Russlands militärische Aggression gegen die Ukraine war ein Schock für die arabischen Staaten. Denn die meisten von ihnen unterhalten enge wirtschaftliche Beziehungen sowohl zu Moskau als auch zu Kiew. In vielen Staaten droht als Folge der Invasion und der gegen Russland verhängten Sanktionen eine schwere Nahrungsmittelkrise. Etwa 70 Prozent der russischen und 40 Prozent der ukrainischen Exporte von Weizen, Mais und Sonnenblumenöl gehen in den Nahen Osten und nach Afrika. In Ägypten steigt der Brotpreis derzeit so stark, dass das Land – auch vor dem Hintergrund der Abwertung des Ägyptischen Pfunds gegenüber dem US-Dollar um etwa 18 Prozent – bereits den IWF um Hilfe gebeten hat.
Die wirtschaftlichen Schwerpunkte der einzelnen Länder offenbaren, welche Entwicklungen dort die größten Auswirkungen zeigen: In den Golfmonarchien ist es vor allem die Instabilität auf dem Energiemarkt. Insbesondere in den Emiraten und in Ägypten besteht auch große Sorge vor dem Ausbleiben von Touristen und mögliche Beeinträchtigungen der Versorgungslage.
In den arabischen Medien wird ausführlich über den Krieg in der Ukraine berichtet. Viele versuchen, die Positionen Moskaus und Kiews gleichermaßen wiederzugeben. Große panarabische Medien – vor allem die in London ansässige Zeitung Ash-Sharq al-Awsat oder der Sender Al-Arabiya aus den Vereinigten Arabischen Emiraten – geben auch eindeutigere Einschätzungen des Geschehens ab. Dort äußern sich Expertinnen und Experten zur Verletzung der ukrainischen Souveränität und territorialen Integrität und zum Völkerrechtsbruch durch Russland.
Etwa 70 Prozent der russischen und 40 Prozent der ukrainischen Exporte von Weizen, Mais und Sonnenblumenöl gehen in den Nahen Osten und nach Afrika. In vielen Staaten droht eine schwere Nahrungsmittelkrise.
Der Fernsehsender Al Jazeera aus Katar hat mehrere Korrespondenten in die Ukraine entsendet. Seine Berichterstattung ist oftmals kritisch gegenüber dem Westen. So wird etwa die Doppelmoral der westlichen Staaten in Bezug auf die neue Fluchtbewegung thematisiert. Man erinnert sich gut daran, dass 2015 Menschen aus dem Nahen Osten große Schwierigkeiten hatten, in die EU einzureisen – manche Staaten verweigerten die Aufnahme komplett. „Die Ukrainer sind Europäer, wir nicht. Westliche Länder hören sie, uns aber nicht“, bemerkt dazu der libanesische Journalist Hazem Sagie in der Zeitung Ash-Sharq al-Awsat. Einige Analysten vergleichen das Vorgehen Russlands in der Ukraine mit der Besetzung palästinensischer Gebiete durch Israel und erinnern an die zurückhaltenden europäischen Reaktionen auf die israelische Siedlungspolitik im Westjordanland.
Traditionell zeichnen sich die arabischen Staaten nicht gerade durch eine Einigkeit in ihren außenpolitischen Positionen aus. Dementsprechend gibt es auch zum Ukraine-Krieg keine gemeinsame Haltung. Bei den meisten Staaten ist eine gewisse Zurückhaltung spürbar. Die Ausnahme stellt Syrien dar, das stark vom Kreml abhängt. Damaskus unterstützte sofort die Unabhängigkeit der sogenannten Volksrepubliken Lugansk und Donezk und begrüßte Wladimir Putins Invasion der Ukraine.
Die Arabische Liga gab am 28. Februar eine vorsichtige Stellungnahme ab. Russland wird darin nicht einmal erwähnt. Die Invasion der Ukraine Gebiet wird als „Krise“ bezeichnet, die „diplomatisch gelöst“ werden solle. Die Regierungen vieler arabische Staaten beschränken sich in ihren offiziellen Äußerungen ebenfalls hauptsächlich auf Aufrufe zur Deeskalation und betonen die Notwendigkeit eines Waffenstillstands. Ein Grund für diese Zurückhaltung ist neben den Beziehungen zu Moskau ein Misstrauen gegenüber dem Westen, vor allem den USA. Dieses hat sich nach dem überstürzten Abzug der US-Truppen aus Afghanistan im vergangenen Jahr noch verstärkt.
Die Arabische Liga gab am 28. Februar eine vorsichtige Stellungnahme ab. Russland wird darin nicht einmal erwähnt.
Hinzu kommt, dass einige Staatschefs in der Golfregion durchaus freundschaftliche Beziehungen zu Präsident Putin unterhalten. Für die Vereinigten Arabischen Emirate und Saudi-Arabien bleibt es weiterhin wichtig, die Absprachen von OPEC+, der Kooperationsplattform mit Nicht-OPEC-Staaten wie Russland, einzuhalten. Diese stellen einen Schlüssel für die wirtschaftliche Erholung der Ölförderländer dar. Staaten wie Ägypten, Algerien, Marokko, Tunesien oder der Irak, die auf Weizenimporte aus Russland und der Ukraine angewiesen sind, sehen in einer neutralen Haltung offenbar den besten Weg, um Auswirkungen auf ihre Ernährungslage zu minimieren.
Gleichzeitig gibt es Kräfte, die das Vorgehen des Kreml offen kritisieren. So verurteilte das libanesische Außenministerium Moskau gleich am 24. Februar wegen der Verletzung der territorialen Integrität der Ukraine und forderte eine „sofortige Einstellung der Militäroperation“. Auch libysche Regierungsvertreter warfen Russland wenige Tage später einen Völkerrechtsbruch vor. Saudi-Arabien und Katar versuchen, zwischen den Kriegsparteien zu vermitteln. Die Außenminister beider Staaten rufen ihre Amtskollegen in Moskau und Kiew regelmäßig an. Die Verhandlungen in Istanbul bleiben allerdings die einzige vielversprechende Plattform für ein mögliches Friedensabkommen.
Die Länder des Nahen Ostens erhalten von der EU – auf der Suche nach Alternativen zur Energieversorgung durch Russland – derzeit viel Aufmerksamkeit. Am 20. März reiste der deutsche Vizekanzler und Minister für Wirtschaft und Klimaschutz Robert Habeck nach Katar, um über eine langfristige Wirtschaftspartnerschaft, insbesondere die Lieferung von Flüssigerdgas (LNG) nach Deutschland, zu verhandeln. Bereits im Vorfeld hatte Katars Energieminister Saad bin Sharid al-Kaabi erklärt, dass das Land noch nicht in der Lage sei, russische Gaslieferungen in die EU zu ersetzen. Katar wurde im vergangenen Jahr zum größten LNG-Produzenten der Welt. Ein Großteil der Produktion wird allerdings im Rahmen langfristiger Verträge an Kunden aus Asien verkauft. Nach Angaben der katarischen Behörden können nur 10 bis 15 Prozent des Flüssigerdgases aus dem Land kurzfristig in Richtung Europa umgeleitet werden – und auch das nur nach Genehmigung durch asiatische Importeure. Katar plant aktuell 30 Milliarden US-Dollar in die Verdopplung seiner Produktionskapazitäten zu investieren. Dieses Vorhaben wird jedoch nicht vor 2025 abgeschlossen sein.
Das mögliche Scheitern der Invasion lenkt die Aufmerksamkeit der russischen Führung von anderen Bereichen ihrer Außenpolitik ab. Dazu zählt auch Syrien.
Auch Libyen und Algerien könnten für die EU Alternativen bei der Öl- und Gasversorgung darstellen. Algerien zählt bereits zu den fünf größten LNG-Produzenten für den europäischen Markt. Aber auch hier braucht es große Investitionen, um die Produktionskapazität zu erhöhen. Ein Problem besteht darin, dass Deutschland keine speziellen LNG-Terminals besitzt. Die Anlagen in Brunsbüttel und Wilhelmshaven, deren Bau die Bundesregierung nach Kriegsausbruch beschloss, werden frühestens 2026 in Betrieb genommen.
Das mögliche Scheitern der Invasion lenkt die Aufmerksamkeit der russischen Führung von anderen Bereichen ihrer Außenpolitik ab. Dazu zählt auch Syrien. Die Aktivitäten russischer Truppen sind dort zuletzt spürbar zurückgegangen, beispielsweise Luftangriffe im Grenzgebiet zum Irak, wo immer noch Reste des IS operieren. Vor dem Hintergrund sich verschlechternder Beziehungen zum Westen könnte Moskau sein Veto gegen eine Verlängerung der Resolution 2585 des UN-Sicherheitsrats einlegen. Diese erlaubt es aktuell noch, humanitäre Hilfe für den Nordwesten Syriens über die Türkei zu liefern. Das könnte die humanitäre Situation vor Ort erheblich verschärfen – von bereits bestehenden Lieferunterbrechungen bei russischen Lebensmitteln ganz abgesehen. Die Schwächung des russischen Einflusses könnte die Türkei ermutigen, in Nordsyrien weiter Fuß zu fassen. Der Ukraine-Krieg vermag somit über die ganze Region hinweg Kettenreaktionen auszulösen.
Aus dem Russischen von Roland Bathon