahrelangen Protesten, Aufständen und Druck von außen standhielt. Sein Sturz erschüttert dieses Bild und zeigt, wie zerbrechlich selbst die gefestigtsten Autokratien sind. Assads Sturz bringt auch neue Hoffnung, einige der schmerzhaftesten Wunden Syriens zu heilen, wie die Lage der politischen Gefangenen und das Schicksal der gewaltsam Verschwundenen. Zum ersten Mal seit Jahren gibt es eine echte Chance für Familien zu erfahren, was mit ihren Angehörigen geschehen ist, die in Assads Gefängnissen ums Leben kamen – und einen Abschluss zu finden.
Doch der Triumph ist nicht ungetrübt. Assads Sturz war nicht das Werk säkularer, demokratischer Kräfte, die ein gerechtes Syrien anstreben, sondern wurde durch radikale Gruppen wie Hay’at Tahrir al-Sham (HTS) herbeigeführt. Viele Freunde zögerten, mir zu gratulieren, unsicher, ob dies ein Sieg oder der Beginn eines neuen Albtraums ist. Meine eigene Zerrissenheit wuchs: Die Freude über Assads Fall mischte sich mit der Angst vor dem, was folgen könnte. Meine Schwester war zwischen Syrien und dem Libanon gestrandet, mein alter Vater war allein in Damaskus, einer Stadt im Zerfall. Das von Assads Regime hinterlassene Machtvakuum ist keine bloße Theorie – sondern eine greifbare, erschreckende Realität.
Syrien ist nun ein Schlachtfeld für konkurrierende regionale Interessen.
Diese Verwundbarkeit reicht über das Persönliche hinaus. Syrien ist nun ein Schlachtfeld für konkurrierende regionale Interessen. Israel hat aus der Befürchtung, dass fortschrittliche Waffen in die Hände von Rebellen gelangen könnten, seine Luftangriffe auf mehrere Orte intensiviert und ist im Süden weiter vorgerückt. Dabei hat es strategische Orte ins Visier genommen, die während Assads Herrschaft ignoriert worden waren – ein beunruhigendes Zeichen dafür, wie sehr Assads „Feinde“ von seiner Stabilität profitiert hatten. Gleichzeitig ergreifen von der Türkei unterstützte Fraktionen wichtige Gebiete wie Manbij, wodurch Ankara seinen strategischen Zielen in Nordsyrien näher kommt. Die zersplitterte Opposition läuft trotz ihrer neuen Bedeutung Gefahr, in interne Kämpfe zu verfallen, wodurch das Land anfällig für die Ausbeutung durch externe Mächte bleibt.
Für Syrer wie mich, die jahrelang von diesem Tag geträumt haben, ist die Realität bittersüß. Syrien ist nun „frei“ von Assad, aber noch nicht befreit. Der Sturz von Assad bedeutet das Ende einer Ära, aber nicht den Beginn des Friedens. Stattdessen markiert er eine neue Phase der Unsicherheit. Können die verschiedenen zersplitterten Anti-Regime-Fraktionen mit ihren konkurrierenden Agenden die Herausforderung der Regierungsführung meistern? Kann die internationale Gemeinschaft – die Syrien nach einem Schwarz-Weiß-Schema betrachtet – über symbolische Gesten hinausgehen und die humanitären sowie politischen Krisen in Syrien angehen? Oder wird Syrien weiterhin ein Schauplatz von Machtkämpfen bleiben und seine Bevölkerung ins Kreuzfeuer geraten?
Die Frage ist nun, ob dieser historische Moment als Grundlage für den Wiederaufbau einer zerrütteten Nation dienen kann – oder ob er in ein weiteres Kapitel der Verzweiflung münden wird, ähnlich wie die „Befreiung“ Afghanistans und des Irak. Für diejenigen von uns, die diesen Kampf im Exil geführt haben, ist die Hoffnung durch die Erkenntnis gedämpft, dass die Befreiung nur der erste Schritt auf einem langen, ungewissen Weg ist.
Hussam Baravi, Syrien-Projekt, FES-Libanon
Als ich hörte, dass die islamistischen Oppositionskräfte (HTS) Aleppo am 29. November 2024 zurückerobert hatten, hätte ich nie gedacht, dass sie nur eine Woche später Damaskus erreichen würden. Am Samstag, dem 7. Dezember, kam die Nachricht, dass Assads Truppen aus Sweida vertrieben worden waren – einer Stadt mit großer Symbolkraft. Sweida ist nicht nur die Heimat einer drusischen Minderheit, sondern beherbergt auch viele Binnenvertriebene. Die Nachricht schlug ein wie ein Blitz.
Als Syrer begannen wir sofort, die Berichte zu überprüfen. Meine Familie, die nur wenige Kilometer von Damaskus entfernt lebte, informierte mich, dass die „Revolutionäre“ bereits in der Stadt angekommen waren! Alles schien ruhig … aber war es womöglich die Ruhe vor dem Sturm? Oder handelte es sich tatsächlich um eine friedliche Machtübernahme? Eine Mischung aus Angst, die an die Kämpfe von 2012 und die darauf folgenden Jahre erinnerte, und Freude über den Fall des grausamen Regimes erfüllte die Luft.
Am Sonntagmorgen war Damaskus vom Diktator befreit, und die Syrer begrüßten sich mit Sabah al Hurria („Ein Morgen der Freiheit“). Auf Facebook kursierende Videos verstärkten das Gefühl, Zeugen eines Traums zu sein, auf den die Syrer während der mehr als 13 Jahre andauernden Revolution gehofft hatten.
Der Rückzug von Assads Truppen kam überraschend und wirkte fast unwirklich. Die Bilder von gestürzten Symbolen des Regimes und vom Abbau seines Personenkults waren tief bewegend und erinnerten an Szenen aus dem Irak 2003 oder an die Aufstände in Tunesien, Ägypten und Libyen in den Jahren 2011 und 2012. Menschen strömten auf die Straßen, feierten die „Freiheit“, sangen Revolutionslieder und riefen: „Das syrische Volk ist eins.“ Dieser historische Moment war emotional und bedeutete, was noch wichtiger ist, einen Sieg der Gerechtigkeit.
Ironischerweise waren es islamistische Kräfte, die Syrien von Assads Diktatur befreiten.
Die bewegendsten Bilder entstanden bei der Freilassung politischer Gefangener aus einigen der brutalsten und gewalttätigsten Gefängnissen der Welt. Das berüchtigte Sednaya-Gefängnis, in dem 30 000 Insassen auf einer einzigen von insgesamt drei Etagen zusammengepfercht sind, ist eines der dunkelsten Symbole für die Grausamkeit des Regimes. Frauen mit kleinen Kindern – einige von ihnen gerade einmal drei Jahre alt, die möglicherweise noch nie das Sonnenlicht gesehen hatten – wurden endlich in die Freiheit entlassen. Diese Momente markierten einen ersten Schritt in Richtung Sieg für die Gerechtigkeit. Der nächste Schritt muss darin bestehen, die Verantwortlichen für diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Rechenschaft zu ziehen.
Ironischerweise waren es islamistische Kräfte, die Syrien von Assads Diktatur befreiten. Doch ihre Vision von Freiheit steht in einem starken Gegensatz zu den Rechten von Frauen, Jugendlichen und Andersdenkenden. Während ihre Militäroperationen diszipliniert und gut organisiert sind, bleibt ihr Konzept von Freiheit und Gerechtigkeit weit entfernt von dem, was viele Syrer – insbesondere Frauen – erhoffen. Angesichts dieser Unterschiede beobachten wir die sich entfaltenden Ereignisse mit großer Vorsicht.
Während die Syrer die friedliche Machtübernahme und die neu gewonnene Freiheit feiern, schürt der ohrenbetäubende Lärm israelischer Angriffe auf die syrische Infrastruktur und Ziele im Süden die Angst vor einem neuen Konflikt. Israel verschwendet keine Zeit – Premierminister Netanjahu hat den Waffenstillstand von 1974 für ungültig erklärt, und das israelische Militär ist in die entmilitarisierte Zone in der Nähe der Golanhöhen vorgedrungen und hat die Stadt Quneitra erreicht.
Inmitten der Feierlichkeiten und Freude wächst die Sorge vor einer weiteren Welle der Zerstörung und Ungerechtigkeit. Die Möglichkeit eines neuen Krieges wirft einen düsteren Schatten auf die fragile Zukunft Syriens.
Salam Said, FES-Tunesien