Die Bundeskanzlerin hat der Türkei Unterstützung beim Bau von Unterkünften für Geflüchtete in der sogenannten Sicherheitszone in Nordsyrien in Aussicht gestellt. Innerhalb Deutschlands ist die Resonanz darauf überwiegend negativ. Zusammengefasst lautet die Kritik: Anstatt die vorausgegangene völkerrechtswidrige Invasion politisch und finanziell zu belohnen, sollte die Bundeskanzlerin scharfe Kritik an der Türkei üben. Die Bundesregierung dürfe Präsident Erdoğan nicht alles durchgehen lassen, vielmehr brauche es klare Worte und einen sofortigen Exportstopp deutscher Waffen.

Wohl wahr. In einer moralisch und ethisch wünschenswerten Welt der Außenpolitik würde Deutschland sich entschieden gegen einen Völkerrechtsbruch der Türkei stellen. Mittels Anreizen und begrenzter Sanktionen würde die Bundesregierung erfolgreich das Verhalten der türkischen Regierung zum Guten wenden.

Die Notwendigkeit dafür, den Export von Kriegswaffen und Rüstungsgütern in die Türkei entschieden restriktiver zu gestalten, steht außer Frage. Mit dem Rest ist es leider nicht so einfach. Die Bundesregierung steht vor einem Dilemma, für das es leider keine befriedigende Lösung gibt.

Aber von Anfang an: Deutschland wird häufig als von der Türkei „erpressbar“ beschrieben. Einerseits trifft das zu, denn die Bundesregierung fürchtet den möglichen Zustrom Geflüchteter, welche die Türkei von Europas Grenzen fern hält. Andererseits verschleiert die Formulierung die aktive Rolle der Bundesregierung. Sie ist mitnichten ein passiver Akteur. Jene Gemengelage, die Deutschland erpressbar macht, hat die Bundesregierung mit gestaltet und tut dies auch weiterhin. Nicht bloß aus Ohnmacht, sondern aufgrund handfester Interessen: Um die politische Eskalation innerhalb Deutschlands und der EU zu vermeiden, die absehbar wäre, wenn sie die Entscheidung über eine nachhaltige Migrations- und Flüchtlingspolitik forcieren würde.

Die Notwendigkeit dafür, den Export von Kriegswaffen und Rüstungsgütern in die Türkei entschieden restriktiver zu gestalten, steht außer Frage.

Zwischen 3,5 und 4 Millionen Syrer haben seit Ausbruch des Krieges in ihrer Heimat Zuflucht in der Türkei gefunden. Öffnete die Türkei die Grenzen, würde nach einer Erhebung des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (DeZim) deutlich weniger als ein Drittel die Weiterwanderung nach Europa auch nur erwägen. Doch der schieren Aussicht auf einen weiteren Zustrom von syrischen Flüchtlingen begegnet die Bundesregierung mit großer Angst. Eine Angst, die angesichts der sowohl innenpolitischen als auch innereuropäischen Zerwürfnisse nach 2015 nachvollziehbar ist.

Der im März 2016 unterzeichnete Migrationspakt mit der Türkei war eine drastische Reaktion auf diese Angst. Um innenpolitisch Stabilität zu erzeugen, externalisierte die Bundesregierung Widersprüche und Konflikte an die europäischen Außengrenzen. So hat die Türkei beispielsweise mit europäischen Geldern umfangreiche Grenzschutzanlagen errichtet, die nun über drei Millionen Menschen in Syriens Nordwesten den Fluchtweg in Richtung Türkei versperren.

Innerhalb Syriens ist das Engagement der Bundesregierung ebenfalls problematisch. Deutschland ist ein wesentliches Geberland für die Syrienhilfe der Vereinten Nationen. Die UN-Hilfe wird allerdings überwiegend von der Assad-Regierung kontrolliert — und vor allem instrumentalisiert. Seit Jahren verhindert die Assad-Regierung Hilfslieferungen in belagerte Gebiete. Als loyal verstandene Gebiete hingegen werden großzügiger versorgt und Gelder an regierungsnahe Organisationen geleitet. In der Vergangenheit hat die Bundesregierung es versäumt, Reformen innerhalb der UN anzustoßen, welche diese Vereinnahmung nominell neutraler Hilfe hätten eindämmen können. Zugespitzt könnte man sagen, dass die UN-Hilfe die Assad-Regierung vor dem Kollaps bewahrt hat. Niemand würde deshalb wohl fordern, die Zahlungen einzustellen, die trotz ihrer politischen Instrumentalisierung einem humanitären Zweck dienen.

Um innenpolitisch Stabilität zu erzeugen, externalisierte die Bundesregierung Widersprüche und Konflikte an die europäischen Außengrenzen.

Aber natürlich ist die Tatsache, dass deutsche Gelder bereits mehr oder weniger direkt völkerrechtswidrige Systeme stützen kein Argument dafür, nun auch noch in die türkische Sicherheitszone zu investieren. Tatsache ist aber, dass humanitäre Hilfe auch in widersprüchlichen Zusammenhängen stattfinden muss. Darüber hinaus ist für den Moment ein drastischer Kurswechsel innerhalb der EU, welcher der deutschen „Erpressbarkeit“ ein Ende machen könnte, nicht absehbar. Nach wie vor sind die EU-Mitgliedsländer nicht Willens, sich auf eine kohärente Migrations- und Flüchtlingspolitik zu einigen. Innenpolitisch kämpft die deutsche Politik noch immer mit dem rasanten Aufstieg der AfD, Ausgang ungewiss. In diesem Klima werden weder die EU noch die Bundesregierung die externalisierten Widersprüche und Konflikte von den Außengrenzen zurückholen und offensiv adressieren. Genau das wäre aber nötig, um das Verhandlungsgewicht Deutschlands gegenüber der Türkei zu erhöhen.

Solange die Bundesregierung erpressbar ist, helfen Worthülsen in Richtung Ankara niemandem weiter. Scharf die Pläne der Türkei über die Ansiedlung Geflüchteter in der Sicherheitszone in Nordsyrien zu verurteilen oder gar zu sanktionieren, gleichzeitig aber vor den türkischen Drohungen einer Grenzöffnung zu zittern und das türkische Grenzregime zu finanzieren, ist weder konsequent noch erfolgversprechend.

Was also tun? Die Bundeskanzlerin betonte bereits Anfang Dezember 2019, dass eine Rückkehr von Geflüchteten in die türkische Sicherheitszone nur unter Beteiligung des UNHCR und der UN erfolgen könne. Diese Kondition muss Maßstab für weitere Verhandlungen sein. So könnte die Bundesregierung finanzielle Hilfen für die Sicherheitszone an Bedingung knüpfen, zum Beispiel daran, dass das UNHCR die Freiwilligkeit der Rückkehr überwacht. Dadurch könnte Deutschland den vorhandenen Spielraum nutzen, um die Gestaltung der Sicherheitszone zu beeinflussen.

Klar ist aber auch: Selbst ohne deutsche Unterstützung wird die Türkei ihre Pläne umsetzen. Sie hat sogar bereits damit begonnen. Mindestens 1500 arabische Familien sind laut Kontakten vor Ort bereits in Ras al-Ain untergebracht worden. Die Bundesregierung kann im Rahmen ihrer begrenzten Möglichkeiten zumindest dafür sorgen, dass die Konditionen der Umsiedlungen möglichst positiv ausfallen.

Solange die Bundesregierung erpressbar ist, helfen Worthülsen in Richtung Ankara niemandem weiter.

Ursprünglich sollte die sogenannte Sicherheitszone ein Gebiet von 180 mal 32 Kilometer entlang der syrisch-türkischen Grenze umfassen. Am 9. Oktober begann die türkische Armee mit Hilfe verbündeter bewaffneter Oppositionsgruppen die zugehörige Offensive. Zwei Wochen später erhärteten sich die Frontlinien nach Verhandlungen mit den USA und Russland. Das von der Türkei kontrollierte Gebiet reicht nun von Tall Abjad bis Ras al-Ain und erstreckt sich auf einer Fläche von rund 120 mal 32 Kilometern. Im Rahmen der Kampfhandlungen wurden laut Angaben der UN bereits 200.000 Menschen vertrieben, mindestens 117.000 sind mittlerweile zurückgekehrt. Allerdings ist nicht klar, ob es sich dabei ausschließlich um die ursprünglich Geflüchteten handelt. Denn die Türkei hat den Grenzübergang bei Tall Abjad geöffnet und ermöglicht so auch Syrern, die in den vergangenen Jahren aus anderen Landesteilen geflohen sind, die Rückkehr beziehungsweise den Zuzug.

Die Gebiete in der Sicherheitszone hatten vor Beginn des Krieges eine arabische Bevölkerungsmehrheit. In den Jahren 2015 und 2016 flohen zehntausende arabische Syrer vor den kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) und dem sogenannten Islamischen Staat. Diese Menschen haben ungeachtet der politischen Rahmenbedingungen ein Recht auf Rückkehr. Gleiches gilt für die kurdischen Syrer, die im Rahmen der türkischen Offensive fliehen mussten. Deutschland sollte die Türkei drängen, die mehr schlecht als recht von ihr kontrollierte Syrische Nationalarmee (SNA) zu überwachen und systematische politisch sowie ethnisch motivierte Gewalt innerhalb der Sicherheitszone zu verhindern.

Optimal ist all das nicht, aber es kommt humanitärer Außenpolitik in einer inhumanen Gesamtkonstellation zumindest am nächsten. In diesem Sinn ist ein an Konditionen gebundenes deutsches Engagement realpolitischer als sich — nicht zuletzt angetrieben durch antitürkische Ressentiments — an den Verfehlungen des türkischen Präsidenten Erdoğan abzuarbeiten.