Schon lange ist das 1949 gegründete Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten denjenigen ein Dorn im Auge, die bestreiten, dass palästinensische Flüchtlinge ein Recht auf Rückkehr hätten, oder die dieses Recht nach über 75 Jahren endlich ad acta legen wollen. Dabei steht im Zentrum der Vorwürfe, mit denen sich UNRWA (UN Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East) konfrontiert sieht, dass es das Flüchtlingsproblem perpetuiere, indem es auch die Kinder und Kindeskinder der Flüchtlinge als solche anerkenne. Es sei Teil des Problems, nicht Teil der Lösung.

Doch noch nie waren die Vorwürfe gegen UNRWA so bedrohlich wie seit den Terroranschlägen vom 7. Oktober 2023 und dem durch sie ausgelösten Krieg im Gazastreifen. Die israelische Regierung bezeichnet das Hilfswerk nunmehr als „Frontorganisation der Hamas“, die ihre Existenzberechtigung verloren habe. Konkret warf sie der Organisation Ende Januar 2024 vor, dass zwölf Angestellte an den Gräueltaten des 7. Oktober beteiligt gewesen wären und dass darüber hinaus ein substanzieller Teil der Belegschaft in bewaffneten Gruppen aktiv sei. Im Februar 2024 kam die Anschuldigung hinzu, dass es unter dem UNRWA-Hauptquartier in Gaza-Stadt ein Datenzentrum der Hamas gegeben habe, das mit dem Strom- und IT-Netz des Hilfswerks verbunden gewesen sei. Stichfeste Beweise präsentierte Israel für die Anschuldigungen gegenüber den Mitarbeitern des Hilfswerks nach Aussagen von UNRWA-Verantwortlichen und Gebern bislang nicht. Unklar bleibt auch, warum Israel nicht bereits früher Einspruch gegenüber terrorverdächtigen Angestellten eingelegt hatte. Schließlich legt das Hilfswerk die Listen der Mitarbeitenden in Gaza und dem Westjordanland jährlich – und vor dem Krieg zuletzt im Mai 2023 – Israel vor. UNRWA-Angestellte haben zudem zu Protokoll gegeben, dass Geständnisse über Verbindungen zu militanten Gruppierungen durch psychischen und physischen Druck seitens Israel erpresst wurden. All dies muss selbstverständlich lückenlos aufgeklärt und die Verantwortlichen müssen zur Verantwortung gezogen werden.

Israel hat Maßnahmen ergriffen, die die Handlungsfähigkeit des Hilfswerks in den palästinensischen Gebieten stark einschränken könnten.

Parallel zu den Anschuldigungen und einer internationalen Kampagne, die auf das Defunding von UNRWA abzielt, hat Israel Maßnahmen ergriffen, die die Handlungsfähigkeit des Hilfswerks in den palästinensischen Gebieten stark einschränken und seine Arbeit dort auf Dauer unmöglich machen könnten. Unter anderem wurde ein Konto des Hilfswerks bei einer israelischen Bank gesperrt. Es wurden Schritte eingeleitet, um die Organisation aus ihrem Hauptsitz für die palästinensischen Gebiete in Ost-Jerusalem zu vertreiben. Die Visumsvergabe für internationale Mitarbeitende wurde zeitlich auf zwei Monate beschränkt. Die Zollbehörden haben die Übergabe von Hilfsgütern an UNRWA blockiert. Israels Finanzminister kündigte an, die Steuerbefreiung der Organisation aufzuheben. Mitte Februar nahm die Knesset in erster Lesung einen Gesetzentwurf an, der UNRWA untersagen würde, auf Israels souveränem Territorium zu operieren. Dies würde es dem Hilfswerk auch unmöglich machen, Schulen und Gesundheitseinrichtungen in Ost-Jerusalem – etwa im Flüchtlingslager Shuafat – zu betreiben. Denn diese befinden sich im von Israel völkerrechtswidrig annektierten Jerusalemer Stadtgebiet. Im März berichteten Medien, dass UNRWA-Angestellte seit dem 7. Oktober im Westjordanland systematischen Schikanen ausgesetzt seien.

Dem Vorgehen scheint eine veränderte Haltung der Regierung Israels zugrunde zu liegen. Denn bei aller israelischer Kritik am Hilfswerk hatte doch die zuständige Einheit im Verteidigungsministerium, der Coordinator of Government Activities in the Territories, COGAT, bislang auf die stabilisierende Rolle UNRWAs gesetzt. Ende Dezember 2023 berichtete die Presse über einen als geheim eingestuften Bericht des israelischen Außenministeriums, der aufzeigt, wie UNRWA schrittweise aus dem Gazastreifen entfernt und ersetzt werden soll. In diesem Sinne sollte zunächst ein detaillierter Bericht über die Zusammenarbeit von UNRWA und Hamas ausgearbeitet, dann der Tätigkeitsbereich des Hilfswerks minimiert und Ersatzdienstleister gesucht und schließlich die Zuständigkeiten der Organisation auf andere Einrichtungen übertragen werden. Auch der Plan für die Phase nach dem Krieg im Gazastreifen, den Premier Netanjahu im Februar 2024 vorlegte, sieht vor, UNRWA durch andere Hilfsorganisationen zu ersetzen.

Keine andere Organisation kann die langjährige Erfahrung und die Infrastruktur aufbieten, die es braucht, um überlebenswichtige Nothilfe zu leisten.

Dabei war die Arbeit des Hilfswerks für die Bevölkerung des Gazastreifens selten so überlebenswichtig wie angesichts des aktuellen Krieges. Keine andere Organisation kann die langjährige Erfahrung und die Infrastruktur – rund 13 000 Angestellte, Lagerhallen, Fahrzeuge, etc. – aufbieten, die es braucht, um angesichts einer sich abzeichnenden Hungersnot und des Zusammenbruchs der öffentlichen Ordnung (verursacht durch Kampfhandlungen und eine rigide Abriegelungspolitik) überlebenswichtige Nothilfe zu leisten. Dies betonen auch andere UN-Organisationen und humanitäre NGOs. Denn alle anderen UN-Hilfsorganisationen zählen zusammengenommen nur etwas über 200 Angestellte in dem Küstengebiet. Auch kann keine andere Organisation den rund 1,7 Millionen Binnenflüchtlingen Schutz bieten. UNRWA kann zumindest einen Teil von ihnen in seinen Gesundheits- und Bildungseinrichtungen unterbringen. Und mit seinem Engagement im Westjordanland und den Nachbarländern Israels (Jordanien, Libanon und Syrien) ist das Hilfswerk ein entscheidender Stabilitätsanker in einer durch langandauernde Konflikte und Bürgerkriege destabilisierten Region, die infolge des 7. Oktober 2023 und des Kriegs im Gazastreifen noch fragiler geworden ist.

Dennoch setzten 16 Länder infolge der israelischen Anschuldigungen ihre Zahlungen an UNRWA (teilweise) aus, darunter auch die größten bilateralen Geber, die USA und Deutschland. Damit stürzten sie das Hilfswerk ausgerechnet an einem Zeitpunkt, an dem es am meisten gebraucht wird, in eine existentielle Krise – und dies, obwohl der Internationale Gerichtshof (IGH) in einer einstweiligen Verfügung am 26. Januar unter anderem angeordnet hatte, ausreichend humanitäre Hilfe sicherzustellen. Dass es auch anders geht, zeigten unter anderem Irland, Norwegen, Belgien, Spanien und weitere Geber, die zwar eine gründliche Untersuchung der Vorwürfe forderten, die Bevölkerung Gazas aber nicht in Geiselhaft für die mutmaßlichen Vergehen Einzelner nahmen. Vielmehr setzten sie ihre Unterstützung für UNRWA bis zur Klärung der Vorwürfe fort beziehungsweise weiteten diese sogar aus.

Das Hilfswerk selbst entließ, entgegen dem üblichen Prozedere, bereits vor einer Überprüfung der israelischen Vorwürfe zehn der beschuldigten Mitarbeiter (zwei weitere waren ums Leben gekommen) und leitete zwei Prozesse ein: eine Untersuchung durch das UN-eigene Amt für interne Aufsichtsdienste (Office for Internal Oversight Services, OIOS), die die Anschuldigungen gegen die Mitarbeiter überprüfen soll, und eine durch eine von der ehemaligen französischen Außenministerin Catherine Colonna geleitete unabhängige Prüfung aller Aufsichts- und Schutzmechanismen, die Neutralität der Organisation gewährleisten sollen. Colonna legte am 20. März dem UN-Generalsekretär einen Zwischenbericht vor, ein Abschlussbericht soll einen Monat später folgen.

Auch durch eine Abschaffung von UNRWA oder eine Übertragung seiner Kompetenzen an andere Organisationen würde sich das palästinensische Flüchtlingsproblem nicht einfach in Luft auflösen.

Bereits nach einem ersten (vertraulichen) Zwischenbericht des OIOS vom 29. Februar nahmen Kanada, Schweden, Australien, Dänemark und die EU ihre Zahlungen wieder auf. Allerdings ist damit die Zukunft von UNRWA noch lange nicht in trockenen Tüchern. Denn es ist zum einen davon auszugehen, dass die Finanzierung des Hilfswerks weiterhin prekär bleibt – nicht zuletzt, weil eine volle Wiederaufnahme der Unterstützungsleistungen seitens der USA durch den Kongress zunächst blockiert und durch eine mögliche Trump-II-Regierung nicht wieder aufgenommen werden dürfte. Zum anderen setzt Israel zunehmend auf humanitäre Hilfe unter Umgehung des Hilfswerks, etwa über den Seekorridor aus Zypern oder durch Abwürfe aus der Luft. Nothilfe kann allerdings ohne UNRWA im Gazastreifen derzeit nicht in der benötigten Menge und gemäß humanitären Standards verteilt werden. Schwerwiegende Verteilungskonflikte sind damit vorprogrammiert.

Deutschland, als prominenter Geber, sollte deshalb zeitnah seine finanzielle Unterstützung für das Hilfswerk in Gaza wieder aufnehmen und – am besten gemeinsam mit der Biden-Administration – auf Israel einwirken, die Arbeit der Organisation nicht zu blockieren. Dies hätte neben der materiellen auch eine wichtige Signalwirkung. Ein Waffenstillstand, umfassender humanitärer Zugang und der effektive Schutz der Nothelferinnen und Nothelfer sind essenzielle Voraussetzungen, um das Leid der Zivilbevölkerung zu lindern und eine Hungerkatastrophe zu verhindern.

Das Hilfswerk muss sich in einem äußerst komplexen Umfeld nicht nur mit Israel, sondern auch mit den lokalen Machthabern (zumindest auf der operativen Ebene) ins Benehmen setzen. Um es künftig noch besser gegen Unterminierung abzusichern und seine Neutralität zu gewährleisten, sollte Deutschland UNRWA auch dabei unterstützen, noch zu entwickelnde Handlungsempfehlungen, die sich aus dem in den Zwischenberichten von OIOS und Colonna identifizierten Reformbedarf ergeben, sowie die Zusagen des UNRWA-Generalkommissars vom 6. März 2024 gegenüber der EU umzusetzen. Letztere zielen darauf ab, die internen Kontrollmechanismen der Agentur zu überprüfen, die Listen der Angestellten von nun an, wie gefordert, vierteljährlich Israel vorzulegen und die Belegschaft in Bezug auf Neutralität noch besser zu kontrollieren und fortzubilden.

Es liegt auf der Hand: Auch durch eine Abschaffung von UNRWA oder eine Übertragung seiner Kompetenzen an andere Organisationen würde sich das palästinensische Flüchtlingsproblem nicht einfach in Luft auflösen. Um es konstruktiv zu bearbeiten, bräuchte es vielmehr eine Einigung, die sowohl das in UNGV-Resolution 194 verbriefte individuelle Recht der Flüchtlinge auf Rückkehr oder Entschädigung als auch die Interessen der derzeitigen Aufnahmestaaten und Israels einbezieht. Ansätze dazu sind von den Konfliktparteien bereits in den Annapolis-Verhandlungen 2008 besprochen worden. Nichtregierungsvertreterinnen und -vertreter beider Seiten haben sie in Blaupausen für eine Konfliktregelung, wie der Genfer Initiative von 2003 und der Holy Land Confederation von 2022, weiter ausgearbeitet. Mit einer politischen Regelung der Palästina-Frage, die auch eine gerechte und nachhaltige Lösung für das Schicksal der Flüchtlinge einbezieht, würde das Hilfswerk rasch überflüssig. Das sollte ein weiterer Anreiz sein, sich für eine tragfähige Konfliktregelung stark zu machen. Bis dahin gilt es auch Optionen zu eruieren, wie die Finanzierung der Organisation besser sichergestellt werden kann, etwa durch Partnerschaften mit anderen UN-Organisationen, einer Erhöhung des Anteils, der dem Hilfswerk aus dem regulären UN-Budget zufließt, oder einer Vereinbarung über eine Lastenteilung mit den Mitgliedstaaten.