Mit der Anklageerhebung gegen hochrangige Führer Israels und der Hamas hat der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs der Welt das Versprechen gegeben, Rechenschaft abzulegen. Unabhängig davon, was am Ende juristisch herauskommt – mit der Beantragung von Haftbefehlen gegen Premierminister Benjamin Netanjahu und Hamas-Führer Yahya Sinwar trägt der Chefankläger des Gerichtshofs dazu bei, die momentan herrschende Sprache der Polarisierung zu durchbrechen; und er stärkt den Gedanken, dass die Grundregeln des humanitären Völkerrechts für alle gelten. Alle, die ein Ende des Konflikts im Gazastreifen und die Freilassung der Geiseln aus den Fängen der Hamas fordern, sollten diese Entscheidung begrüßen.

Chefankläger Karim Khan klagt auch die Hamas-Anführer Muhammed Deif und Ismail Haniyeh an. Er wirft den drei Hamas-Anführern aufgrund der Angriffe vom 7. Oktober Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen vor und betont mit Blick auf die Verschleppten, die sich nach wie vor in der Gewalt der Gruppierung befinden, dass die Begehung dieser Verbrechen zum Teil „bis heute“ andauere.

Auch Israels höchsten Regierungsvertretern, darunter Benjamin Netanjahu und Verteidigungsminister Joav Gallant, wirft Karim Khan Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor. Er erkennt zwar Israels Recht an, „Maßnahmen zum Schutz seiner Bevölkerung zu ergreifen“, er beschuldigt die israelische Führung aber des gemeinschaftlichen Plans, „Aushungern als Methode der Kriegsführung einzusetzen“, sowie gezielter Angriffe auf Zivilisten und anderer Formen der Kollektivbestrafung.

Der entscheidende Punkt ist, dass der Antrag auf beiden Seiten der Konfliktlinie zwingende Rechtsansprüche anerkennt.

Der entscheidende Punkt ist, dass der Antrag auf beiden Seiten der Konfliktlinie zwingende Rechtsansprüche anerkennt. Schon kurz nach dem Angriff der Hamas auf Israel hatten Familien israelischer Opfer Karim Khan eindringlich aufgefordert, gegen die Hamas zu ermitteln und unter anderem die Verschleppungen zu untersuchen. Verschleppungen werden vom Gerichtshof als Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingestuft. „Sie wollen nur, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wird“, sagte ein Anwalt, der einige betroffene Familien vertritt. Zu den Geiselnahmen erklärte Karim Khan Ende Oktober 2023 nach einem Besuch am Grenzübergang Rafah: „Solche Taten müssen untersucht werden und dürfen nicht unbestraft bleiben.“

Auch auf palästinensischer Seite sieht der Chefankläger berechtigte Forderungen. Als Joav Gallant wenige Tage nach den Angriffen vom 7. Oktober eine „vollständige Belagerung“ von Gaza und damit eine potenziell schwerwiegende Verletzung des Völkerrechts ankündigte, blieb dem Ankläger kaum etwas anderes übrig, als eine Untersuchung einzuleiten, die am Ende zu dem jetzigen Schritt führte.

Palästinensische Menschenrechtler drängen seit Langem auf internationale Ermittlungen und die strafrechtliche Verfolgung führender israelischer Regierungsvertreter. Ihrer Meinung nach hat der Gerichtshof dadurch, dass er nicht schon in der Frühphase des derzeit geführten Krieges – oder aufgrund der Repressionen im Westjordanland sogar schon vorher – Haftbefehle gegen israelische Regierungsvertreter erließ, die mögliche abschreckende Wirkung der Aussicht auf Strafverfolgung geschwächt. Verzögertes Recht sei Rechtsverweigerung, so ihr Argument.

Der Chefankläger hat beide Konfliktparteien gehört. Allerdings hat er sich dadurch, dass er seine – voneinander unabhängigen – rechtlichen Schritte gegen diese Funktionsträger zeitgleich eingeleitet hat, natürlich dem Risiko ausgesetzt, dass ihm dies als Gleichsetzung zwischen der Terrororganisation Hamas, die auf die eigene Bevölkerung wenig Rücksicht nimmt, und dem demokratischen Staat und UN-Mitglied Israel ausgelegt wird. Diese Lesart wird Khans Schritt allerdings nicht gerecht, denn er erkennt an, dass die Menschen beiderseits der Konfliktlinie berechtigte Ansprüche haben und dass das Recht dafür da ist, alle Menschen zu schützen.

Es ist das erste Mal, dass der Gerichtshof eine westliche Demokratie mit einem starken Gerichtswesen oder die oberste Führungsspitze eines engen Verbündeten der USA ins Visier nimmt.

Karim Khans Schritt ist ein absolutes Novum: Es ist das erste Mal, dass der Gerichtshof eine westliche Demokratie mit einem starken Gerichtswesen oder die oberste Führungsspitze eines engen Verbündeten der USA ins Visier nimmt. Nach dem Gründungsdokument des Internationalen Strafgerichtshofs – dem Römischen Statut – wird das Gericht nicht in Ländern strafrechtlich aktiv, die willens und in der Lage sind, Ermittlungen oder die Strafverfolgung gegen Personen ernsthaft durchzuführen, denen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Last gelegt werden. Dies wird Israel mit Sicherheit zum Kernstück seiner Gegenargumentation machen. Doch Karim Khans Anschuldigungen heben vor allem auf die Behinderung von humanitärer Hilfe und andere Kollektivstrafen ab, die in der Verantwortung der obersten Führung liegen – und bei diesen Personen ist es ganz besonders unwahrscheinlich, dass sie vor israelischen Gerichten oder vor den Gerichten irgendeines anderen Staates der Welt zur Verantwortung gezogen werden.

Im Zentrum der Vorwürfe gegen die Hamas-Führung stehen die Morde, die sexuellen Gewalttaten und die Geiselnahmen des 7. Oktober. Die Vorwürfe befinden sich im Einklang mit den Bestimmungen des Römischen Statuts, nach denen der Gerichtshof für die Ermittlung und Strafverfolgung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zuständig ist.

Indem er Vorwürfe gegen Einzelpersonen erhebt, wirkt der Ankläger darauf hin, dass die Welt ein Stück von den pauschalen und gefährlichen Rufen nach Kollektivverantwortung abrückt, die seit dem 7. Oktober den Tenor der Slogans und Parolen bilden. In keiner der beiden Strafsachen zieht Karim Khan die historisch begründeten oder politischen Ansichten in Zweifel, die dem Konflikt zugrunde liegen und die die Parteien entzweien. Der Antrag enthält keine Formulierung, die die Legitimität des Staates Israel oder das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser infrage stellt; er huldigt stattdessen dem Grundsatz, dass jede Einzelperson befähigt ist, sich in seinem Verhalten innerhalb der Grenzen des Völkerrechts zu bewegen, und dass sie sich zu verantworten hat, wenn sie dessen elementarste Regeln verletzt.

Viele Menschen in den USA und Israel werden diese Auffassung mit Sicherheit nicht teilen. Die Republikaner haben im Repräsentantenhaus bereits einen Gesetzentwurf eingebracht, der Khan und seinem Team von Ermittlern und Anwälten Sanktionen androht für den Fall, dass sie Ermittlungen und die Strafverfolgung aufnehmen. Manche Israelis werden dem Ankläger vorwerfen, er handle wie ein Freund der Hamas. Und selbst wenn das Gericht die Haftbefehle bestätigt, wird die Strafverfolgung außerordentlich hohe Hürden zu überwinden haben, zumal ihm die Hände gebunden sind, solange die Angeklagten nicht in Den Haag in Gewahrsam sind. Israel ist nicht Mitglied des Strafgerichtshofs und erkennt dessen Zuständigkeit weder auf dem eigenen Staatsgebiet noch im Gazastreifen an.

Für das weitere Schicksal der Strafverfolgung wird es entscheidend sein, welche Argumente vor Gericht ins Feld geführt werden. Die Vertreter Israels könnten die Zuständigkeit des Gerichts in Abrede stellen, weil es keinen palästinensischen Staat gebe, der seine Rechtsprechung anerkennen könnte, wobei der Gerichtshof in dieser Frage zu einem früheren Zeitpunkt anders entschieden hat. Sie könnten auch die von der Hamas verübte Gewalt und die Tatsache, dass sie die Bewohner von Gaza als menschliche Schutzschilde benutzt, für die katastrophale humanitäre Lage verantwortlich machen und erklären, sie täten alles in ihrer Macht stehende, damit die Zivilbevölkerung möglichst wenig zu Schaden kommt und Hilfslieferungen sicher ankommen.

Israel soll alle diese Argumente vor Gericht darlegen oder aber nachweisen, dass es im eigenen Land über rechtmäßige Verfahren verfügt, um die höchsten politischen Entscheidungsträger für in die Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs fallende Verbrechen zur Verantwortung zu ziehen, und dass somit eine Strafverfolgung durch den Gerichtshof unbegründet wäre.

Global betrachtet, hat jedes Opponieren gegen den Internationalen Strafgerichtshof seinen Preis.

Global betrachtet, hat jedes Opponieren gegen den Internationalen Strafgerichtshof seinen Preis. Derzeit ist das Gericht bestrebt, Präsident Wladimir Putin für mutmaßliche Verbrechen in der Ukraine strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen, und wird dabei von Amerika und Europa unterstützt. Das Gericht dient dem weltweiten Interesse, dass schlimmste völkerrechtliche Verbrechen geahndet werden. Von Attacken gegen den Gerichtshof profitieren diejenigen, die ihm die Existenzberechtigung absprechen wollen, wie Wladimir Putin.

Das Gericht muss seine Arbeit tun – und die besteht darin, das weltweite Gerechtigkeitsversprechen einzulösen und den Nachweis zu liefern, dass es eine individuelle Rechenschaftspflicht für die Anerkennung der Opfer auf beiden Seiten gibt. Es kann Protestierenden in aller Welt zeigen, dass internationale Institutionen nach wie vor ihre Aufgabe erfüllen und für Gerechtigkeit sorgen können. Darauf haben sowohl Israelis als auch Palästinenser ein Anrecht.

Dieser Artikel erschien zuerst in der New York Times.

Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld