Der Krieg in Gaza entwickelt sich in eine Richtung, vor der viele gewarnt hatten: Er weitet sich aus und führt zu weiteren Konflikten im Libanon, Syrien, Irak und im Roten Meer. Angesichts der US-amerikanischen Schläge gegen die Huthis im Jemen steigt die Angst vor einem größeren Regionalkrieg weiter. An allen derzeitigen Konflikt-Schauplätzen ist der Iran präsent. Es stellt sich daher die Frage, ob die Führung in Teheran und ihre starke Armee in größere Kampfhandlungen eingreifen könnten.
Jahrelang hat Iran Geld, Waffen und militärische Ausbildung für die Hamas und die Hisbollah, die gegen Israel kämpfen, sowie für die Huthis bereitgestellt, die in letzter Zeit vermehrt Schiffe im Roten Meer attackierten. Iran selbst hat in den vergangenen Wochen eigene Schläge als Vergeltung für den Bombenanschlag Anfang des Jahres durchgeführt. Dabei wurden laut eigenen Angaben israelische Spionagezentren im Irak sowie der Islamische Staat in Syrien ins Visier genommen. Darüber hinaus kam es zu einem kurzen Schlagabtausch mit Pakistan an der gemeinsamen Grenze.
Der Iran lässt inmitten der regionalen Unruhe also seine militärischen Muskeln spielen. Das bedeutet aber nicht, dass die iranische Führung daran interessiert ist, in einen größeren Konflikt oder gar offenen Krieg hineingezogen zu werden. Das wurde mit öffentlichen Statements deutlich gemacht sowie – vermutlich sehr viel wichtiger – damit, dass der Iran keinerlei direkte militärische Aktion gegen Israel oder die USA durchgeführt hat. Das Regime scheint aktuell damit zufrieden zu sein, sich auf die lange erprobte Strategie des Stellvertreterkriegs zu verlassen: Die vom Iran geförderten Gruppen bekämpfen seine Feinde und zeitgleich zeigen weder Israel noch die USA den Willen, direkte Schläge gegen den Iran zu führen.
Die Abneigung der iranischen Führung gegen einen größeren Konflikt lässt sich vor allem mit den innenpolitischen Problemen erklären.
Die Abneigung der iranischen Führung gegen einen größeren Konflikt lässt sich vor allem mit den innenpolitischen Problemen, die das Regime beschäftigen, erklären. Der betagte Oberste Führer, Ayatollah Ali Khamenei, versucht aktuell, sein Erbe zu sichern. Er muss diverse politische Widerstände bewältigen, um einen ihm gleichgesinnten Nachfolger zu installieren, weiterhin Atomwaffen anzustreben und das zukünftige Überleben der Islamischen Republik als eine im Nahen Osten dominante Kraft zu sichern. Um all dies zu erreichen, sollte er tunlichst vermeiden, in einen größeren Krieg hineingezogen zu werden.
Die Führung um Khamenei versucht seit 2022, als die Islamische Republik mit dem vielleicht gravierendsten Aufstand seit der Revolution 1979 konfrontiert war, die politische Opposition zu unterdrücken. Der Tod von Jina Mahsa Amini im Gewahrsam der Sittenpolizei führte damals dazu, dass der weit verbreitete Frust über die Führung des Landes auf die Straße getragen wurde und eine nationale Bewegung entstand, die ausdrücklich den Sturz der Theokratie anstrebte. Mit brutalen Methoden haben die Mullahs die Straßen und Schulen inzwischen zurückerobert. Sie sind sich sehr wohl bewusst, dass selbst unorganisierte Proteste zu einer Bedrohung für das Regime werden können.
Darüber hinaus befindet sich der Iran aufgrund von Korruption, chronischer Misswirtschaft und der Atom-Sanktionen in einer langwierigen Wirtschaftskrise. Auch unter weniger ungünstigen Umständen wäre die Frage nach der Khamenei-Nachfolge im Iran eine heikle. Das bisher einzige Mal, dass die Islamische Republik seit ihrer Gründung 1979 einen neuen Obersten Führer wählen musste, war 1989, als der „Vater der Revolution“ Ayatollah Ruhollah Khomeini starb. Damals befürchtete dessen späterer Nachfolger Khamenei, die Feinde der Islamischen Republik im Westen und im Inland könnten das Vakuum an der Spitze nutzen, um die noch junge Theokratie zu stürzen – insbesondere, wenn die Verfahren zur Nachfolge nicht adäquat und zielgerichtet durchgeführt würden.
Für Khamenei wäre ein religiöser Hardliner der einzige annehmbare Kandidat.
Heute gibt es die sogenannte Versammlung der Experten, ein Gremium aus 88 älteren Geistlichen, die laut Verfassung befugt sind, den nächsten Obersten Führer zu wählen. Ein Großteil des Verfahrens bleibt geheim, doch jüngsten Berichten iranischer Medien zufolge gibt es aktuell eine dreiköpfige Kommission aus Präsident Ebrahim Raisi und den Gremium-Mitgliedern Ajatollah Ahmad Chatami sowie Ajatollah Rahim Tavakol, die die potenziellen Kandidaten prüft – unter der Aufsicht von Ajatollah Khamenei. Das Verfahren soll im umkämpften politischen Umfeld zwar den Anschein einer offenen Suche erwecken, ist aber wahrscheinlich nicht viel mehr als eine Inszenierung, mit der der nächste revolutionäre Konservative ins Amt gehievt wird.
Für Khamenei wäre ein religiöser Hardliner der einzige annehmbare Kandidat. Nur eine solche Person scheint für ihn geeignet, Irans Streben nach regionaler Vormachtstellung fortzusetzen sowie einen weiteren wichtigen Teil von Khameneis Vermächtnis zu sichern: das Streben nach Atomwaffen. Während sich die Welt auf die Kriege in der Ukraine und im Gazastreifen konzentriert, kommt das iranische Regime der Bombe immer näher. Es reichert Uran in höheren Konzentrationen an, baut fortschrittlichere Zentrifugen und verbessert die Reichweite und die Traglast seiner ballistischen Raketen. Die Bombe scheint somit in greifbare Nähe gerückt zu sein. Khamenei wird diese Fortschritte wohl kaum durch unbedachtes Verhalten gefährden, das zu einem Angriff auf die Atomanlagen führen könnte.
Die „Achse des Widerstands“ ermöglicht es Teheran, seine Gegner anzugreifen, ohne eigene Kräfte einzusetzen oder das eigene Territorium zu gefährden.
Ajatollah Khamenei beaufsichtigt aktuell also die Suche nach seiner Nachfolge sowie die nuklearen Ambitionen Irans, und er scheint sich, vorerst, damit zufrieden zu geben, Milizen im gesamten Nahen Osten das tun zu lassen, wofür Teheran sie bezahlt und ausbildet: Irans sogenannte „Achse des Widerstands“, zu der die Hamas, die Hisbollah und die Huthis gehören, ist das Herzstück der groß angelegten Strategie der Islamischen Republik gegen Israel, die Vereinigten Staaten und diverse sunnitische arabische Führer. Die Achse ermöglicht es Teheran, seine Gegner anzugreifen, ohne eigene Kräfte einzusetzen oder das eigene Territorium zu gefährden. Die diversen Milizen und Terrorgruppen, die der Iran unterhält, haben es ihm indirekt ermöglicht, die USA aus dem Irak zu vertreiben, die Assad-Familie in Syrien an der Macht zu halten und am 7. Oktober 2023 einen für Israel zutiefst traumatisierenden Angriff zu führen.
Darüber hinaus will der Iran vermutlich in der internationalen Gemeinschaft Druck aufbauen, damit Israel zurückgepfiffen wird. Dafür werden Stellvertreterkämpfer eingesetzt, die Israels Norden in Form von sporadischen Hisbollah-Raketenangriffen bedrohen, Angriffe auf US-Stützpunkte im Irak initiieren und die Schifffahrt im Roten Meer und im Golf von Aden behindern. Die Politik der USA und Israels bestand bisher darin, den israelischen Krieg in Gaza nicht auszuweiten. Derzeit ist es daher unwahrscheinlich, dass einer dieser beiden Staaten direkte Vergeltungsmaßnahmen gegen die Islamische Republik ergreift – die Schläge fokussieren sich nur auf deren Stellvertreter.
Natürlich ist die Hamas, deren „Vernichtung“ Israels Regierung gelobt hat, für den Iran wichtig. Schließlich hat Teheran viel Zeit und Geld in die Gruppe investiert. Darüber hinaus ist die Hamas im Gegensatz zu den meisten Vertretern und Verbündeten der Islamischen Republik sunnitisch geprägt – was dem schiitischen Iran hilft, religiöse Spaltungen in der Region zu durchbrechen. Die Befreiung der Palästinenser, die den iranischen Revolutionären seit der Unterstützung der PLO gegen den Schah im Jahr 1979 am Herzen liegt, gehört ebenfalls zum Kern der antiimperialistischen, islamistischen Mission des Regimes.
Dennoch: Für Ayatollah Khamenei wird die Situation daheim im Iran immer Vorrang vor Problemen in der Nachbarschaft haben. Sollte Israel sein Ziel einer Vernichtung der Hamas erreichen, würde die Islamische Republik die Zerschlagung der Gruppe hinnehmen – wenn auch zähneknirschend.
Natürlich steigt mit der Zahl der Konflikte, in die der Iran (direkt oder indirekt) verwickelt ist, auch die Wahrscheinlichkeit, dass unbedachte oder falsch bewertete Aktionen die Gewalt außer Kontrolle geraten lassen. Dies könnte sich dann leicht in eine Richtung entwickeln, die die iranische Führung eigentlich nicht wünscht. Die Geschichte ist geprägt von unzähligen Fehleinschätzungen und den daraus resultierenden Folgen. Daher besteht die reale Möglichkeit, dass der Iran in einen größeren Konflikt hineingezogen wird, den er bisher erfolgreich zu vermeiden versucht hat.
Dagegen spricht indes, dass Irans Oberster Führer der dienstälteste Herrscher im Nahen Osten ist – und zwar gerade wegen seiner unnachahmlichen Fähigkeit, Militanz mit Vorsicht und Zurückhaltung zu kombinieren. Khamenei weiß um die Schwächen und Stärken seines Heimatlandes beim Vorantreiben der islamischen Revolution über den Iran hinaus. Mit anderen Worten: Ayatollah Khamenei kennt seine Möglichkeiten und seine Grenzen ganz genau. Und er weiß, wie sein Nachfolger aussehen und agieren muss, damit die Revolution seinen eigenen Tod überlebt und fortbesteht.
Dieser Artikel erschien ursprünglich in der New York Times.
Aus dem Englischen von Tim Steins