Israel musste sich am 11. und 12. Januarvor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag gegen den von Südafrika erhobenen Vorwurf des Genozids verteidigen. Südafrika hat vorläufige Maßnahmen („provisional measures“) gegen Israel beantragt, insbesondere die Kampfhandlungen im Gazastreifen einzustellen, weil es damit gegen die 1948 verabschiedete Genozidkonvention verstoße. Dies ist in Israel und darüber hinaus auf Empörung gestoßen, weil der Holocaust die Vorlage für diese Konvention geliefert hatte. Mit der Genozidkonvention sollte ein solches Verhalten für immer und ewig völkerrechtlich geächtet werden. Wird also nicht die Genozidkonvention auf den Kopf gestellt, wenn der Staat, dessen Existenz maßgeblich auf den Holocaust zurückgeht, auf Basis dieser verklagt wird?
Vor dem IGH geht es um die Verantwortlichkeit von Staaten, nicht aber um die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Einzelpersonen. Dafür ist der nur wenige Kilometer entfernte Internationale Strafgerichtshof (IStGH) zuständig. Auch er beschäftigt sich schon länger mit dem Verhalten Israels in den von ihm besetzten Gebieten. Dazu zählt neben dem Westjordanland und Ostjerusalem auch der Gazastreifen. Beim IStGH geht es bislang allem Anschein nach primär um mögliche israelische Kriegsverbrechen sowie Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Für diese Taten aber ist der IGH nicht zuständig. Seine Zuständigkeit für einen möglichen Genozid setzt voraus, dass zwischen Südafrika und Israel ein Rechtsstreit über die Auslegung der Konvention besteht. Obwohl Israel dies bestreitet, spricht die Tatsache, dass es sich vor dem IGH verteidigt, dafür, dass ein solcher Rechtsstreit vorliegt.
Während der IStGH auch nicht-staatliche Akteure wie die Hamas zur Verantwortung ziehen kann, beschränkt sich die Zuständigkeit des IGH auf Staaten. Im vorliegenden Verfahren führt das zu der erstaunlichen Situation, dass nur eine Konfliktpartei (Israel) vor Gericht steht, obwohl der Genozidvorwurf gegen die andere (Hamas) mit größerer Überzeugungskraft vorgebracht werden könnte. Auf diese Asymmetrie ist von israelischer Seite zutreffend hingewiesen worden, sie ist aber eine rechtliche Konsequenz der beschränkten Zuständigkeit des IGH. Gleichwohl wird der IGH nicht umhinkommen, die Beteiligung der Hamas – gleichsam als unsichtbare Verfahrensbeteiligte – an den Kampfhandlungen bei seiner Entscheidungsfindung zu berücksichtigen. Denn es macht für den Genozidvorwurf einen großen Unterschied, ob ein Staat militärische Gewalt als Reaktion auf den Angriff einer nicht-staatlichen Konfliktpartei anwendet oder ob sich seine militärischen Maßnahmen alleine gegen eine bestimmte (nicht-militärische) Gruppe der Zivilbevölkerung richten.
Wird also nicht die Genozidkonvention auf den Kopf gestellt, wenn der Staat, dessen Existenz maßgeblich auf den Holocaust zurückgeht, auf Basis dieser verklagt wird?
Dies unterscheidet den vorliegenden Fall auch von dem laufenden Verfahren Gambia gegen Myanmar. In diesem geht es um einen möglichen Genozid der Militärdiktatur Myanmars gegen die muslimische Gruppe der Rohingya, also den gezielten Angriff auf eine von der Genozidkonvention geschützte Gruppe der Zivilbevölkerung, und zwar außerhalb eines bewaffneten Konflikts. Insoweit hat der IGH im Januar 2020 im Wesentlichen den von Gambia beantragten Maßnahmen zur Verhinderung eines Genozids entsprochen und im Juli 2022 seine Zuständigkeit für das Hauptsacheverfahren anerkannt. Deutschland ist im November 2023 dem Verfahren beigetreten und unterstützt den Antrag Gambias. Die Bundesregierung hat dabei eine relativ weite Auslegung des Genozidtatbestands vertreten, an die sie sich jetzt – beim Verfahrensbeitritt zugunsten Israels – wird halten müssen. Man darf gespannt sein, ob Deutschland diese Quadratur des Kreises gelingt.
Was den konkreten Genozidvorwurf angeht, so ergibt sich zunächst aus der völkerrechtlich maßgeblichen Definition der Konvention, dass es um den Schutz der Existenz bestimmter Gruppen geht, wobei – dies ist entscheidend – der Täter mit der übergreifenden Absicht handeln muss, die betreffende Gruppe mindestens zum Teil zu zerstören („intent to destroy“). Es handelt sich also um einen Tatbestand mit einer „überschießenden Innentendenz“, der Täter muss mehr wollen, als er objektiv ausführt. Beispielhaft: Die Tötung von Mitgliedern einer Gruppe – eine klassische, objektiv genozidale Handlung – reicht für die Bejahung eines Genozids nicht aus; es bedarf immer der darüber hinausgehenden Zerstörungsabsicht. Andererseits kann auch bei der Tötung von nur zwei Mitgliedern einer geschützten Gruppe ein Genozid vorliegen, wenn der Täter mit dieser Zerstörungsabsicht handelt. Für den vorliegenden Fall bedeutet dies jedenfalls, dass ein Genozid nicht alleine deshalb angenommen werden kann, weil massive Militärschläge erfolgen und erhebliche Schäden an Menschen oder Sachen verursachen.
Das Hauptproblem in Genozidverfahren – sei es zur Feststellung staatlicher Verantwortlichkeit (wie vor dem IGH) oder individualstrafrechtlicher Verantwortlichkeit (vor dem IStGH) – ist der Nachweis dieser Zerstörungsabsicht. Insoweit kommt staatlichen Stellungnahmen mit eindeutiger genozidaler Absicht eine besondere Bedeutung zu. Ein klassisches Beispiel stellt insoweit die sich aus dem Protokoll der Berliner Wannsee-Konferenz von 1942 ergebende „Endlösung der Judenfrage“ dar. Südafrika hat nun zwar auch einige Stellungnahmen israelischer Politiker und Militärs vorgelegt, die die Annahme einer genozidalen Absicht hinsichtlich der in Gaza befindlichen palästinensischen Zivilbevölkerung nahelegen sollen. Doch sieht sich dieses Vorbringen vor allem zwei Einwänden ausgesetzt.
Einerseits werden einige der angeführten Stellungnahmen dekontextualisiert und unvollständig zitiert. Beispielhaft: Premierminister Netanjahu bezog sich in seiner Aussage vom 28. Oktober 2023 nicht nur – entgegen der südafrikanischen Darstellung – auf die biblische Erzählung des Kampfs des israelischen Volkes gegen die Amalekiter als seinen Erbfeind, sondern wies zugleich darauf hin, dass es um die Zerstörung der Hamas sowie die Befreiung der Geiseln gehe und die Schädigung von Zivilisten zu vermeiden sei. Andererseits können nur solche Stellungnahmen dem Staat Israel – als beklagtem Völkerrechtssubjekt vor dem IGH – zugerechnet werden, die von den Mitgliedern des sogenannten Sicherheitskabinetts und/oder des (kleineren) Kriegskabinetts gemacht wurden. Denn diese beiden Organe sind für die Kriegsführung (kollektiv) verantwortlich.
Man darf gespannt sein, ob Deutschland diese Quadratur des Kreises gelingt.
Weitergehend stellt sich die Frage, ob genozidale Äußerungen von einzelnen Mitgliedern dieser Organe – wie etwa der rechtsextremen Politiker Ben-Gvir und Smotrich als Mitglieder des Sicherheitskabinetts – dem Staat Israel zugerechnet werden können, und zwar selbst dann, wenn solchen Äußerungen vom Premierminister widersprochen wurde oder nicht Eingang in Kollektiventscheidungen der genannten Organe gefunden haben. Jedenfalls hätten die besagten Politiker schon längst entlassen werden müssen. Andernfalls setzt sich Israel dem – insoweit berechtigten – Vorwurf aus, nicht entschlossen genug gegen zum Genozid anstachelnde Äußerungen vorzugehen, die im Übrigen auch nach israelischem Recht strafbar sind (worauf auch israelische Stimmen hinweisen).
Eine Zerstörungsabsicht kann ferner aus einem bestimmten Begehungsmuster – im Wege eines Indizienbeweises – abgeleitet werden. Was insoweit die konkrete israelische Kampfführung angeht, so kann deren Vereinbarkeit mit den Regeln des humanitären Völkerrechts zwar durchaus in Zweifel gezogen werden, doch ergibt sich daraus wenig bis nichts für den Nachweis der genozidalen Zerstörungsabsicht. Deren Annahme setzt nach der völker(straf)rechtlichen Rechtsprechung voraus, dass sie als einzig vernünftige Schlussfolgerung („only reasonable inference“) der objektiv begangenen Taten erscheint (so die Entscheidung des IGH im Verfahren Kroatien gegen Serbien 2015). Ob dieser strenge Maßstab auch in einem Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gilt, ist allerdings strittig.
Insoweit wird überwiegend davon ausgegangen, dass der Antragsteller lediglich plausibel darlegen muss, dass bestimmte Verletzungen der Genozidkonvention stattgefunden haben beziehungsweise stattfinden. Möglicherweise kann der Plausibilitätsmaßstab sogar noch weiter abgesenkt werden, wenn eine besondere Dringlichkeit gegeben ist und die Gefahr des Eintritts irreparabler Schäden droht. Die Meinungen gehen dazu jedoch auseinander. Wie dem auch sei, einige der von Israel ergriffenen Maßnahmen zur Einhaltung des humanitären Völkerrechts (zum Beispiel die Warnung und Evakuierung von Zivilbevölkerung) und zur Ermöglichung humanitärer Hilfe sprechen insoweit eher gegen eine genozidale Absicht.
Wenn Südafrika die Evakuierungsanordnung Israels selbst als genozidal bezeichnet, so wird damit das (humanitäre) Völkerrecht auf den Kopf gestellt.
Wenn Südafrika insoweit die Evakuierungsanordnung Israels selbst als genozidal bezeichnet, so wird damit das (humanitäre) Völkerrecht auf den Kopf gestellt, denn danach würde man es Israel zum Vorwurf machen, dass es seine Verpflichtungen aus dem humanitären Völkerrecht – Evakuierung der Zivilbevölkerung aus dem Kampfgebiet – erfüllt. Selbst wenn man die israelische Evakuierungsanordnung als unzureichend ansieht, etwa weil es im Gazastreifen keine sicheren Orte gibt, so kann daraus unmöglich eine genozidale Absicht abgeleitet werden.
Was schließlich die von Südafrika beantragten (neun!) vorläufigen Maßnahmen angeht, so gehen einige über die bisherige Rechtsprechung hinaus und andere zu weit, weil ihr Erlass das israelische Selbstverteidigungsrecht gegen den bewaffneten Angriff der Hamas über Gebühr einschränken würde. Natürlich muss sich Israel bei seiner Verteidigung an das (humanitäre) Völkerrecht halten (und darf insbesondere keinen Genozid begehen), doch kann von einem angegriffenen Staat nicht eine völlige Aussetzung der Kampfhandlungen – und damit die Aufgabe seiner Selbstverteidigung – verlangt werden; vor allem dann nicht, wenn eine solche Anordnung nur eine Konfliktpartei (Israel) betreffen würde, die andere (Hamas) hingegen weiter frei militärisch agieren und eskalieren könnte. Sollte der IGH also tatsächlich – wofür einiges spricht – vorläufige Maßnahmen anordnen, so wird er eine kompromisshafte Formulierung finden müssen, die einerseits das Risiko eines Genozid minimiert (humanitärer Waffenstillstand) und andererseits Israels Selbstverteidigungsrecht nicht über Gebühr einschränkt.
Zugleich sollte aber auch Südafrika, wie selbst gefordert (Seite 82, Maßnahme 3), verpflichtet werden, darauf hinzuwirken, dass die Hamas und andere jihadistische Gruppen sich ebenfalls an einen solchen Waffenstillstand halten und von ihrem genozidalen Vernichtungsplan Abstand nehmen. Schließlich sollte Israel auch dazu aufgefordert werden – im Sinne der sechsten geforderten Maßnahme (Seite 83) – konsequenter gegen die Anstachelung zum Genozid vorzugehen.