In den Artikeln zur Wahl des reformistischen Kandidaten Massud Peseschkian zum neuen iranischen Präsidenten war in den vergangenen Tagen oft von „Überraschung“ die Rede. Irans Wählerinnen und Wähler hätten wieder einmal bewiesen, dass sie unberechenbarer handeln, als viele annähmen. Der politische Prozess, gar die Demokratie in Iran, sei noch nicht tot. Auf solche Einschätzungen folgten erbitterte Reaktionen: Wer den politischen Entscheidungsprozess in Iran als solchen legitimiere, mache sich zum Komplizen des Regimes. Wer schreibt, dass Peseschkians Wahl eine Überraschung gewesen sei, lasse die Strippenzieher-Rolle Ali Chameneis außer Acht und betreibe damit Regime-Propaganda.
Wieder einmal scheint es in der ohnehin extrem polarisierten Iran-Debatte in Deutschland und anderswo schwerzufallen, zwischen politischer Analyse und politischer Positionierung zu unterscheiden. Da spielt es dann auch keine Rolle mehr, dass zahlreiche dieser Einschätzungen von renommierten iranischen Analystinnen oder Analysten stammen. Es ist nun einmal so, dass mit Blick auf die jüngsten Präsidentschaftswahlen in Iran mehrere Sachen gleichzeitig wahr sein können: Massud Peseschkian, 69 Jahre alt, Herzchirurg und ehemaliger Gesundheitsminister, wird der erste reformistische Präsident seit Mohammad Chatami werden, der von 1997 bis 2005 im Amt war und der Peseschkian bei dieser Wahl unterstützte. Dass Peseschkian die Wahl für sich entscheiden konnte, hat viele Analystinnen und iranische Bürger überrascht. Traditionell benötigten Reformkandidaten eine Stimmenmehrheit von deutlich über 50 Prozent. Von niedrigen Wahlbeteiligungen profitierten in der Vergangenheit stets die Hardliner.
Es ist genauso wahr, dass der konservativ dominierte Wächterrat Peseschkians Kandidatur niemals abgesegnet hätte, hätte der Oberste Führer Ali Chamenei nicht zugestimmt. Vermeintlich aussichtsreichere Kandidaten des Reformlagers wie Ali Laridschani wurden bereits zum wiederholten Male disqualifiziert. Es ist also davon auszugehen, dass genau der Kandidat der Reformer zugelassen wurde, den man mutmaßlich am besten kontrollieren kann. Als ein sogenannter „reformist loyalist“, ein systemergebener Reformer, erschien Peseschkian dem politischen Establishment rund um Chamenei womöglich als kleinstes Übel. Wie zum Beweis unterstrich Peseschkian seine Unterstützung für Chamenei in den TV-Debatten zur Wahl wie keiner der anderen Kandidaten.
Vermeintlich aussichtsreichere Kandidaten des Reformlagers wurden bereits zum wiederholten Male disqualifiziert.
Doch anders, als bei dem von Anbeginn für Ebrahim Raisi orchestrierten Wahlerfolg von 2021, ließ man dieses Mal immerhin einen Reformkandidaten zu. Dennoch wird es eine Rückkehr zu einem islamistischen Pluralismus, der in der Vergangenheit zwar begrenzten, aber doch regen politischen Wettbewerb erlaubte und Männer wie Chatami und Rohani zu Präsidenten machte, nicht geben. Dafür ist die Macht längst zu geschlossen und systematisch in den Händen der Hardliner konzentriert. Peseschkian wird ein schwächerer Präsident werden, als es andere Reformer in dieser Rolle waren. Und bislang deutet nichts darauf hin, dass er das System herausfordern wird.
Das politische Kalkül sah wohl vor, nach zuletzt historisch niedriger Partizipation die Wahlbeteiligung nach oben zu schrauben. Womöglich hatte das politische Establishment auch befürchtet, der vollständige Ausschluss von Reformkandidaten oder aber eine offensichtliche Manipulation der Wahlen, wie sie im Jahr 2009 Millionen von Iranerinnen und Iranern auf die Straßen trieb, könnten erneute Proteste auslösen. Keine Protestbewegung wurde so brutal niedergeschlagen wie die Frau-Leben-Freiheit-Bewegung nach dem gewaltsamen Tod von Jina Mahsa Amini im Herbst 2022. Bilder, die das Regime im Augenblick verhindern will.
Die Strategie ging jedoch nicht auf: 40 Prozent in der ersten Runde und damit die niedrigste Wahlbeteiligung seit 1979 verdeutlichten, dass die Mehrheit in Iran an eine Veränderung über das Mittel des Urnengangs nicht mehr glaubt. Zu sehr hat sich die Islamische Republik in den vergangenen Jahren als reformresistent erwiesen, zu selten das zusehends marginalisierte Reformlager bewiesen, dass es willens ist, Veränderungen zu schaffen. Auch die Reformer wollen schließlich keine Überwindung des Systems der Islamischen Republik, sondern bestenfalls dessen Anpassung an aktuelle Entwicklungen.
Doch gerade der Glaube daran, dass zumindest das möglich ist, ist in den vergangenen Jahren fast vollständig erloschen. Das spiegeln auch die nicht einmal 45 Prozent wider, die in der ersten Runde am 28. Juni für Peseschkian stimmten. Die Aufstellung eines Reformkandidaten bedingte keinen Aufwärtstrend in der Wahlbeteiligung und entzündete innerhalb der reformistisch orientierten Bevölkerung keinen Funken. Auch, weil die traditionelle Basis des Reformlagers, die iranische Mittelschicht, extrem stark von Misswirtschaft, Korruption und den Folgen westlicher Sanktionen betroffen, seit Jahren stetig schrumpft.
Peseschkian selbst ist ein tief religiöser Mann, der schon bei seiner Kandidatur augenblicklich die Rolle Chameneis als Oberstem Führer und damit auch politischem Taktgeber hervorhob. Trotzdem ist sein Sieg eine Weigerung der Iraner, sich der fortdauernden Abwärtsspirale zu ergeben, die durch eine Wahl des ultrakonservativen Hardliners Saeed Jalili wohl noch beschleunigt worden wäre. Er zeigt, dass es eben nicht so einfach ist, die Hoffnung auf jedwede noch so kleine Verbesserung des eigenen Lebens im eigenen Land aufzugeben, wenn man selbst unmittelbar betroffen ist. Viele derer, die dazu aufriefen, die Wahl zu boykottieren, um ihr keinerlei Legitimität zu verschaffen, hätten die Folgen eines Jalili-Sieges eben auch nicht zu spüren bekommen. Die Wahlbeteiligung bei der Stichwahl lag mit etwa 50 Prozent höher als in Runde eins. Zahlreiche Iranerinnen und Iraner gaben an, Peseschkian gewählt zu haben, um Jalili zu verhindern. Dieser galt selbst manchen Vertretern in Hardliner-Kreisen als zu radikal.
Die Aufstellung eines Reformkandidaten bedingte keinen Aufwärtstrend in der Wahlbeteiligung.
Peseschkian strebt Reformen an, da er glaubt, das System brauche Veränderungen. Auch Jalili ist davon überzeugt, will sie aber in die andere Richtung vorantreiben. Ihm gehen noch immer viele Regelungen in der Islamischen Republik nicht weit genug. Seine Präsidentschaft hätte den Paria-Status Irans im Westen voraussichtlich gestärkt und womöglich weitere Sanktionen zur Folge gehabt, die die Bevölkerung ohnehin schon hart treffen. Immerhin 13,5 von 61,5 Millionen wahlberechtigten Iraner haben für ihn gestimmt, was auch zeigt, wie groß in etwa der Anteil derer ist, die hinter einer solchen Ausrichtung der Islamischen Republik stehen.
Peseschkian hat im Wahlkampf angekündigt, die seit langem bestehenden Internet-Beschränkungen zu lockern und sich „voll und ganz“ gegen Polizeipatrouillen zur Durchsetzung der Kopftuchpflicht für Frauen einzusetzen. „Einsetzen“ ist an dieser Stelle wohl das Schlüsselwort, da seine Möglichkeiten natürlich begrenzt sein werden. Er versprach außerdem, mehr Frauen und ethnische Minderheiten wie Kurden und Belutschen in seine Regierung einzubeziehen, die Inflation zu senken, die derzeit bei etwa 40 Prozent liegt und in den letzten Jahren „die Nation erdrückt“ habe. In einer Debatte mit Jalili schätzte Peseschkian den Bedarf Irans an ausländischen Investitionen auf etwa 200 Milliarden US-Dollar, die ihm zufolge nur durch eine Verbesserung der internationalen Beziehungen bereitgestellt werden können. Peseschkian will „konstruktive Beziehungen“ mit allen Ländern des Westens außer Israel, um Iran aus seiner Isolation zu befreien.
Die Wahl Peseschkians macht einen Unterschied. Sie zeigt, dass viele Iranerinnen und Iraner sich schlicht eine Verbesserung ihres Lebensstandards wünschen. Niemand hofft auf einen echten politischen Reformprozess, einen Wandel gar, sondern einfach darauf, dass eine dem Westen wieder zugewandtere Politik einige der zahlreichen Alltagssorgen erleichtern würde. Womöglich war es sogar in Chameneis Interesse, über den Umweg eines Reform-Präsidenten die wirtschaftliche Lage seines Landes zu verbessern, um die intern notwendigen Spielräume zu schaffen, die er für die Regelung seiner Nachfolge benötigt. Wahrscheinlicher ist, dass selbst Chameneis Kontrolle Grenzen hat – und diese da verlaufen, wo eine gewisse Eigensinnigkeit der Iraner anfängt. Die 16,3 Millionen, die am 5. Juli ihre Stimme für Peseschkian abgegeben haben, haben die Wahl, so orchestriert sie auch war, entschieden. Das sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass der bei Weitem größte Teil der iranischen Bevölkerung in dieser Islamischen Republik für sich und seine Kinder keine Zukunft sieht und sich einen grundlegenden politischen Umbruch wünscht: ein neues System.
Die Wahl Peseschkian macht einen Unterschied.
Deshalb sollten auch die Warnungen vieler Aktivisten der Diaspora nicht ungehört bleiben, die nun befürchten, jetzt, da wieder ein für den Westen vergleichsweise akzeptabler Kandidat im Amt ist, würden auch die Menschenrechtsverletzungen, die alltägliche und systematische Diskriminierung von Frauen und Minderheiten sowie die brutalen Repressionen gegen Demonstrierende wie schon in der Vergangenheit achselzuckend hingenommen. Tatsächlich drückten Europa und die USA etwa zu Zeiten von Rohani und seinem in westlichen Hauptstädten beliebten Außenminister Javad Zarif, der womöglich auch unter Peseschkian wieder eine Schlüsselrolle besetzen wird, in Anbetracht des verhandelten Atomabkommens von 2015, oft alle Augen sehr fest zu. Die immer stärker militarisierte imperiale Ausbreitung Irans im Mittleren Osten wurde nahezu ignoriert. Die direkten Folgen davon beobachten wir heute. Ernsthafte Versuche, Iran zu dessen Eindämmung zu bewegen, gab es keine.
Überdies hatten jene vergleichsweise engen Beziehungen zum iranischen Regime zur Folge, dass Anliegen der Zivilbevölkerung wenig Gehör fanden. Die Bande, die in den arabischen Ländern der Region während des Arabischen Frühlings insbesondere zu Vertretern der Zivilgesellschaft, marginalisierten Gruppen und ethnischen Minderheits-Communities geknüpft wurden, suchte man in Iran nicht.
Die Politik der Entspannung und Diplomatie galt dem Versuch, mehr Stabilität und Frieden in der Region zu schaffen. Diese Politik war nicht falsch – aber sie war unvollständig. Sie ließ Anliegen von Menschenrechtsgruppen und -aktivisten außer Acht, scherte sich kaum um bereits damals inhaftierte und misshandelte Frauen im Evin-Gefängnis und suchte keine Mitstreiter in der Zivilgesellschaft. Ein Zurück zu dieser Politik darf es nicht geben. Und doch kann die Präsidentschaft Peseschkians eine Chance sein, mit Iran wieder ernsthaft über Dinge zu verhandeln, die heute genauso wichtig sind wie vor zehn Jahren: Stabilität im Mittleren Osten, das iranische Atomprogramm und Menschenrechte.