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Die jüngsten Bilder aus Beirut, Algier, Khartum und Bagdad liefern ein Déjà Vu: Demonstrierende übernehmen den öffentlichen Raum, liefern sich Straßenschlachten mit der Polizei. Graffitis zieren die Mannschaftswägen überforderter Sicherheitskräfte, die oft ebenso brutal zurückschlagen wie vor acht Jahren. Sogar der ikonische Schlachtruf „Brot, Freiheit, soziale Gerechtigkeit, Menschenwürde“ ist zurück.

Angesichts der verblüffenden Ähnlichkeiten der neuen Proteste mit denen von 2011 verstummten zuletzt jene Stimmen, die in den vergangenen Jahren das unwiderrufliche Ende sozialer Bewegungen und das Scheitern des sogenannten „Arabischen Frühlings“ im Nahen Osten und Nordafrika diagnostiziert hatten. Die Umbrüche, die 2011 nahezu alle Länder der Region erfassten, destabilisierten damals besonders republikanisch verfasste Regime, deren Machthaber ihren Alleinherrschaftsanspruch nicht auf eine historisch-dynastische Erbfolge zurückführen konnten und deren Elitennetzwerke durch den Druck der Straße zerbrachen.

Einige Republiken entgingen diesem Schicksal nur aufgrund eines tiefsitzenden gesellschaftlichen Traumas infolge vorheriger Gewalterfahrungen in der jüngeren Vergangenheit. Anders als Tunesien oder Ägypten hatten sowohl Algerien als auch der Irak, Libanon und der Sudan in den letzten Jahrzehnten gewaltsame politische Krisen in Form von Bürgerkriegen und externen Militärinterventionen erfahren. Die schmerzhafte Erinnerung daran sorgte für bestenfalls gedämpfte Begeisterung für neue politische Umwälzungen. Blickt man dieser Tage auf die Region, so scheint es, als gehe der Arabische Frühling nun gerade in diesen Staaten in die zweite Runde.

Wiederaufgenommen wurde der Kampf um Mitbestimmung, soziale Gerechtigkeit und ein würdevolles Leben ausgerechnet im Sudan. Der Despot Omar al-Bashir wurde gezwungen, sein Amt zu räumen – nach über 30 Jahren an der Macht.

Wiederaufgenommen wurde der Kampf um Mitbestimmung, soziale Gerechtigkeit und ein würdevolles Leben ausgerechnet im Sudan, wo die letzte Welle innerstaatlicher Gewalt nur wenige Jahre zurückliegt: Im Dezember 2018 brachte die inflationäre Entwicklung der Lebenshaltungskosten und die Kürzung von Brot- und Benzinsubventionen tausende Menschen auf Khartums Straßen. Alle Versuche, die Bevölkerung durch kosmetische Reformen zu befriedigen, scheiterten. Der Despot Omar al-Bashir wurde am 11. April 2019 vom Militär gezwungen, sein Amt zu räumen – nach über 30 Jahren an der Macht.

Mitte Februar 2019 folgte Algerien, wo sich die Proteste an der Kandidatur des ebenfalls seit Jahrzehnten regierenden und mittlerweile greisen Abdelaziz Bouteflika für eine fünfte Amtszeit entzündeten. Im Herbst traf es dann weitere Republiken: Im Irak mündeten spontane Massenproteste im Oktober in mehrtägigen Unruhen, nachdem die Sicherheitskräfte mehr als hundert Demonstranten erschossen und tausende verletzt hatten. Blutige Auseinandersetzungen treiben seitdem eine Gewaltspirale an.

Nahezu zeitgleich stehen der Libanon und seine „Oktoberrevolution“ im Rampenlicht: Hier regte sich der Widerstand der Straße zunächst gegen die Finanzpolitik und absurde Steuerpläne der Regierung. Innerhalb kürzester Zeit mutierten die Demonstrationen zu den größten Massenprotesten seit dem Ende des Bürgerkriegs. Selbst Ägypten, wo der Kampf um soziale und politische Teilhabe eigentlich bereits als verloren galt, ist betroffen: Obwohl (oder gerade weil?) Al-Sisis Sicherheitskräfte routiniert mit massiven Repressionen gegen Demonstrierende vorgehen und Dissidenten foltern und verschleppen, forderten Tausende im September erstmals seit Jahren wieder den Sturz des Regimes.

Die neuen Proteste treibt vor allem der Vertrauensverlust der jungen und größtenteils arbeits- und perspektivlosen Generation in die herrschende politische Klasse an.

Zwar gelang es der Staatssicherheit, die Bewegung durch Repression unter Kontrolle zu bringen, doch wirkt das Land seitdem nicht mehr so stabil, wie zuvor angenommen. Das gilt auch für einige der Monarchien, die die Umbrüche 2011 durch einen Mix aus Repression und selektive Reformen überstanden hatten. Jordanien erlebte beispielsweise im September den bis dato längsten Streik des öffentlichen Sektors in der Geschichte des Landes. Mehr als 100 000 streikende Lehrerinnen und Lehrer stürzten die Regierung in eine tiefe politische Krise.

Eine neue Welle des Arabischen Frühlings also? Vieles spricht dafür. Die Protestierenden sind ähnlich divers, vereinen Arbeiter und Arbeiterinnen, Jugendorganisationen und Oppositionsparteien. Angeführt werden sie von Studierenden und Jugendlichen, oftmals Frauen, die anders als ihre Elterngeneration nicht von Bürgerkrieg und der Gewalterfahrung des „ersten“ Arabischen Frühlings geprägt sind. Gleichzeitig sind innerhalb der Protestkoalitionen nur wenig klare Organisationsstrukturen erkennbar.

Wie bereits 2011 wirken die Protestierenden damit teilweise „führungslos“. Sie bauen dafür aber auf mittlerweile erprobte Protestrepertoires und skandieren altbekannte Slogans. Mit einem entscheidenden Unterschied: Die Triebkräfte sind dieses Mal primär sozio-ökonomischer Natur. Freiheits- und Gleichheitsrechte bleiben zwar bedeutsam, im Zentrum stehen aber Korruption und die soziale Frage.

Die neuen Proteste treibt vor allem der Vertrauensverlust der jungen und größtenteils arbeits- und perspektivlosen Generation in die herrschende politische Klasse an. Auch acht Jahre nach der „Arabellion“ bestehen wirtschaftliche Missstände fort – sie haben sich sogar noch verschärft. Die Lage in Algerien ist hierfür emblematisch. In dem eigentlich reichen Land, das 70 Prozent seines gesamtwirtschaftlichen Verbrauchs durch Importe deckt, fielen die Devisenreserven nach dem Ölpreiseinbruch in den letzten fünf Jahren um zwei Drittel.

Wie 2011 gezeigt hat, ist der Ausgang derartiger spontaner Mobilisierung kaum vorhersehbar. Umso mehr wären Regierungen – nicht nur in der Region – gut beraten, sich vorzubereiten.

Auch die irakische Wirtschaft litt bereits 2011 an den Folgen mehrerer Dekaden von Konflikt. Der Ausbruch des Bürgerkriegs im Nachbarland Syrien und der Vormarsch des Islamischen Staates in Mosul gossen zusätzliches Öl ins Feuer. Der proklamierte Sieg über die Dschihadisten brachte 2017 keinen Neuanfang, sondern zementierte die Elitennetzwerke in Bagdad. Ähnliches gilt für den Libanon: Auch hier herrscht infolge von konfessionellen Konflikten, Bürgerkrieg und Misswirtschaft eine schwere Wirtschafts- und Finanzkrise. Das Land steht kurz vor dem Bankrott, gleichzeitig blockieren oligarchische Strukturen notwendige Reformen.

Auch im Rest der Region sind Devisenknappheit, Währungsverfall oder die Inflation der Lebenshaltungskosten Symptome von Vetternwirtschaft, dysfunktionaler Rentenökonomien und grassierender Korruption. Kein Zufall also, dass sich Proteste immer wieder an Ereignissen entzünden, welche die kleptokratischen Eliten besonders eindrucksvoll vorführen. So etwa im Libanon, wo der Informationsministers eine Steuer auf Internet-basierte Kurznachrichtendienste wie Whatsapp bekanntgab, die bis dato das Monopol einflussreicher Familienklans im Telekommunikationssektor untergraben hatten. Oder in Ägypten, wo ein Bauunternehmer, der sich jahrelang als Subunternehmer der Armee an Staatsaufträgen bereichert hatte, per Videobotschaft aus dem Exil pikante Details über die Veruntreuung von Staatsgeldern in Milliardenhöhe preisgab.

Wie 2011 gezeigt hat, ist der Ausgang derartiger spontaner Mobilisierung kaum vorhersehbar. Umso mehr wären Regierungen – nicht nur in der Region – gut beraten, sich vorzubereiten. Zumal die „zweite Welle“ des Arabischen Frühlings anderen Eskalationsmustern folgen dürfte als ihr Vorgänger. Denn beide Seiten haben dazugelernt. Nach dem Arabischen Frühling zogen zunächst die autoritären Regime in der Region Lehren aus ihren Protesterfahrungen, indem sie voneinander Repressionstaktiken abschauten, ihre Sicherheitsapparate systematisch aufrüsteten und durch kosmetische Reformen und Kooptierung Präventionsmaßnahmen zur Vorbeugung neuer Mobilisierung trafen. Wie die Massaker an Zivilistinnen und Zivilisten im Irak und im Sudan zeigen, setzte sich dabei nicht die Ansicht durch, dass Repressionen nur begrenzt dazu taugen, sozialen Widerstand zu brechen.

Die wichtigste Lektion des Arabischen Frühlings ist vielmehr die Einsicht, dass der Erfolg einer Revolution sich nicht am Sturz des Diktators messen lässt. Vielmehr bildet dieser erst den Auftakt für tiefergehende Transformationen.

Gleichzeitig lernten aber auch die arabischen Zivilgesellschaften dazu. Dies äußert sich nicht nur auf der taktischen Ebene. Die wichtigste Lektion des Arabischen Frühlings ist vielmehr die Einsicht, dass der Erfolg einer Revolution sich nicht am Sturz des Diktators messen lässt. Vielmehr bildet dieser erst den Auftakt für tiefergehende Transformationen. In Algerien blieben Protestierende auch sechs Monate nach Bouteflikas Abdanken noch auf der Straße und ringen mit der Armee um einen strukturellen Wandlungsprozess anstelle kosmetischer Reformen.

Im Sudan zog sich die Bewegung trotz brutaler Repression erst zurück, als ein Abkommen zwischen den zivilen Akteuren und dem Militär über eine dreijährige Transitionsphase ausgehandelt war. Und auch im Libanon sahen Hundertausende im Rücktritt von Premierminister Saad al-Hariri gegen den Willen seines Koalitionspartners, der einflussreichen Hizbollah, nur einen Etappensieg. Als nächsten Schritt fordern sie nun die Einsetzung einer Technokratenregierung und mittelfristig die komplette Abschaffung des konfessionellen Proporzsystems, nach dem in der libanesischen Demokratie bislang die wichtigsten Staatsämter verteilt werden. Der lange Atem der Protestierenden schlägt sich nicht zuletzt auch in den Protestchören nieder, etwa dem populären Slogan „entweder wir siegen, oder wir werden Ägypten“.

Ob es den  Massenbewegungen so gelingen wird, die über Jahrzehnte etablierten oligarchischen Herrschaftsstrukturen in der Region nachhaltig zu verändern, ist offen.  Europa sollten ihre Durchhalteparolen indes aufhorchen lassen. Denn sie deuten an, dass die Region so schnell nicht zur Ruhe kommen wird. Der Westen reagiert bisher sehr zurückhaltend. Angesichts der ernüchternden Bilanz des „ersten“ Arabischen Frühlings, ist der Enthusiasmus der internationalen Gemeinschaft gebremst. Man sorgt sich in Berlin und Brüssel, dass der Sudan zu einem zweiten Libyen wird, dass Algerien dem ägyptischen Szenario folgt.

Wie die Regime und Aktivisten in der Region, so müssen auch die politischen Entscheidungsträger in Europa aus den Fehlern der Vergangenheit lernen.

Auch die Ratlosigkeit in der europäischen Migrationspolitik trägt nicht dazu bei, dass Entscheidungsträger hierzulande den neuen Protestbewegungen unter die Arme greifen. Nicht zuletzt ist das europäische Echo auf die Proteste auch deshalb so verhalten, da die etablierten Demokratien derzeit selbst mit Nationalismus und einer Erosion demokratischer Spielregeln zu kämpfen haben. Wenn das eigene Haus brennt, ist der Blick über das Mittelmeer getrübt. Diese Habachtstellung ist verständlich, jedoch gefährlich. Sie riskiert, dass andere Player ihren autoritären Fußabdruck auf dem ohnehin wenig regulierten Spielfeld des Nahen Ostens und Nordafrikas noch vergrößern. Russland sendet durch sein militärisches Engagement in Syrien bereits seit Jahren die Botschaft, dass es im Gegensatz zum Westen seine Verbündeten in der Region nicht im Stich lässt.

Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate investieren ebenfalls massiv in den Aufbau und die Absicherung verbündeter Autokraten – obgleich sie nicht einmal selbst von Volksaufständen betroffen waren. Die Früchte dieser Politik kann man in Ägypten beobachten, wo eine Konterrevolution tausende Tote und zehntausende politische Gefangene forderte. Oder in Libyen, wo ein ehemaliger Militärgeneral seit dem Frühjahr einen Feldzug gegen die – auch von Deutschland – anerkannte Zentralregierung führt. Von Jemen und Syrien ganz zu Schweigen.

Wie die Regime und Aktivisten in der Region, so müssen auch die politischen Entscheidungsträger in Europa aus den Fehlern der Vergangenheit lernen: Etwa, dass Generäle keine verlässlichen Partner für demokratische Transitionen abgeben; dass Aktivistinnen und Aktivisten zur leichten Beute für Sicherheitsdienste werden, sobald der Schutz von Massenprotesten wegfällt; dass neoliberale Strukturanpassungsreformen die sozialen Krisen in der Region nur verschärfen; und dass aus Protest-Repressionsdynamiken rasend schnell gewaltsame Konflikte in Europas Nachbarschaft erwachsen können, die auch für die europäischen Gesellschaften irreversible Folgen haben.

Ob zweiter Frühling oder nicht – die aktuellen Mobilisierungsmomente bieten Europa eine zweite Chance: Um entschlossen sozio-ökonomische und politische Teilhabe zu unterstützen, wo man 2011 zu zaghaft war; um dort genauer hinzusehen, wo man sich 2012 und 2013 allzu leicht auf die Demokratieversprechen geläuterter Monarchen oder militärgestützter Übergangsregierungen verließ; und um mit finanzieller und technischer Unterstützung zur Seite zu stehen, wo Machthaber echte Bereitschaft zeigen, den Gesellschaftsvertrag mit ihrer Bevölkerung grundlegend neu zu verhandeln. Diese historische Chance darf sich Europa nicht entgehen lassen