Die zweite Libyenkonferenz auf Einladung von Bundesaußenminister Heiko Maas und UN-Generalsekretär António Guterres in Berlin steht kurz bevor. Eineinhalb Jahre nach der ersten Konferenz im Januar 2020 soll Bilanz gezogen und auf dem Weg hin zu Frieden und Einigung des Landes weiter vorangegangen werden. Das große Engagement Deutschlands hat einige vorzeigbare Erfolge gebracht: Der Waffenstillstand zwischen den verfeindeten Gruppen ist beständig, die Sicherheitslage ruhig. Die neu gegründete Einheitsregierung bringt dem Land Stabilität und könnte dessen langjährige Spaltung überwinden. Alle schauen nun auf den Wahltermin am 24. Dezember dieses Jahres, wenn Parlament und Präsident neu gewählt werden sollen.

Andererseits stellen knapp zwei Jahre Berliner Prozess nicht wirklich ein Gegengewicht zu 40 Jahren Diktatur und staatlicher Auflösung dar. Menschenrechtsverletzungen sind an der Tagesordnung, die Abhängigkeit von bewaffneten Gruppen bleibt bestehen, Versammlungs- und Redefreiheit sind massiv eingeschränkt. An der Situation von Flüchtlingen sowie Migrantinnen und Migranten zeigt sich die prekäre Lage der Menschenrechte.

Wo Staatlichkeit zerfällt, gelten bald nur mehr die Rechte der Stärkeren, nicht die Stärke des Rechts. Deshalb ist die Aufbauarbeit, die maßgeblich durch deutsche Vermittlung zustandekommt, so wichtig. Stehenbleiben dürfen wir dabei jedoch nicht länger. Die Menschenrechte können nicht länger warten, weil die Menschen nicht länger warten können. Das belegen die zunehmenden Überfahrten Richtung Italien. Mehr als doppelt so viele Tote sind hier in diesem Jahr im Vergleich zum ersten Halbjahr 2020 zu beklagen. 

Die Libysche Küstenwache ist nur zum Teil unter der Hoheit der Regierung tätig und bringt aufgegriffene Migranten in die berüchtigten Detention Camps an Land. Über sie ist als moderne Sklavenmärkte auch bei uns in den Medien immer wieder berichtet worden. Während die Zahl der dort Inhaftierten bis Jahresanfang von über 20 000 auf etwa 1 000 Personen reduziert werden konnte, steigen die Zahlen seitdem wieder an. Hilfsorganisationen wie die Internationale Organisation für Migration (IOM) schlagen entsprechend Alarm. Deshalb darf es nicht nur um Frieden, es muss auch um Menschenrechte gehen. Das eine ist ohne das andere letztlich nicht zu haben.

Menschenrechtsverletzungen sind an der Tagesordnung, die Abhängigkeit von bewaffneten Gruppen bleibt bestehen

Der Libyenkonferenz stellt sich damit ein klarer Auftrag: Wer einen Frieden verhandeln kann, der kann der neuen Regierung auch auftragen, diese Camps aufzulösen und die Betreuung der gestrandeten Arbeitsmigranten und Geflüchteten aus dem Süden den professionellen Organisationen und zivilen Helfern anzuvertrauen. Sie brauchen endlich ungehinderten Zugang und auch die Mittel, damit ihre Hilfe ankommt, wo sie gebraucht wird. Vor den letzten Kampfhandlungen bot ein Zentrum für Geflüchtete in der Trägerschaft des UNO-Flüchtlingswerks, die Gathering und Departure Facility in Tripolis, Unterkunft, Versorgung, Beratung und Rückkehrhilfen. Das war das Gegenmodell zu den Detention Camps. An diese Arbeit gilt es wieder anzuknüpfen. 

Libyen kann mittelfristig wieder ein wirtschaftlich erfolgreiches Land werden, das mit seiner geringen Einwohnerzahl auch Migrantinnen und Migranten aus anderen afrikanischen Ländern Perspektiven bietet. Dafür und auf dem Weg dorthin braucht es Unterstützung, wie sie bereits anlässlich des EU-Afrika-Gipfels in einer gemeinsamen Erklärung zu Libyen angelegt, dann aber aufgrund des Bürgerkrieges praktisch unmöglich geworden war. Aufgrund des Krieges sind viele ehemalige Arbeiter ohne Versorgung und Rechte geblieben. Für sie braucht es einen ordentlichen Aufenthaltsstatus. Außerdem befinden sich in Libyen derzeit knapp 43 000 Geflüchtete. Geht man von den etwa 1 500 Euro je Flüchtling aus, mit denen die EU in der Türkei hilft, wäre dies für Libyen ein Betrag von gut 64 Millionen Euro, im Vergleich zu den sechs Milliarden Euro dort also ein geringer Betrag. Wie in der Türkei wäre dieser nicht der Regierung, sondern den Hilfsorganisationen zur Verfügung zu stellen. Wer menschenrechtliche Standards und Versorgung sicherzustellen hilft, lindert auch den Druck, der Menschen dazu bringt, sich weiter auf die gefährliche und oftmals tödliche Weiterreise zu begeben.  

Analog zur EU-Türkei-Vereinbarung, aber im Bewusstsein ihrer unzureichenden Umsetzung, wären dabei außerdem zwei Punkte zu beachten: Erstens die Chance von Flüchtenden, sich überhaupt in Sicherheit bringen zu können. Dazu ist das Grenzmanagement auf See und an Land an Menschenrechten zu orientieren und Ausbildung und Zusammenarbeit mit europäischen Behörden darauf auszurichten und zu evaluieren. Sicherstellen wird man das wohl nur, wenn man nicht nur ausbildet und danach wieder verschwindet, sondern Einsätze auf Zeit auch begleitet.

Und zweitens ein Kontingent, um besonders verletzliche und schutzbedürftige Gruppen in aufnahmebereiten europäischen Ländern neu anzusiedeln (Resettlement). Im Gegenzug sollte Libyen die Genfer oder Afrikanische Flüchtlingskonvention und damit grundlegende Schutzrechte für Verfolgte anerkennen.  

Seit Jahresbeginn steigen die Zahlen von Flüchtenden von sehr niedrigem Niveau aus langsam überall rund um das Mittelmeer an.

Was es nun braucht, ist eine europäische Einwanderungsgesetzgebung. Legale und sichere Wege zur Aufnahme schwächen den Druck ab, die gefährliche Reise über das Mittelmeer mit ungewissem Ausgang auf eigene Faust in Angriff zu nehmen. Schon immer haben etwa aus Tunesien Schiffe abgelegt, deren Insassen in Italien bei der Ernte gebraucht wurden. Gebraucht werden sie immer noch, legale Zugangswege werden dagegen nicht oder nicht ausreichend eröffnet. Zumeist trauen sich die illegalen Arbeitskräfte nicht, sich gegen die schlechten Arbeitsbedingungen zu wehren. Eine solche Politik ist zynisch und muss ein Ende haben. Wenn Italien bei der Bewältigung der Migration nun um Hilfe bittet, darf man das Land auch an seine Hausaufgaben erinnern. 

Zivilgesellschaftliches Engagement in der privaten Seenotrettung verdient Respekt und Unterstützung. Kriminalisierung und Behinderung dieser Aktivitäten müssen ein Ende haben. Auch wenn alle beschriebenen Maßnahmen greifen, wird es Menschen geben, die den Weg aus Verfolgung und Elend über das Meer suchen und die dafür zweifelhafte Hilfe in Anspruch nehmen, wenn keine andere Hilfe angeboten wird. Geraten sie in Seenot, geht es nicht mehr um Gründe, Motive, Bewertungen, sondern schlicht um Lebensrettung. Dazu braucht es wieder eine staatliche Seenotrettung, die gleichzeitig organisierte Kriminalität auf dem Rücken der Flüchtlinge eindämmen kann, wie es die frühere italienische Mission Mare Nostrum bewiesen hat. 

Seit Jahresbeginn steigen die Zahlen von Flüchtenden von sehr niedrigem Niveau aus langsam überall rund um das Mittelmeer an. Das gilt für die griechischen Inseln, für die zentrale Mittelmeerroute und besonders für den Westen in Richtung Kanaren. Alles in allem kein Grund zur Panik, es geht um ein paar tausend Menschen auf der einen und einen Kontinent mit über 700 Millionen Einwohnern auf der anderen Seite. Besorgniserregend wäre dies nur, wenn Desinteresse oder fehlende Aufmerksamkeit eine aktive Strategie verhinderten, mit der Menschenrechte gesichert und Interessen aller Beteiligten gewahrt werden können.

Insgesamt braucht es für diese Arbeit Durchsetzungskraft, Ressourcen und einen klaren Fokus. Ein deutscher Innenminister, der eine Reise tut, oder eine Abteilungsleiterin aus Europa, auch wenn sie den Titel einer Kommissarin trägt, werden das nicht bewerkstelligen können. Migration ist eine der großen Herausforderungen unserer Zeit. Sie ist gestaltbar und kann zum Wohle aller Beteiligten sein. Dies gelingt aber weder, wenn man sie verhindern will, noch, wenn man sie einfach ungesteuert laufen lässt. Dazu muss sie Chefsache werden. Ohne einen europäischen Beauftragten für die Verhandlungen zur Migration, eine ehemalige Regierungschefin oder ein ähnliches Kaliber wird es nicht gehen.