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Die ersten Toten verzeichnete der Mittlere Osten am 19. Februar: Ganze drei Wochen bevor die WHO den globalen Ausbruch von Covid-19 zur Pandemie erklärte, starben zwei Iraner in der heiligen Stadt Qom an den Folgen der Virus-Infektion. Seitdem hat sich die Krankheit in nahezu der gesamten Region verbreitet: vom Iran nach Libanon, Syrien und in den Irak; von dort aus weiter nach Jordanien und Nordafrika. Neue Herde entstanden in Ägypten und am Golf. Mitte April verzeichneten der Nahe und Mittlere Osten und Nordafrika offiziell mehr als 170 000 bestätigt Infizierte und über 6 800 Tote. Die Dunkelziffer dürfte weitaus höher liegen.
In den urbanen Ballungszentren traf das Virus auf beengte Wohnverhältnisse, dysfunktionale Verwaltungsstrukturen und marode Gesundheitssysteme. Die teils zögerlichen Eindämmungsversuche taten ihr übriges, um die Verbreitung zu beschleunigen. Dort, wo der Tourismus zu den Haupteinnahmequellen zählt, wurden Reisebeschränkungen bisweilen lange aufgeschoben, um den Wirtschaftseinbruch zu verzögern. Gleichzeitig wirkten vor allem Urlauber – etwa durch Reisen ans Rote Meer, in die Golf-Metropolen oder zu den heiligen Stätten in Saudi-Arabien – als Katalysatoren für die Verbreitung des Corona-Virus. Der Tourismus ist zum Erliegen gekommen, die Kapitalmärkte eingebrochen und der Ölpreis im Keller. Das wirtschaftliche Leben steht still. Die totgesparten und maroden öffentlichen Gesundheitssysteme arbeiten dagegen trotz fehlender Ressourcen und Kompetenzen auf Hochtouren, um Corona-Patienten zu identifizieren, zu isolieren und zu behandeln.
Anders als in anderen Teilen der Welt dürfte die Corona-Krise jedoch einigen Regierungskreisen gleichzeitig nicht ganz ungelegen kommen. Denn neben Konzerten und Fußballspielen fielen auch öffentliche Demonstrationen, großflächige Sit-Ins und andere bürgerliche Massenversammlungen den verhängten Maßnahmen zur Vorbeugung weiterer Infektionen zum Opfer. Durch Reisesperren, Veranstaltungsverbote und weitere Restriktionen des öffentlichen Raums wurden vor allem die Zivilgesellschaften des Nahen Ostens und Nordafrikas hart getroffen und in ihrem neu gewonnenen Aktionismus ausgebremst.
Herrschte Anfang des Jahres angesichts einer Kaskade von Massenprotesten in der Region noch die Aussicht auf einen <link regionen naher-osten artikel detail im-zweiten-fruehling-3847>zweiten Arabischen Frühling, so liegt der demokratische Transformationsprozess nun erstmal auf Eis. Schlimmer noch: In einigen Staaten bietet die Maxime Infektionsschutz einen idealen Vorwand, die Revolutionen zurückzudrehen. Zwar ist die Repression von Dissens wohl nicht immer die vorderste Intention der Maßnahmen, die im Rahmen von Corona erlassen werden. Selbst in repressiven Autokratien wie Ägypten deuten investigative Recherchen auf ein echtes Problembewusstsein bei den Behörden hin. Doch stellt das unweigerliche Abebben von Protesten im Zuge von Ausgangsbeschränkungen für autoritäre Machthaber (übrigens nicht nur in Nahost) zweifelsohne einen angenehmen Nebeneffekt dar.
In einigen Staaten bietet die Maxime Infektionsschutz einen idealen Vorwand, die Revolutionen zurückzudrehen.
So etwa im Libanon, wo sich der Widerstand der Straße im Oktober 2019 vor allem an der desaströsen Wirtschafts- und Fiskalpolitik der nepotistischen Eliten entzündete. Das Land stand kurz vor dem Bankrott, gleichzeitig blockieren oligarchische Strukturen notwendige Reformen. Innerhalb kürzester Zeit brachten Rücktrittsforderungen gegen die Regierung hunderttausende Menschen auf die Straße. Als schließlich, bedingt durch die engen konfessionellen Verbindungen und den regen Flugverkehr zwischen Teheran und Beirut, dann auch noch Corona im Land ausbrach, befand sich die politische Klasse wie nie zuvor seit dem Ende des Bürgerkriegs in der Defensive. Umso entschlossener reagierte sie auf Corona – wohl auch um Handlungsfähigkeit zurückzugewinnen.
Der Libanon wurde zum Vorreiter im Nahen Osten: Wochen vor ähnlichen Maßnahmen in Europa schloss das Bildungsministerium Schulen und Universitäten, Bars und Einkaufszentren, Kinos und Fitnessstudios zur Eindämmung der Pandemie. Seit Mitte März besteht eine strikte Ausgangssperre, das Militär patrouilliert in den Straßen. Gedeckt durch den Infektionsschutz gingen die Behörden auch gegen die Protestbewegung vor. Am 27. März löste die Polizei das letzte Protestcamp in Beirut auf, in den Tagen danach gab es bei kollektiven Aktionen erstmals wieder Verhaftungen. Seitdem besteht bei den Protestierenden die berechtigte Sorge, dass die andauernde Krise der Regierung den nötigen Spielraum verschaffen könnte, um die Organisations- und Versammlungsfreiheit auch längerfristig einzuschränken.
Ähnliche Sorgen bestehen auch im Irak, der zweiten Republik, die im Oktober 2019 von den Nachwehen des Arabischen Frühlings erfasst wurde. Nach der Türkei und dem Iran ist der Irak das am stärksten betroffene Land der Region. Die noch amtierende Übergangsregierung, die aufgrund mehrerer gescheiterter Regierungsbildungsprozesse und interner Konflikte über wenig gesellschaftlichen Rückhalt verfügt, stellt die Krise vor eine Zerreißprobe. Als Corona ausbrach, hatte das Parlament noch nicht einmal einen Haushalt für 2020 verabschiedet. Gerade war zum zweiten Mal erfolglos ein neuer Premierminister designiert worden.
Vor diesem Hintergrund griffen die Behörden lediglich zu einigen erprobten Standardmitteln zur Eindämmung von Corona und verhängten eine Ausgangssperre für Bagdad und andere Provinzen sowie eine Reisesperre im Inland. Diese trafen die Protestbewegung empfindlich. Weitergehende Schritte zur Abfederung der sozio-ökonomischen Auswirkungen der Krise blieben hingegen aus. Es ist somit kaum überraschend, dass auch im Irak die Angst wächst, dass die Krise dazu missbraucht werden könnte, um politische Rechnungen zu begleichen. Unter dem Deckmantel der Ausgangssperre gingen in den letzten Tagen Milizionäre teils gezielt gegen Aktivisten vor. Die berühmte Protest-Aktivistin Umm Abbas verlor bei einem solchen Überfall am 5. April ihr Leben.
Ein weiteres offensichtliches Beispiel wie Corona einen Anlass zur Einschränkung von Meinungs- und Versammlungsfreiheit bietet, liefert auch Algerien, wo seit dem 17. März ein Verbot von Versammlungen und Märschen herrscht. Während die iranischen und türkischen Behörden im Wissen um die desolaten Zustände in ihren überbelegten Gefängnissen zehntausende Gefangene entließen, um einer Verbreitung von Corona vorzubeugen, verzeichnet Algerien seit Anbeginn der Ausgangssperren einen Anstieg an Einberufung und Verhören von kritischen Journalisten und Mitgliedern der Hirak-Bewegung; bewegungsnahe Journalisten, wie der Reporter Khaled Drareni riskieren Polizeigewahrsam oder sogar Haftstrafen. Darüber hinaus verschärften die algerischen Behörden – wie fast alle Länder der Region – ihre Kontrolle über die heimische Presse, um kritische Berichterstattung über die offizielle Corona-Politik zu verhindern. Besonders augenscheinlich ist diese Medienzensur in Ägypten, wo einer renommierten Guardian-Reporterin wegen „falscher Berichterstattung“ über Corona-Fallzahlen ihre Akkreditierung verlor.
Umso bezeichnender ist es, das die Reaktionen der Demonstranten vielerorts von hohem sozialen Verantwortungsbewusstsein geprägt sind – teils stärker als die Regierungspolitik.
Angesichts des doppelten Spiels vieler Regierungen, die Covid-19 zwar einerseits ernsthaft bekämpfen, aber andererseits auch als Handlungsvorwand instrumentalisieren, stellt die Corona-Krise die Bewegungen des zweiten Arabischen Frühlings vor ein kaum auflösbares Dilemma: Die Demonstrationen fortsetzen, und damit zur Verbreitung eines Virus beitragen, das die maroden Gesundheitssysteme ohnehin auf eine Belastungsprobe stellt, oder riskieren, dass die Proteste im Zuge der Pandemie ihr Momentum verlieren und die alten Regierungen das Heft des Handelns zurückerlangen.
Umso bezeichnender ist es, das die Reaktionen der Demonstranten vielerorts von hohem sozialen Verantwortungsbewusstsein geprägt sind – teils stärker als die Regierungspolitik. Im Großteil der Region brauchte es gar keine staatlichen Restriktionen: die Protestierenden zogen sich aus eigenem Antrieb von der Straße zurück. Wissend, dass eine Eindämmung von Covid-19 nur durch gemeinsame Anstrengung erfolgreich sein kann, nutzen viele Bewegungen ihr Sozialkapital zudem zur Aufklärung über die Krankheit und zur Unterstützung von Betroffenen und Risikogruppen.
Beispielsweise im Irak: Dort hatte die seit dem Soleimani-Attentat Anfang des Jahres ohnehin empfindlich geschwächte Bewegung das Risiko eines Pandemieausbruchs zu Beginn der Corona-Krise zunächst geringer bewertet, als die Regierungskrise und den wachsenden iranischen Einfluss im Land. Doch die Eskalation der Opferzahlen im Nachbarland bewirkte ein Umdenken. So verkündeten die Aktivisten Mitte März ein Aussetzen ihrer Kampagne bis Covid-19 eingedämmt ist und riefen in einer Awareness-Kampagne dazu auf, soziale Distanzierung, Selbstisolation bei Krankheitssymptomen und die Desinfektion öffentlicher Orte ernst zu nehmen.
Darüber hinaus nutzten sie ihr Netzwerk für Solidaritätsaufrufe mit Bedürftigen und zur Sammlung von Spenden für die Familien von Beschäftigten im informellen Sektor, für die die Ausgangssperre bereits jetzt existenzbedrohend ist. Im Libanon und in Algerien zogen Demonstrierende ähnliche Schlüsse und konzentrierten ihren Aktivismus auf das Internet und die sozialen Medien, wo sie ihre Bewegung über alternative Protestformen – darunter Bilder- und Videokampagnen, Hashtags und Unterschriftenaktionen – zumindest virtuell aufrechterhalten.
Kurzfristig mag die Krise den zuvor öffentlich angeprangerten Eliten die Chance bieten, von Staatsversagen abzulenken und sich als Krisenmanager neu zu erfinden. Mittel- bis langfristig spielt sie aber den Protestierenden in die Hände.
Diese Ablösung von öffentlichen Protesten durch digitale Kampagnen oder Unterstützungsaktionen für Betroffene wie die Verteilung von Desinfektionsmitteln, die Betreuung von Kranken oder die Einrichtung einer Seelsorgehotline für Menschen in Isolation, reproduziert ein Muster, das auch in anderen Weltregionen zu beobachten ist und weckt Hoffnungen auf ein Überwintern der Protestbewegungen bis in eine Zeit nach Corona. Denn kurzfristig mag die Krise den zuvor öffentlich angeprangerten Eliten die Chance bieten, von Staatsversagen abzulenken und sich als Krisenmanager neu zu erfinden. Mittel- bis langfristig spielt sie aber den Protestierenden in die Hände und untermauert ihre Forderungen nach kompetenten, verantwortlichen und inklusiven Governance-Strukturen.
Wie kaum eine Krise, zuvor macht Corona derzeit die arabischen Zweiklassengesellschaften sichtbar: Während die Profiteure der Systeme Zugang zu exzellenter privater Krankenversorgung genießen und es sich dank finanzieller Polster leisten können, Quarantäneperioden auszusitzen, sieht sich der Großteil der erwerbstätigen Bevölkerung mit einem totgesparten öffentlichen Gesundheitssystem und dem wirtschaftlichen Ruin konfrontiert. Tunesien, wo der Arabische Frühling Ende 2010 seinen Anfang nahm, verzeichnete in den letzten Tagen bereits erste Proteste verarmter Arbeiter gegen die Ausgangssperren. Der Slogan der Proteste: „Bevor wir krank werden, sterben wir an Hunger“.
Eben diese Ungleichheiten waren es, die in den Monaten vor Corona, einen Teil der Region auf die Straße brachte. Die Proteste trieb vor allem der Vertrauensverlust einer jungen und größtenteils arbeits- und perspektivlosen Generation in die herrschende politische Klasse. Diese Vertrauenskrise dürfte die Corona-Pandemie eher noch verschärfen. Bereits jetzt hat das Virus massive soziale Verwerfungen zur Folge, denen die Regierungen mit ihren teils über Jahrzehnte gewachsenen Klientelstrukturen und begrenzten finanziellen Spielräume kaum Herr werden können.
Denn am Horizont zeichnet sich bereits die nächste, der Eindämmung von Corona nachgelagerte Krise ab: Zwar werden Lieferketten nach der Wiederöffnung der Grenzen und Märkte wiederhergestellt werden und ein Großteil der erwerbstätigen Bevölkerung wird seine Arbeit wiederaufnehmen. Doch einer echten wirtschaftlichen Erholung in den Tagen nach Corona steht ein immens angewachsener privater und öffentlicher Schuldenberg im Weg. Bereits vor der Pandemie übertraf die Gesamtverschuldung von Ländern wie dem Libanon oder dem Sudan das jeweilige Bruttoinlandsprodukt. Finanzkrisen hatten viele Länder an den Rand des Bankrotts gebracht. Andere Regime hängen bereits seit Jahren am Tropf der Internationalen Finanzinstitutionen oder halten sich nur durch gewaltige Finanzspritzen aus den ölreichen Golfstaaten über Wasser.
Auf diese besorgniserregende Situation wirkt die Corona-Krise wie ein zusätzlicher wirtschaftlicher Schock: Die Devisenquelle Tourismus ist zum Erliegen gekommen; der Preis für die zentralen Exportprodukte Öl und Gas ist eingebrochen; Währungsverfall und Inflation der Lebenshaltungskosten wurden durch die Corona-Krise ebenfalls weiter angeheizt. Die Schuldenkrise hat wiederum verheerende Konsequenzen für die bislang stark subventionierten öffentlichen Versorgungsysteme.
Auch mit der hoffentlich baldigen Überwindung von Corona werden der Nahe Osten und Nordafrika somit kaum zur Ruhe kommen. Vielmehr stehen die Zeichen auf Sturm. Aus der Corona-Krise könnte sich in kürzester Zeit eine Staats- und Systemkrise entwickeln. In den Tagen nach Corona dürfte angesichts der gegenwärtigen Einschränkungen wohl zunächst der politische Kampf für Freiheits- und Gleichheitsrechte wiederaufgenommen. Bald wird aber auch die soziale Frage zurück auf die Tagesordnung rücken. Durch Corona wird die Revolution somit letztlich wohl nur vertagt, aber nicht verhindert.