Ihr Tod dürfte den Iran kurzfristig in eine innenpolitische Krise stürzen, deren mittel- bis langfristige Folgen sich derzeit noch nicht abschätzen lassen: Am 19. Mai kamen Irans Präsident Ebrahim Raisi und Außenminister Hossein Amir-Abdollahian bei einem Hubschrauberabsturz im Nordwesten des Landes ums Leben. Der Präsident war das Gesicht des Umbaus der Islamischen Republik. Gestützt auf Ebrahim Raisi und die radikalen Kräfte des Landes wickelte der Oberste Führer Irans, Ali Chamenei, jenen begrenzten islamistischen Pluralismus praktisch vollständig ab, den das Regime seit 1979 zugelassen hatte. Musste Chamenei, der 1989 eher als Verlegenheitskandidat an die Macht kam, in den ersten Jahrzehnten seiner Amtszeit in der Islamischen Republik mit starken Präsidenten konkurrieren, ist er heute innerhalb des Systems das unumstrittene Machtzentrum.
Eine Zäsur auf diesem Weg waren die Parlamentswahlen 2020, von denen massenhaft Kandidaten aus den Reihen der moderaten Konservativen und Reformisten sowie nahezu alle Frauen ausgeschlossen wurden. Dasselbe Muster wiederholte sich bei der Präsidentschaftswahl 2021, bei der Raisi – der 2017 noch dem moderat-konservativen Hassan Rohani unterlegen war – ohne nennenswerte Konkurrenz antrat, sowie bei den jüngsten Parlamentswahlen im März 2024.
Die Islamische Republik wandelte sich von einem repressiv autoritären Regime mit begrenztem, aber nichtsdestotrotz existentem politischem Wettbewerb zu einer theokratischen Diktatur, die sich zunehmend allein auf das Militär in Gestalt der Revolutionsgarden stützt. Raisis Scheinwahl 2021, bei der die Wahlbeteiligung nur noch 48,5 Prozent betrug, ebenso wie der Frau-Leben-Freiheit-Aufstand 2022 zeigen ein bisher nie gekanntes Ausmaß an Abwendung des iranischen Volkes vom herrschenden islamistischen Regime.
Raisi verkörperte auch schon vor seinem politischen Aufstieg die hässlichste Fratze des Regimes.
Raisi verkörperte auch schon vor seinem politischen Aufstieg die hässlichste Fratze des Regimes. Als „Schlächter von Teheran“ spielte er 1988 als Staatsanwalt eine zentrale Rolle bei der Verhängung tausender Todesurteile gegen politische Gefangene aus den Reihen der Volksmudschaheddin, aber auch linker und kurdischer Gruppen. Ab 2019 trug er als Chef der Justiz Verantwortung und verschärfte das Vorgehen von Justiz und Sicherheitsbehörden. Als Präsident schließlich verantwortete Raisi die brutale Niederschlagung des Frau-Leben-Freiheit-Aufstands im Herbst 2022 und die Vollstreckung hunderter Todesstrafen. In Relation zur eigenen Bevölkerung richtet kein Land der Welt mehr Menschen hin als der Iran. Tausende Oppositionelle sitzen in den Folterkerkern des Regimes, darunter auch Narges Mohammadi, die Friedensnobelpreisträgerin des Jahres 2023.
Aber nicht nur als Unterdrücker machte sich Raisi einen Namen. Unter seiner Regierung verschlimmerte sich auch die wirtschaftliche Misere vieler iranischer Haushalte. Das Land leidet unter galoppierender Inflation, die regelmäßig bei über 40 Prozent liegt. Nahrungsmittel, Wohnraum und viele Güter des täglichen Bedarfs werden für breite Teile der Bevölkerung zunehmend unerschwinglich. Die einst politisch und zivilgesellschaftlich bedeutende Mittelschicht verarmt. Auch die dem Regime historisch eher wohlgesinnten Milieus leiden. Doch statt auf Reformen und international auf die Aufhebung der Sanktionen hinzuarbeiten, setzte Raisi voll und ganz auf die Umsetzung der sogenannten „Widerstandswirtschaft“. Diese zielt nominell auf eine „Neutralisierung“ der westlichen Sanktionen, ist de facto aber ein Vehikel für Regime-Insider, vom Schmuggel und der Abwesenheit internationaler Konkurrenz auf dem heimischen Markt zu profitieren.
Anders als in der Innenpolitik fällt die außenpolitische Bilanz Raisis differenzierter aus. Gegenüber dem Westen setzte Raisi im Nukleardossier eindeutig auf Konfrontation. Von einer bereits ausgehandelten Verhandlungslösung zur Wiederbelebung des Atomabkommens von 2015 zog sich Iran unter seiner Führung im Sommer 2022 zurück. Stattdessen schränkte das Land seine Kooperation mit der Internationalen Atomenergie-Organisation ein und baute parallel dazu sein Nuklearprogramm erheblich aus. Iran produziert heute nahezu atomwaffenfähiges Uran und gilt, ohne bislang abschließend eine Entscheidung für den Bau einer Atombombe getroffen zu haben, als nuklearer Schwellenstaat.
Der russische Krieg gegen die Ukraine veränderte auch die Machtdynamik zwischen Teheran und Moskau.
Die Konfrontation mit dem Westen verschärfte Raisi auch mit der Unterstützung des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine durch die Lieferung von Drohnen. Unter Raisi wandte sich Iran stärker als je zuvor Russland zu und vertiefte die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen. Der russische Krieg gegen die Ukraine veränderte auch die Machtdynamik zwischen Teheran und Moskau: War Iran zuvor stark von Russland abhängig, erarbeitete man sich durch die Unterstützung mehr Handlungsspielraum, der sich beispielsweise in Syrien zeigte.
Der steigende Antagonismus mit dem Westen ging regional mit einer gegensätzlichen Entwicklung einher. Waren die Beziehungen zu den meisten Staaten in Irans Nachbarschaft angespannt, machte sich Raisi auf, dies zu ändern. Von China protegiert, verkündeten die Erzrivalen Iran und Saudi-Arabien im März 2023 eine Annäherung, nahmen nach über sieben Jahre wieder diplomatische Beziehungen auf und stoppten damit einstweilen die Eskalationsspirale der vergangenen Jahre. Im November 2023 besuchte Raisi Saudi-Arabien, der erste Besuch eines iranischen Präsidenten nach elf Jahren. Auch das vormals angespannte Verhältnis zu den Vereinigten Arabischen Emiraten verbesserte sich, während Iran auch das Verhältnis zu anderen Nachbarstaaten wie Pakistan ausbaute.
Raisi forcierte auch den Ausbau von Irans Beziehungen zu Ländern des Globalen Südens.
Raisi forcierte auch den Ausbau von Irans Beziehungen zu Ländern des Globalen Südens. Einher ging dies mit dem Bemühen, dem Multilateralismus westlicher Prägung Alternativen entgegenzusetzen, etwa durch Irans Beitritt zu multilateralen Organisationen wie den BRICS oder der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit und durch die Förderung von Formaten wie dem Astana-Prozess oder der 3+3-Kooperationsplattform im Kaukasus, an denen westliche Staaten nicht beteiligt sind. Iran wirkt damit auch westlichen Bemühungen entgegen, die Islamische Republik zu isolieren.
Der Gaza-Krieg belastet die regionale Annäherung zwar, beendete den Prozess aber nicht. Vielmehr ist der Erzfeind Israel in der Region heute deutlich isolierter als die Islamische Republik, die den Konflikt und ihre Unterstützung für Israel attackierende Milizen nutzt, um an Popularität unter den arabischen Bevölkerungen zu gewinnen. Die jüngste Eskalation im Rahmen eines direkten iranischen Beschusses Israels, als Reaktion auf den israelischen Angriff auf Irans Botschaft in Damaskus, ging vorerst glimpflich aus. Für den Iran ging es um eine Machtdemonstration, die die Abschreckungsfähigkeit wiederherstellen sollte. Gleichzeitig wurde auf diplomatischen Kanälen gerade den USA intensiv kommuniziert, dass Teheran keinen Regionalkrieg suche.
Dass neben Raisi bei dem Hubschrauberabsturz auch Außenminister Amir-Abdollahian ums Leben kam, ist für die iranische Außenpolitik ein herber Schlag. Amir-Abdollahian, der den Revolutionsgarden nahestand und für die Integration ihrer Anliegen in die iranische Außenpolitik stand, sprach fließend Arabisch und pflegte enge Kontakte zu wichtigen arabischen Entscheidungsträgern. Dennoch darf der Einfluss beider Persönlichkeiten auch nicht überschätzt werden. Richtungsweisende Entscheidungen werden von der Führung um Ali Chamenei und den Revolutionsgarden getroffen, weshalb Iran seinen aktuellen außenpolitischen Kurs beibehalten dürfte.
Formell beauftragte der Oberste Führer Raisis ersten Vizepräsidenten, Mohammad Mokhbar, mit der interimsweisen Übernahme der Regierungsgeschäfte. Zusammen mit den Spitzen aus Judikative und Legislative soll dieser nun binnen 50 Tagen Neuwahlen organisieren. Mokhbar ist ein Chamenei-treuer Apparatschik, der bislang öffentlich weitgehend im Hintergrund geblieben ist. Als Nachfolger Raisis drängt sich unmittelbar kein Kandidat auf. Spekuliert wird verschiedentlich, Mohammad Bagher Ghalibaf könnte antreten, Sprecher des Parlaments und ehemals Bürgermeister der Hauptstadt Teheran. Indes stammt Ghalibaf nicht aus dem Raisi-Lager, das bislang an der Macht war. Raisi hatte auch keinen prominenten Stellvertreter oder politischen Protegé.
Anders als mit Raisi hat Chamenei keinen langen Vorlauf, um einen Kandidaten seiner Wahl aufzubauen.
Bei den vergangenen Wahlen waren die Ergebnisse bereits im Vorfeld klar, da das Regime vorab potenziell aussichtsreiche Konkurrenz seiner Wunschkandidaten nicht zur Wahl zuließ. Wer nunmehr Chameneis Wunschkandidat wird und ob dieser lagerübergreifend in den Reihen der Hardliner vermittelbar ist, ist offen. Anders als mit Raisi hat Chamenei keinen langen Vorlauf, um einen Kandidaten seiner Wahl aufzubauen.
Teheran stehen daher Wochen intensiver Machtkämpfe bevor. Auf dem Spiel steht nicht nur das Erbe Raisis im engeren Sinn, im Raum steht vor allem die Nachfolge des 85-jährigen Obersten Führers Chamenei – für die das Regime eigentlich Raisi vorgesehen hatte. Soll der Raisi-Nachfolger auch designierter Chamenei-Erbe sein, müsste er ein politisch erfahrener Kleriker sein, was die Suche nach potenziellen Kandidaten weiter erschweren würde.
Für die mittel- bis langfristige Stabilität des Regimes dürfte die Frage der Nachfolgeregelung Chameneis zentral sein. Von entscheidender Bedeutung wird dabei sein, ob es dem Regime gelingt, einen Raisi-Nachfolger als designierten Nachfolger des Obersten Führers zu etablieren – oder ob die Machtkämpfe zwischen den verschiedenen Lagern der Islamischen Republik nach Chameneis Tod eskalieren. Dies könnte auch ein Moment sein, in dem sich – vor dem Hintergrund eines Machtvakuums an der Spitze und von Machtkämpfen innerhalb der Elite – ein weitreichender Wandel vollziehen könnte. Denkbar wäre ein erneuter Aufstand der Bevölkerung ebenso wie ein Putsch aus den Reihen der Revolutionsgarden, die die Islamische Republik zu einer offenen Militärdiktatur umbauen könnten.