„Es gibt Jahrzehnte, in denen nichts geschieht; und es gibt Wochen, in denen Jahrzehnte geschehen“. Es ist zwar sehr wahrscheinlich, dass Lenin dies ihm zugeschriebene Bonmot nie gesagt hat. Aber kein anderes Zitat bringt derart auf den Punkt, was der Nahe Osten in den letzten anderthalb Wochen erlebte. Der sprichwörtliche israelische Enthauptungsschlag gegen Hisbollahführer Hassan Nasrallah katapultiert die Region in den nach 1982 und 2006 dritten Libanonkrieg. Die amerikanische Strategie einer Eindämmung des Konflikts ist damit gescheitert. Zwar ist ungewiss, ob dies der Auftakt zu einem noch unkontrollierbareren regionalen Flächenbrand ist. Was sich aber bereits jetzt sagen lässt, ist, dass Israel in den letzten Wochen die Gesamtdynamik der regionalen Auseinandersetzung völlig auf den Kopf gestellt hat.

Der britische Economist spricht zu Recht von einem Echo von 1967. Wie damals gelingt es Israel durch genauso ruchlose wie tollkühne Schritte, seine Feinde k. o. zu setzen. Die libanesische Hisbollah galt als Israels gefährlichste sicherheitspolitische Herausforderung. Sie war der zentrale Part in der iranischen Strategie der Vorwärtsverteidigung. In wenigen Tagen nur hat Israel fast die gesamte politische und militärische Führung der Organisation eliminiert sowie durch seine weitreichende geheimdienstliche und militärische Durchdringung des Feindes Paranoia innerhalb der Anhänger- und Kämpferschaft geschürt. Der nun völlig zum Krieg eskalierte Konflikt ist eine Demütigung der Hisbollah, auch weil er das zentrale Versprechen der Partei, nämlich die Schutzmacht der bereits arg angeschlagenen Zedernrepublik gegen den zionistischen Erzfeind zu sein, ad absurdum führt.

Die Sechstagekriegs-Allegorie ist auch deshalb so passend, weil Beobachter noch bis eben davon ausgingen, dass an der israelischen Nordfront eigentlich ein Gleichgewicht des Schreckens bestehe. Dies hat sich nun innerhalb von wenigen Tagen als Mythos herausgestellt. Wie einst der stolze Araberführer Gamal Abdel Nasser sackt die angeblich so potente Schiitenmiliz wie ein Soufflé in sich zusammen. Gleich Nasser hatte auch Nasrallah bis zuletzt das Ohr der arabischen Welt. Doch die martialische Rhetorik steht in krassem Gegensatz zum erheblichen militärischen Versagen.

Die bis zu 200 000 Raketen und Geschosse, über die die Organisation verfüge, ebenso wie bis zu 40 000 Mann unter Waffen, sollten die Kosten eines Krieges für Israel eigentlich prohibitiv in die Höhe treiben. Davon ist jedoch wenig zu spüren. Systematisch hat die Hisbollah ihre eigene Abschreckung unterminiert, als sie auf immer weitergehende israelische Aggressionen kaum oder nur eingeschränkt reagierte. Es mag die Furcht vor der totalen Eskalation gewesen sein, die Nasrallah die Hand lähmte. Die Strategie seit dem 8. Oktober, dem Beginn der Feindseligkeiten an der Nordfront, war, die Temperatur merklich in die Höhe zu treiben, das Feuer jedoch nicht ausbrechen zu lassen.

Die totale Eskalation ist gleichwohl gekommen. Seine als strategisch getarnte Zögerlichkeit hat der Schiitenführer mit dem Leben bezahlt. Unklar ist, was vom einst sehr umfassenden Arsenal noch übrig ist. Sind die angeblich 10 000 präzisionsgelenkten Raketen mit 500-Kilogramm-Sprengköpfen noch einsatzfähig? Oder wurden sie durch die Präventivschläge der israelischen Luftwaffe bereits weitestgehend zerstört? Und wer könnte ihren Abschuss anordnen, jetzt, wo die Befehlskette zersprengt und hunderte Kommandeure getötet sind? Zwar ließe sich so Israels Zivilbevölkerung empfindlich treffen, von tausenden Opfern müsste ausgegangen werden. Dass ein solcher Einsatz das endgültige Kriegsglück noch wenden könnte, ist aber unwahrscheinlich.

Die totale Überwältigung der Hisbollah ändert auch die regionale Dimension der Konfliktdynamik.

Die totale Überwältigung der Hisbollah ändert auch die regionale Dimension der Konfliktdynamik. Bis vor kurzem ließ die iranisch geführte „Achse des Widerstands“ rhetorisch die Muskeln spielen. Zusammen mit seinem disparaten Netzwerk autonomer Glieder wähnte sich Teheran auf der strategischen Siegerstraße. Die jemenitischen Huthis sperrten das Rote Meer für die kommerzielle Schifffahrt, in Gaza leistete die Hamas lange Zeit erbittert Widerstand gegen die israelische Übermacht, in Israels Norden gelang es der Hisbollah, effektiv eine Pufferzone im Lande des Feindes zu schaffen. Nasrallahs Tod und die offenbare Agonie der Hamas zeigen nun die Grenzen der militärischen Effektivität. Hat sich die Achse möglicherweise selbst berauscht an all dem Gerede über eine koordinierte Einheitsfront gegen den israelischen Feind? Gegen ein hochgerüstetes, technologisch extrem überlegenes Israel, das zudem eine extrem rücksichtslose Kriegsführung betreibt, hat sie wenig ins Feld zu führen.

Überhaupt hat Israel in diesen letzten Tagen das wiederhergestellt, was am 7. Oktober verloren ging: den Mythos der eigenen Unbesiegbarkeit und der in jeder Hinsicht absolut überlegenen, technologisch-militärisch-geheimdienstlichen regionalen Supermacht. Gegen die ihre Gegner aussehen wie Maulhelden, die einer nach dem anderen dem Tod geweiht sind. Insbesondere der Iran steht nun vor einem extrem unangenehmen Dilemma. Einen großen Regionalkrieg scheut die Islamische Republik wie der Teufel das Weihwasser. Damit würde sie das Überleben des eigenen Regimes aufs Spiel setzen. Groß ist die Paranoia im Iran, dass Israel Teheran genauso geheimdienstlich durchdrungen haben könnte wie die Hisbollah. Zuschauen, wie mit der Hisbollah der langjährigste, loyalste und eigentlich militärisch fähigste Verbündete zerstört wird, kann Teheran aber auch nicht.

Nicht nur aus strategischen Gründen, denn die Schiitenmiliz war eigentlich das Kernstück in Irans Strategie der Vorwärtsverteidigung. Ihre auf Israel zielenden Raketen waren die Überlebensversicherung für das Atomprogramm, die verhindern sollte, dass der zionistische oder amerikanische Erzfeind Iran selbst attackierten. Hisbollahs Schwächung gefährdet nun Irans Sicherheit. Gleichwohl verstärkt es die militärische Logik hinter dem Atomprogramm – eine Dynamik, die ihrerseits stark konfliktverschärfend wirkt.

Aber nicht nur strategisch steht der Iran vor einem fast unauflösbaren Dilemma. Die Achse ist vor allem ein ideologisches Projekt. Den Untergang des wichtigsten Verbündeten zuzulassen, noch dazu derjenigen Organisation, die für Teheran häufig als militärischer und diplomatischer Intermediär zu anderen Milizen wirkte, wäre ein Gesichtsverlust, der den Bestand des Netzwerks selbst gefährdete. Der Verlust Nasrallahs ist hier am schmerzhaftesten zu spüren. Seine Bedeutung für die Achse kann kaum überschätzt werden. Der Schiitenführer war eine fast schon mythische Figur. Zu Tausenden brachen die Menschen im Libanon physisch zusammen, als die Hisbollah seinen Tod offiziell verkündete. Ein einziges Wehklagen war über den Dächern der Dahiye, der südlichen Beiruter Vorstadt, zu hören. Aus dem Irak, der zweiten arabischen Schiitenhochburg, sind ähnliche Szenen überliefert. Ehrfurcht und Anbetung, aber auch Schrecken und Hass waren die Emotionen, die sein Name hervorrief, der übersetzt „Sieg Gottes“ bedeutet und der die Hisbollah über drei Jahrzehnte lang mit eiserner Hand führte.

Groß ist die Furcht, dass die israelische Militärmaschinerie im Libanon ähnlich vorgehen könnte wie in Gaza.

Der weitaus weniger charismatische iranische Revolutionsführer Ali Khamenei wird sich wahrscheinlich, so risikoavers, wie er ist, über eine Art Mittelweg aus dem unauflöslichen Dilemma herauszuwinden suchen. Teherans Präferenz dürfte sein, das anfänglich triumphale Israel im Libanon in einen Abnutzungskrieg zu zwingen. Israel versucht jetzt schon, den Flughafen und die Grenzen nach Syrien zu kontrollieren, was darauf hindeutet, dass man sich auf eine längere Operation einstellt. Das Risiko eines Flächenbrands ist damit keinesfalls gebannt, auch wenn alle Groß- und Regionalmächte an einem solchen kein Interesse haben.

Für den Libanon ist diese Entwicklung katastrophal. Nur eine Woche Krieg hatte bereits über 1 000 Tote zur Folge. Noch nicht dazu gezählt sind womöglich hunderte Opfer, die allein der Schlag gegen das mutmaßliche Hisbollah-Hauptquartier in einem belebten Stadtteil verursacht hat. Die Bombenlast war so groß, dass die Körper der Menschen buchstäblich pulverisiert wurden. Laut Regierung haben die massiven israelischen Bombardements, insbesondere in den Gebieten mit großem schiitischem Bevölkerungsanteil im Süden und Osten des Landes, bereits eine Million Binnenvertriebene produziert. In Beirut schlafen die Geflüchteten unter offenem Himmel. Betroffen sind auch viele der über eine Million Syrer, die als Flüchtlinge nun abermals fliehen müssen.

Groß ist die Furcht, dass die israelische Militärmaschinerie im Libanon ähnlich vorgehen könnte wie in Gaza. Die post-apokalyptische Vernichtungslandschaft dort ist Warnung genug. IDF-Animationsfilme, die vermeintliche Cruise-Missiles zeigen, die versteckt in Privathäusern lagern, sollen Israel die Rechtfertigung geben, jegliche zivile Infrastruktur in Schutt und Asche zu legen. Evakuierungsaufrufe erfolgen nicht für einzelne Dörfer und Stadtteile, sondern bereits für ganze Großregionen des Landes. Ziel ist ganz offenbar eine Kollektivbestrafung der gesamten schiitischen Bevölkerung. Aufrufe, den Libanon „in die Steinzeit“ zu bomben, sind bereits seit Monaten von mehreren israelischen Politikern bekannt.

Militärische Potenz geht in Israel einher mit politischer Hybris.

Ob diese Strategie der reinen Gewalt mittelfristig Erfolg haben wird, ist mehr als fraglich. Neben massiven zivilen Opfern schürt sie Hass und Gewalt, und das auf Jahrzehnte. Militärische Potenz geht in Israel einher mit politischer Hybris. Den Preis freilich zahlen andere. Ein Land, das großen Teilen der Welt vorhält, die zivilen Opfer des 7. Oktober nicht ausreichend zu würdigen, legt eine erstaunliche Verachtung an den Tag, wenn es um zivile Opfer auf der anderen Seite geht. Es sei daran erinnert, dass dieser nun ausgebrochene Krieg keinesfalls alternativlos war. Er wurde Israel in der Form auch nicht aufgezwungen. Nasrallahs Forderung nach einem Ende der militärischen Auseinandersetzungen bestand in einem Waffenstillstand in Gaza, wo die waidwunde Hamas militärisch kaum noch eine Gefahr darstellt. Eine Forderung, die außer dem ermordeten Hisbollahführer auch die UN-Generalversammlung, der Sicherheitsrat, die deutsche Bundesregierung und, zumindest rhetorisch, die USA teilten. Die humanitäre Apokalypse in Gaza reicht wohl nicht aus, um der dort dahinsiechenden palästinensischen Bevölkerung eine Überlebensperspektive zu bieten. Jetzt wird der nächste Krieg eskaliert.

Sollte mit hoher Wahrscheinlichkeit die Bodenoffensive folgen, wäre ein Ende des Krieges kaum abzusehen. Es wäre nicht das erste Mal, dass sich Israel im Libanon verhedderte. Anders als Gaza ist der Libanon keine Enklave. Sein Hinterland reicht bis in den Iran. Zwar ist die Hisbollah derzeit im wahrsten Sinne des Wortes kopflos. Die Organisation ist jedoch verankert und ideologisch gefestigt genug, um in den Kampf zurückzufinden. Insbesondere wenn er im eigenen Land geführt wird. Eine physische Front mit dem Erzfeind dürfte den Libanon zudem zu einem Mekka für die globalen Dschihadisten machen. Man möchte sich nicht ausmalen, was von dem Land nach einer solchen Konfrontation noch übrigbliebe.

Nicht zuletzt ist dieser Krieg auch ein Scheitern der Amerikaner. Ziel der Weltmacht war es, eine Eskalation über Gaza hinaus zu vermeiden. Seit Monaten nun versuchen Präsident Biden und sein Außenminister einen Waffenstillstand zu vermitteln. Es ist atemberaubend zuzusehen, wie der israelische Premierminister den altersschwachen US-Präsidenten dabei immer wieder vor den Augen der Welt demütigt. Niemand sollte sich darüber täuschen: Es sind amerikanische Waffen, amerikanische Munition und amerikanisches diplomatisches Backing, die Israel den Krieg im Libanon erst ermöglichen. Und doch, politisch sind die Kräfteverhältnisse völlig in ihr Gegenteil verkehrt.