Der „7.-Oktober-Krieg“ ist für die israelisch-palästinensischen Beziehungen, aber auch für Israels Allianzen ein strategischer Wendepunkt. Die von der israelischen Regierung vermarktete – und von führenden Politikern des Westens aus Bequemlichkeit übernommene – Vorstellung, die Hamas werde durch Eindämmung und Abschreckung neutralisiert und Israels Integration in die Region sei möglich, ohne dass man sich mit der Palästinenserfrage auseinandersetzt, ist an jenem 7. Oktober in sich zusammengestürzt. Dadurch ist die Diskussion über die Notwendigkeit einer Zweistaatenlösung wieder in den Fokus gerückt. Die Ankündigung Norwegens, Spaniens, Irlands und zuletzt Sloweniens, Palästina als Staat anzuerkennen, bringt neuen Schwung in diese Debatte. Wenn Deutschland in naher Zukunft – idealerweise im Schulterschluss mit Frankreich – den Staat Palästina anerkennen würde, wäre das möglicherweise die Initialzündung für eine Dynamik, die zu einer Anerkennung durch ganz Europa und die Vereinten Nationen und zur lang erwarteten Zweistaatenlösung führen könnte.

Die Entwicklungen der vergangenen sechs Monate haben deutlich gemacht, wie verantwortungslos es war, dass die internationale Gemeinschaft eines der gefährlichsten und explosivsten Konfliktgebiete vernachlässigt hat. Während der Krieg in Gaza andauert, versuchen die globalen Hauptakteure – allen voran die USA – aktiv, die Kämpfe einzudämmen und eine unkontrollierbare Eskalationsspirale in der Region und auf globaler Ebene zu verhindern. Zugleich ist die Diskussion über die Notwendigkeit einer Zweistaatenlösung wieder in den Blickpunkt gerückt. Es ist zu hoffen, dass die internationale Diskussion über die „Zeit danach“ einen strategischen Ausstieg aus diesem Krieg erzwingen wird, der ein israelisch-palästinensisches Friedensabkommen auf der Basis des Zweistaatenparadigmas herbeiführt. Es ist tragisch, dass erst so viel Blut vergossen und so viel Zerstörung angerichtet werden musste, bis die internationale Gemeinschaft im Konflikt zwischen Israel und Palästina wieder zur Besinnung kommt.

Im Gazastreifen sind rund zwei Drittel der Bevölkerung Binnenflüchtlinge, und zur Gefahr durch israelische Bombardierungen hinzu kommen die zunehmende Ausbreitung von Krankheiten und eine drohende Hungersnot. Wenn die Kämpfe – hoffentlich bald – ein Ende haben, werden das Leid und die Verwüstung sofortige und massive humanitäre Zuwendung sowie eine langfristige Planung erfordern. Der Wiederaufbau von Gaza ist von einer politischen Konfliktlösungsstrategie jedoch nicht mehr zu trennen. Nicht nur sind Menschenleben und materielle Schäden zu beklagen; mit jedem Tag, an dem gekämpft wird, verhärten sich auch die Verbitterung und der Hass zwischen den beiden Völkern. Umso dringender müssen die Kämpfe beendet werden und darüber hinaus ist es zwingend erforderlich, auf politischem Wege Voraussetzungen für einen dauerhaften Frieden zu schaffen.

Dieser Gaza-Krieg sollte für immer der letzte Krieg zwischen Israel und den Palästinensern bleiben.

Dieser Gaza-Krieg sollte für immer der letzte Krieg zwischen Israel und den Palästinensern bleiben. Dementsprechend muss das Ziel jedes Friedensabkommens eine strategische Koexistenz der beiden Seiten sein, aufbauend auf der Zweistaatenlösung, die mit allen einschlägigen UN-Resolutionen im Einklang steht. Die Ausgestaltung der Beziehungen zwischen Israel und Palästina muss sich innerhalb der Grenzen bewegen, die das Völkerrecht und die Menschenrechte vorgeben. Diese Grundsätze sind nicht verhandelbar und müssen als grundsätzlicher Rahmen dienen, wenn politisch darauf hingearbeitet wird, die historische Feindschaft zwischen Israelis und Palästinensern in eine tragfähige Koexistenz zu transformieren.

Beiden Protagonisten der Verhandlungen sollte die gleiche internationale Anerkennung zuteilwerden. Der Staat Palästina sollte das Westjordanland und den Gazastreifen umfassen, mit Ost-Jerusalem als offizieller Hauptstadt. Die Grundlage für Palästinas Vollmitgliedschaft in den Vereinten Nationen sind Artikel 4.1 und 4.2 der UN-Charta, in denen die Mitgliedschaft geregelt wird. Falls die Palästinenserbehörde die darin festgelegten Voraussetzungen nicht erfüllt, sollte eine mit Zeitplan versehene Roadmap formuliert werden, an der die Palästinenserbehörde sich bei den nötigen Reformschritten orientieren kann.

Es muss zudem ein politischer Fahrplan festgelegt werden, in dem die Aufgabenstellung für die Verhandlungen und ein Zeitplan für deren Abschluss bestimmt werden. Die internationale Gemeinschaft sollte gegenüber den Verhandlungspartnern mit Anreizen – aber auch mit Abschreckungsmitteln – darauf hinwirken, dass sie sich im eigenen Land den nötigen Rückhalt für die Verhandlungen sichern können. Die Resolution 2334 des UN-Sicherheitsrats sollte auf den Prüfstand gestellt und durch eine neue Resolution ersetzt werden, die zwar auf den alten – im Dezember 2016 verabschiedeten – Grundsätzen aufbaut, die aber die seither veränderten geopolitischen Entwicklungen berücksichtigt. Auch die Arabische Friedensinitiative von 2002 sollte aktualisiert werden und den Veränderungen Rechnung tragen, die sich in den vergangenen 20 Jahren in der Region vollzogen haben. Die Kombination aus einer neuen Resolution des UN-Sicherheitsrats und einer Arabischen Friedensinitiative sollte als Grundlage für das diplomatische Vorhaben dienen.

Ein Grund zur Beunruhigung für die israelische Regierung sind im Augenblick die Sanktionen gegen extremistische israelische Siedler, die im Westjordanland Gewalttaten oder Menschenrechtsverletzungen gegen Palästinenser verübt haben. In Israel sieht man hier einen Zusammenhang mit der Frage der Anerkennung Palästinas. In den Augen des nationalistischen Teils der israelischen Gesellschaft sind die Siedler moderne Pioniere und geradezu Volkshelden. Dass prominente Siedler nicht mehr uneingeschränkt in befreundete Länder reisen oder Bankkonten eröffnen dürfen, empfinden diese Kreise als internationale Delegitimierung nicht nur der Siedlungen, sondern der israelischen Kontrolle über das Westjordanland insgesamt. Die Sanktionen haben Symbolcharakter, aber sie senden ein wichtiges Signal aus: Die internationale Gemeinschaft darf nicht länger hinnehmen, dass Gewaltakte von Siedlern unbestraft bleiben.

Außerhalb Europas dagegen hat die große Mehrheit der UN-Mitgliedstaaten Palästina als Staat anerkannt.

Vor Norwegen, Irland, Spanien und (bald) Slowenien hatten nur vier westeuropäische Länder Palästina als Staat anerkannt: Island, Malta, Zypern und Schweden. Außerhalb Europas dagegen hat die große Mehrheit der UN-Mitgliedstaaten (140 von 193) Palästina als Staat anerkannt. 2012 wurde Palästina zudem durch die UN-Generalversammlung anerkannt – jedoch nicht als Vollmitglied. Dafür braucht Palästina die Zustimmung von mindestens zwei Dritteln der Mitglieder der UN-Generalversammlung sowie von mindestens 9 der 15 Mitglieder des Sicherheitsrats, wobei keines der fünf ständigen Mitglieder ein Veto einlegen darf. Diese Hürde ist bis heute aufgrund des Vetos der USA nicht zu nehmen.

Die vergangenen sechs Monate haben Israels internationales Ansehen dramatisch verändert. Die Welt steht Israel inzwischen kritischer gegenüber und äußert ihre Unterstützung für die Selbstbestimmung der Palästinenser deutlicher als bisher. Dies könnte in die Frage der Anerkennung der Palästinenser noch mehr neuen Schwung bringen. Für die amtierende israelische Regierung ist die Tatsache, dass befreundete Staaten den Staat Palästina anerkennen, ausgesprochen beunruhigend. Das Letzte, was die israelische Führung sich wünscht, ist eine völkerrechtlich legitimierte palästinensische Staatlichkeit. Für sie ist diese Vorstellung sicherlich ein echter Alptraum. Dass Israel und Palästina auf der internationalen Bühne den gleichen Rechtsstatus haben sollen, würde aus internationaler Sicht das „Tor zum Frieden“ öffnen, wird aber in Israel als diplomatischer Schlag ins Gesicht empfunden.

Ungeachtet der harschen Reaktionen aus Israel wird Spanien und Norwegen eine wichtige Rolle zukommen, um neuen diplomatischen Schwung in den israelisch-palästinensischen Konflikt bringen, denn beide Länder knüpfen damit an ihr früheres Engagement als Gastgeber der Madrider Nahost-Friedenskonferenz 1991 und der Verhandlungen an, die am Ende zum Oslo-Abkommen führten.

Die völkerrechtliche Anerkennung des Staates Palästina und seine Aufnahme als Vollmitglied der Vereinten Nationen sollten dem Friedensprozess vorgeschaltet werden und müssen vom Erfolg oder vom Misserfolg dieses Friedensprozesses abgekoppelt werden. Sonst könnte Israel in die Rolle des Veto-Players schlüpfen und jeden politischen Prozess, der zu einer Zweistaatenlösung führen würde, erfolgreich blockieren. Nach dem Deutschlandbesuch von Präsident Macron sollten Deutschland und Frankreich nun die nächsten sein, die Palästina als Staat anerkennen. Ziel sollte es sein, die Zweistaatenlösung am Leben zu erhalten und den Palästinensern Hoffnung zu geben, dass die Besatzung ein Ende haben werde und ihre Selbstbestimmung Realität werde. Sonst droht die Gefahr, dass wir in dieselbe Falle tappen wie in der Phase nach dem Osloer Abkommen, als alle Forderungen nach einer politischen Lösung Lippenbekenntnisse blieben. Zudem könnten beide Länder deutlich machen, dass die deutsch-französische Achse intakt und in der Lage ist, die EU wieder zu einem maßgeblichen, dem internationalen Recht verpflichteten Akteur im Nahen Osten zu machen.

Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld