Nach fünf Monaten des Krieges in Gaza infolge des brutalen Anschlags der Hamas vom 7. Oktober 2023 hat die Regierung um Benjamin Netanjahu keines der formulierten Kriegsziele auch nur annähernd erreicht. Die Hamas als Organisation ist geschwächt, aber nicht zerschlagen, und hat in Rekordgeschwindigkeit eine Metamorphose von der paramilitärischen, territorialen Organisation hin zu einer Guerillatruppe vollzogen, die noch immer in der Lage ist, der israelischen Armee in Gaza empfindliche Verluste zuzufügen. Bislang wurde auch nur die Hälfte der Geiseln befreit – noch immer befinden sich rund 130 Personen in unbekannten, vermutlich grausamen Umständen in der Gewalt der Hamas. Wie viele noch am Leben sind, ist unbekannt.
Grundsätzlich erscheint die nachhaltige militärische Zerschlagung der Hamas unrealistisch. Nur eine absolute Minderheit von sieben Prozent der terroristischen Gruppen, die in der Vergangenheit in anderen Konflikten den bewaffneten Kampf aufgaben, wurden durch militärische Gewalt besiegt. Die große Mehrheit wurde Teil eines politischen Prozesses und schwor im Rahmen dessen der Gewalt ab. Hinzu kommt, dass die Hamas nicht nur eine militärische, sondern auch eine politische und soziale Bewegung ist – eine Idee, die nicht mit militärischen Mitteln zerschlagen werden kann.
Am 15. März kündigte Benjamin Netanjahu die von vielen befürchtete Offensive auf die Stadt Rafah im Süden des Gazastreifens an. Rafah mit seinen ursprünglich circa 300 000 Einwohnerinnen und Einwohnern beherbergt momentan rund 1,5 Millionen Menschen, die von der israelischen Armee auf der Suche nach etwas Sicherheit dorthin vertrieben wurden. Eine Militärkampagne in der Stadt wäre ein Albtraum mit wahrscheinlich zehntausenden weiteren toten Zivilistinnen und Zivilisten. Verhältnismäßigkeit – das zentrale Kriterium für die Rechtmäßigkeit militärischer Gewalt – scheint mit Blick auf die erwartbar hohe Zahl an zivilen Opfern im Fall einer Offensive auf Rafah nicht gegeben.
Durch den Krieg erlebt der Gazastreifen bereits heute eine regelrechte humanitäre Apokalypse.
Durch den Krieg erlebt der Gazastreifen bereits heute eine regelrechte humanitäre Apokalypse. Jegliche öffentliche Ordnung ist zusammengebrochen und es herrscht ein Machtvakuum, in das mehr und mehr kriminelle Banden und Clans vorstoßen. Das zeigt sich auch immer wieder bei der chaotischen Verteilung humanitärer Güter. Die Situation verschlimmerte sich weiter, als die israelischen Streitkräfte damit begannen, die Polizei in Gaza anzugreifen, die zuvor die Lkw geschützt hatte. Seitdem treten die Polizisten ihren Dienst nicht mehr an, die Hilfslieferungen sind somit schutzlos kriminellen Banden ausgeliefert oder werden von ausgehungerten Menschen überrannt. Immer wieder werden auch Verteilstellen für humanitäre Hilfe angegriffen, der bekannteste dieser Vorfälle ging als das „Mehlmassaker“ in die traurige Geschichte dieses Krieges ein. Das war allerdings nicht der einzige Vorfall dieser Art: Allein im Zeitraum beginnend mit der Anordnung des Obersten Gerichtshofes der Vereinten Nationen im Genozid-Verfahren gegen den Staat Israel bis zum sogenannten Mehlmassaker gab es insgesamt fünf solcher Vorfälle, bei denen Menschen beim Warten auf Hilfsgüter beschossen wurden.
Seit Beginn des Krieges wird von Seiten der teilweise rechtsextremen Regierung Netanjahu humanitäre Hilfe als Druckmittel eingesetzt. Zuletzt forderten Benny Gantz und Gadi Eisenkot, dass die ohnehin geringe Hilfe für die unbeteiligte Zivilbevölkerung an die Freilassung der von der Hamas gehaltenen Geiseln gekoppelt werden solle. Die Forderung stellt eine klare Verletzung humanitärer Grundsätze dar, da humanitäre Hilfe für die unbeteiligte Zivilbevölkerung nicht konditioniert werden darf. Am 24. März 2024 wurde zudem bekannt, dass die israelische Regierung keinerlei Hilfskonvois von UNRWA in den Norden des Gazastreifens mehr genehmigen wird, wo die schwerste humanitäre Krise zu erkennen ist. Diese Ankündigung stellt den Höhepunkt der bisherigen Praxis der Verweigerung des humanitären Zugangs dar und erweckt den Eindruck einer Kollektivbestrafung der dortigen Bevölkerung, da ein Ersatz für UNRWA nicht gegeben ist, schon gar nicht kurzfristig.
Im Gazastreifen herrscht eine menschengemachte Hungersnot, die kaum noch zu kontrollieren ist.
Als Ergebnis der bisherigen Praxis der weitgehenden Verweigerung des humanitären Zugangs und der Konditionierung der Hilfe herrscht bereits heute im Gazastreifen eine menschengemachte Hungersnot, die kaum noch zu kontrollieren ist. Die gesamte Bevölkerung leidet an akuter Nahrungsmittelunsicherheit, erste Hungertote sind verzeichnet. Im Lichte der jüngsten Entwicklungen um UNRWA wird sich die Lage wahrscheinlich massiv verschärfen.
Neben der weitgehenden humanitären Blockade wurden mehr als 160 humanitäre Helferinnen und Helfer getötet, die in bewaffneten Konflikten als besonders geschützte Personen gelten. Dass dies keine massive Kritik an der Kriegsführung hervorrief, ist einer weitreichenden Dämonisierungskampagne geschuldet. Indem UNRWA und die Helferinnen und Helfer in die Nähe der Hamas gerückt werden, wird der Schutzstatus infrage gestellt und der internationale Aufschrei bei Angriffen auf humanitäre Einrichtungen und Personal in Schach gehalten. Lange bevor die Anschuldigungen gegen zwölf der insgesamt 13 000 UNRWA-Mitarbeiter in Gaza bekannt wurden, an den Terroraktionen der Hamas beteiligt gewesen zu sein, twitterte der offizielle Account des Ministeriums für Diasporaangelegenheiten: „UNRWA = Hamas“; Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der palästinensischen Sektion der Rot-Kreuz-/Rot-Halbmond-Bewegung wurden als Terroristen bezeichnet. Diese Strategie der Dämonisierung erwies sich als erfolgreich. Kaum eine Regierung, auch nicht die Bundesregierung, reagierte so empört auf die Tötung von humanitären Helferinnen und Helfern in Gaza, auf die Angriffe auf Schulen und Krankenhäuser oder auf den gezielten Beschuss von bereits genehmigten Hilfskonvois, wie es in der Vergangenheit in anderen Kontexten der Fall war. Mittlerweile gibt es berechtigte Zweifel an den Anschuldigungen. Dazu kommen Vorwürfe seitens der Vereinten Nationen, dass UNRWA-Mitarbeiter in Gefangenschaft misshandelt und zu falschen Geständnissen gezwungen wurden. Der Schaden in Form einer eskalierenden humanitären Lage und eingefrorenen Zuwendungen ist jedoch angerichtet.
Bezogen auf seinen Umgang mit humanitärer Hilfe kann sich Netanjahu jedoch der Zustimmung der Mehrheit der israelischen Bevölkerung sicher sein. Rund 58 Prozent lehnen humanitäre Hilfslieferungen in den Gazastreifen ab, selbst wenn sie nicht durch UNRWA, sondern durch eine andere UN-Agentur geleistet werden. Die stärkste Ablehnung erfährt die humanitäre Hilfe unter rechten jüdischen Israelis mit 80 Prozent, während linke jüdische Israelis sie mit 59 Prozent und palästinensische Israelis sie mit 85 Prozent befürworten. So erklärt sich auch, warum die Netanjahu-Regierung die rechtsextremen Demonstranten in Kerem Shalom, die zeitweise mit Hüpfburgen Lkw blockierten, gewähren lässt, während Demonstranten gegen die Regierung Netanjahu, darunter auch befreite Geiseln, in Tel Aviv mit Wasserwerfern vertrieben werden.
Es entsteht der Eindruck, dass Benjamin Netanjahu in Gaza einen ganzheitlichen Ansatz verfolgt, bezogen auf den Missbrauch humanitärer Hilfe als Waffe: Weitgehendes Blockieren des Zugangs, Zerstörung der humanitären Infrastruktur, zumindest die Inkaufnahme der Tötung von Helferinnen und Helfern sowie die Dämonisierung von Hilfsorganisationen. Hier zeigen sich Ähnlichkeiten mit der Herangehensweise des syrischen Regimes bezogen auf die humanitäre Hilfe. Diese Ähnlichkeit findet auch Ausdruck in der Liste der humanitären Güter, die immer wieder von der israelischen Armee blockiert werden, darunter Anästhetika und weitere medizinische Güter und Geräte – ein Vorgehen, für das das syrische Regime ebenfalls bekannt ist.
Der Umgang mit humanitärer Hilfe reflektiert aber den grundsätzlichen Charakter der in Teilen rechtsextremen Regierung.
Die Kriege in Gaza und Syrien sind jedoch leider keine Einzelfälle. Ähnliches zeigte sich beispielsweise auch in Nagorno-Karabach. Dort führte auch die humanitäre Blockade durch Aserbaidschan zu einem Massenexodus der dort seit Jahrhunderten ansässigen Armenier – ein Szenario, das den Rechtsextremen in Netanjahus Regierung äußerst gelegen käme. Zentraler Unterschied zu den Fällen Syrien und Nagorno-Karabach ist, dass es sich bei der Regierung Netanjahu nicht um ein autoritäres Regime handelt, sondern um die gewählte Regierung eines demokratischen Staates. Das ist bislang einzigartig, zeigt sich doch in der modernen Kriegsführung demokratischer Staaten, die zwar bei weitem nicht immer mit dem humanitären Völkerrecht konform erfolgt, dennoch ein wachsendes Maß an Sensibilität für den Schutz der Zivilbevölkerung und die humanitäre Versorgung.
Der Umgang mit humanitärer Hilfe reflektiert aber den grundsätzlichen Charakter der in Teilen rechtsextremen Regierung, die zwar demokratisch gewählt wurde, aber nicht von wertegebundenen Demokraten getragen wird. Der Regierung liegt ein majoritäres Verständnis von Demokratie zugrunde, gemäß dem alles, was den formal-demokratischen Prozess mit Mehrheit durchläuft, demokratisch legitimiert ist – egal, wie undemokratisch der Inhalt sein mag. Charakteristisch hierfür ist die sogenannte Justizreform der Netanjahu-Regierung, die den obersten Gerichtshof als zentrales Hindernis dieses Demokratieverständnisses ausschalten sollte.
Ohne einen sofortigen Waffenstillstand, der auch die Freilassung der Geiseln ermöglicht, ist die humanitäre Katastrophe nicht mehr zu kontrollieren.
Ohne einen sofortigen Waffenstillstand, der auch die Freilassung der Geiseln ermöglicht, ist die humanitäre Katastrophe nicht mehr zu kontrollieren. Die Bundesregierung sollte daher alles dafür tun, die angekündigte Offensive auf Rafah zu verhindern. Eine Projektion der London School of Hygiene and Tropical Medicine geht davon aus, dass selbst bei einem Waffenstillstand bis August 2024 weitere circa 6 000 Menschen aufgrund der sekundären Effekte – etwa Hunger und das zerstörte, dysfunktionale Gesundheitswesen – ihr Leben verlieren würden. Bei Aufrechterhaltung der Kampfhandlungen würden weitere 58 000 Menschen und bei einer Eskalation, besonders in Rafah, weitere geschätzte 75 000 Menschen durch Kampfhandlungen und sekundäre Effekte sterben. Ein mögliches Auftreten von Seuchen ist in den Berechnungen noch nicht enthalten, was die Zahlen weiter nach oben schnellen lassen könnte.
Die Bundesregierung sollte sich in aller Schärfe für den Schutz der humanitären Helferinnen und Helfer einsetzen und, auch um ihrer eigenen Glaubwürdigkeit willen, die Angriffe auf und Tötung von humanitärem Personal auf das Schärfste verurteilen. Sie sollte von der israelischen Regierung auch deutlich einfordern, ihrer Pflicht nachzukommen und die öffentliche Ordnung im Gazastreifen zu garantieren und die Anarchie zulasten der Schwächsten zu beenden. Des Weiteren sollte unverzüglich die Finanzierung des UNRWA wieder ermöglicht werden; es ist das einzige leistungsfähige Hilfswerk in Gaza und braucht uneingeschränkten humanitären Zugang zu allen Teilen des Küstenstreifens.
Letzteres wird nur möglich sein, wenn der Regierung von Benjamin Netanjahu die Kontrolle der humanitären Lieferungen an der Grenze zu Gaza entzogen wird. Die Inspektionen müssen künftig sichergestellt werden durch einen internationalen Mechanismus unter Führung des Büros für die Koordinierung Humanitärer Hilfe der Vereinten Nationen (UN OCHA); die israelischen Behörden könnten Beobachterinnen und Beobachter entsenden. Zur dauerhaften Überwachung des Zugangs sollte eine internationale Task-Force bei den UN eingesetzt werden, die die Einschränkungen des Zugangs innerhalb Gazas von allen Konfliktparteien überwacht und den Zugang entsprechend politisch durchsetzt.