Am 6. Dezember 2023 übersandte UN-Generalsekretär Antonio Guterres dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ein Schreiben, in dem er den Rat zur unverzüglichen Befassung mit der Lage im Gazastreifen aufforderte. Dabei berief er sich auf Artikel 99 der UN-Charta. Dieser kurze Artikel ermächtigt den Generalsekretär der Vereinten Nationen, jedes Thema vor den Sicherheitsrat zu bringen, das seiner Ansicht nach „die Aufrechterhaltung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit gefährden kann“. Er gilt als das schärfte politische Schwert des Generalsekretärs.
In seinem Schreiben an den Sicherheitsrat verurteilt Guterres zunächst erneut die Gewalt der Hamas vom 7. Oktober, forderte die Freilassung aller Geiseln und zeigte sich entsetzt über die zwischenzeitlich bekannt gewordene sexualisierte Gewalt, die die Opfer des Massakers erleiden mussten. Danach wendet er sich der Lage im Gazastreifen zu und führt an, dass seit Beginn der israelischen Militäroperation mehr als 15 000 Menschen getötet wurden, mehr als 40 Prozent davon Kinder. Des Weiteren seien rund 80 Prozent der Bevölkerung intern vertrieben worden. Das Gesundheitssystem und die öffentliche Ordnung stehen Guterres zufolge vor dem Kollaps. Die Bombardierungen durch die israelische Armee machten humanitäre Hilfe nahezu unmöglich. Guterres schließt seinen Brief mit der erneuten Forderung nach einem humanitären Waffenstillstand, der humanitäre Hilfe im gesamten Gazastreifen sicherstellen und Menschenleben retten würde.
An dem Vorgehen wurde unmittelbar Kritik laut. So unterstellte der israelische Außenminister Eli Cohen, Guterres würde unter anderem Vergewaltigung billigen. Für manche Kommentatorin und manchen Kommentator stellt die Aktivierung von Artikel 99 im Kontext des Gaza-Krieges einen erneuten Beweis für die Ungleichbehandlung Israels innerhalb der Vereinten Nationen dar. So habe Guterres – beziehungsweise sein Vorgänger – in den Kriegen in Syrien, Jemen und der UkraineArtikel 99 nicht aktiviert. Die Kritik richtete sich folglich nicht gegen die wahrgenommene Untätigkeit des Generalsekretärs und seiner Vorgänger in den genannten Konflikten, sondern dagegen, dass er im Kontext Gazas nun tätig werde.
Die Kritikerinnen und Kritiker übersehen hier jedoch, dass der Krieg in Gaza bezogen auf seine Intensität eine andere Qualität hat.
Die Kritikerinnen und Kritiker übersehen hier jedoch, dass der Krieg in Gaza bezogen auf seine Intensität eine andere Qualität als die zuvor genannten hat und nicht einfach mit Verweis auf eine antiisraelische Stimmung innerhalb der UN weggewischt werden kann. An den zwei zentralen Punkten von Guterres, der Anzahl der zivilen Opfer und dem humanitären Zugang, lässt sich das nachweisen. Vergleichspunkt ist der seit 2011 andauernde Bürgerkrieg in Syrien, der mehrfach in die Debatte eingeführt wurde.
Dem SyrianNetwork for Human Rights (SNHR) zufolge sind bis zum 15. März 2023230 224 Zivilistinnen und Zivilisten dem Krieg zum Opfer gefallen, in erster Linie durch das syrische Regime. Da der Vergleich absoluter Opferzahlen zwischen einem nahezu 13 Jahre andauernden Bürgerkrieg und einer seit dem 7. Oktober andauernden Anti-Terror-Kampagne wenig sinnhaft ist, dient die Zahl der Toten pro Woche als Referenzpunkt. Das bedeutet, dass im Mittel in Syrien zwischen Beginn der Revolution im März 2011 und März 2023 rund 343 Zivilisten pro Woche dem Krieg zum Opfer fielen. Da bewaffnete Konflikte jedoch nicht linear, sondern eher in Wellen der Eskalation und Deeskalation verlaufen, soll an dieser Stelle neben der Gesamtopferzahl auch die Opferzahl pro Woche für das Jahr 2013 errechnet werden – das blutigste Jahr mit 66 046 vom SNHR erfassten zivilen Toten. Für 2013 ergibt sich ein wöchentlicher Wert von 1 179 Toten.
Die Bestimmung der Zahl der zivilen Opfer in Gaza ist nicht exakt möglich, da die Datenlage ungleich schlechter ist. Das Medienbüro der Hamas meldet mit Stand 19. Dezember 2023 insgesamt 19 667 Tote an die Vereinten Nationen, unterscheidet jedoch nicht zwischen Kämpfern und Zivilistinnen und Zivilisten. Von der israelischen Armee werden bislang 8 000 getötete Hamas-Kämpfer gemeldet, somit hat der Krieg bislang 11 667 zivile Opfer gefordert (Stand 19. Dezember 2023). Dies ist konsistent mit Berechnungen von Yagil Levy, Professor für Politikwissenschaft an der Open University of Israel, der in seiner Untersuchung zu einem Verhältnis von 61:39 kommt: 61 getötete Zivilisten stehen 39 getöteten Kämpfern gegenüber. Die wöchentliche Rate getöteter Zivilisten in Gaza im gesamten Konfliktverlauf seit dem 7. Oktober beträgt somit rund 1 167 und ist rund 3,4-mal so hoch wie der Mittelwert für Syrien. Betrachtet man nun das Jahr 2013 in Syrien im Vergleich zu Gaza, bereinigt um die Woche der Feuerpause, so fordert der Krieg in Gaza rund 117 Opfer mehr pro Woche als im verlustreichsten Jahr des Krieges in Syrien. Zur Ursache der hohen Zahl an getöteten Zivilistinnen und Zivilisten hat jüngst das +972 Magazine eine umfangreiche Untersuchung vorgelegt, die auch die Nutzung künstlicher Intelligenz beleuchtet, die Gaza einem israelischen Geheimdienstoffizier zufolge in eine „mass assassination factory“ verwandele.
Vergleiche mit den Konflikten im Jemen und der Ukraine würden obige Berechnungen weiter erhärten, da die beiden Konflikte mit erheblich geringeren zivilen Opferzahlen als Syrien einhergehen. Die Berechnungen treffen allerdings keine Aussage über die Legalität beziehungsweise die Proportionalität und die Anwendung des Unterscheidungsgebots der Militäraktionen – militärische Gewalt auch gegen Zivilisten kann in Konflikten legal sein, wenn sie zuvorderst militärische Ziele adressiert beziehungsweise Kämpfer zivile Einrichtungen missbrauchen. Diese Fragen sollten im Anschluss an den Krieg jedoch dringend juristisch aufgearbeitet werden.
Auch bei Guterres’ zweitem Punkt, der humanitären Lage in Gaza, ist der Vergleich mit Syrien als der bislang schwersten humanitären Krise des 21. Jahrhunderts aufschlussreich. Referenz ist hier die Militäroffensive des syrischen und des russischen Regimes um den Jahreswechsel 2019/20, die mit Blick auf die humanitären Auswirkungen eine der schwersten im gesamten Verlauf des Konfliktes war. Im Rahmen der damaligen Offensive eroberten Syrien und Russland den Süden der Provinz Idlib und Teile West-Aleppos von oppositionellen Gruppen und vertrieben innerhalb weniger Wochen rund eine Million Menschen.
Diese flohen zumeist in Richtung des türkisch-syrischen Grenzübergangs Bab al-Hawa und weiter nach Norden in die Regionen Afrin und Azaz der Provinz Aleppo. Gleichzeitig lief parallel die humanitäre Nothilfe an; über die beiden Grenzübergänge Bab al-Hawa und Bab al-Salam wurden humanitäre Güter aus der Türkei in die Krisenregion verbracht. Die humanitäre Lage war zwar äußerst kritisch, durch den zuverlässigen Zugang zu den Betroffenen wie auch die Möglichkeit, sicherere Regionen aufzusuchen, konnte eine humanitäre Katastrophe jedoch verhindert werden.
Die Menschen in Gaza wiederum haben keine Fluchtmöglichkeit in eine sichere Region innerhalb (oder außerhalb) des Gazastreifens.
Im Rahmen des aktuellen Krieges gegen die Hamas wurden bislang rund 1,9 Millionen Menschen intern vertrieben, nahezu doppelt so viele wie in der Offensive in Syrien. Dies entspricht ca. 85 Prozent der Gesamtbevölkerung Gazas. Im Rahmen der syrischen Offensive entsprach die Zahl der intern Vertriebenen ca. 25 Prozent der Gesamtpopulation Nordwestsyriens von rund vier Millionen Menschen.
Die Menschen in Gaza haben erstens keine Fluchtmöglichkeit in eine sichere Region innerhalb (oder außerhalb) des Gazastreifens. Besonders die Luftangriffe sorgen dafür, dass es innerhalb der Enklave keinen sicheren Ort für die Zivilbevölkerung gibt, was auch die diversen Aufforderungen zum Verlassen des nördlichen Teils des Gazastreifens wenig sinnhaft erscheinen lassen. Der humanitäre Zugang ist dadurch ebenfalls massiv eingeschränkt – humanitäre Lieferungen benötigen Ruhepausen und gesicherte Korridore, um durchgeführt werden zu können, andernfalls ist das Leben der Helferinnen und Helfer in Gefahr. Bislang wurden bereits 134 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Vereinten Nationen im Lauf des Konfliktes getötet.
Der humanitäre Zugang zum Gazastreifen ist grundsätzlich extrem eingeschränkt. Die israelische Regierung verkündete zu Beginn des Krieges in Gaza, dass sie keine Lieferungen von Nahrungsmitteln, Trinkwasser, Medikamenten und Treibstoff zulassen und somit den Gazastreifen hermetisch abriegeln werde. Mehrmals wurde der Grenzübergang Rafah nach Ägypten beschossen. Die Frage, ob dies der Abschreckung dienen sollte, humanitäre Lieferungen auch gegen den Willen der israelischen Regierung nach Gaza zu bringen, ist ungeklärt. Die israelische Regierung warnte jedoch direkt zu Beginn der Kampagne, dass Hilfslieferungen, die über Ägypten nach Gaza gelangen sollten, beim Grenzübertritt bombardiert werden würden.
Grundsätzlich wären humanitäre Lieferungen aus Ägypten nach Gaza auch ohne Einverständnis der israelischen Regierung möglich. Im Unterschied zu Syrien, wo das Regime Teile seines Staatsgebiets von der Hilfe abschnitt und somit, der Rechtsauffassung der Vereinten Nationen folgend, für humanitäre Hilfe aus Drittstaaten eine Sicherheitsratsresolution notwendig wurde, ist Gaza nicht Teil des israelischen Staatsgebiets. Folglich hat die israelische Regierung keine souveränen Rechte in Gaza und es ist damit keine Befassung des Sicherheitsrates notwendig. Die De-facto-Blockade des Gazastreifens qua militärischer Dominanz steht ferner im Widerspruch zum Internationalen Humanitären Recht, das von den Konfliktparteien „eine rasche und ungehinderte Beförderung der humanitären Hilfe für die bedürftige Zivilbevölkerung“ einfordert.
Es bedurfte erst massiven Drucks, vor allem von Seiten der US-Regierung, um humanitäre Lieferungen wieder zuzulassen.
Es bedurfte erst massiven Drucks, vor allem von Seiten der US-Regierung, um humanitäre Lieferungen wieder zuzulassen. Seit dem 20. Oktober 2023 lieferten insgesamt 4 805 Lkw humanitäre Güter in den Gazastreifen (Stand 19. Dezember 2023), zumeist in den Süden. Die Menschen im Norden sind komplett von der Hilfe abgeschnitten. Vor dem Krieg überquerten durchschnittlich 500 Lkw pro Tag mit humanitären und kommerziellen Gütern die Grenze. Die Gesamtzahl der humanitären Lieferungen vom 20. Oktober bis zum 10. Dezember entspricht somit der regulären Zahl in rund zehn Tagen. Das reicht bei weitem nicht aus, um den Bedarf zu decken. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch kommt Ende Dezember 2023 zu dem Ergebnis, dass die israelische Regierung rechtswidrig das Aushungern der Menschen in Gaza als Waffe einsetzen würde.
Betrachtet man nun erneut Guterres’ Nutzung des Artikels 99 der UN-Charta im Lichte der Kritikerinnen und Kritiker, muss man zu dem Schluss kommen, dass die Kritik und auch die Vorwürfe gegen Guterres selbst nicht gerechtfertigt sind. Die humanitäre Lage in Gaza wie auch die hohe Zahl der zivilen Opfer pro Zeiteinheit sind präzedenzlos.