Mit dem gegenwärtigen Krieg zwischen Israel und der Hamas im Gazastreifen zeigt sich erneut, wie polarisiert die Debatte zum Nahostkonflikt geworden ist. Vor allem in den sozialen Netzwerken zeigen sich zwei Lager, die die binäre Logik der Debatte auf die Spitze treiben. Wie bei einem Fußballspiel entscheiden sich die Teilnehmer für eine Seite. Die Begriffe „pro-israelisch“ und „pro-palästinensisch“ beschreiben hier eine Zugehörigkeit zu Mannschaften, die sich eigener Symboliken wie Fahnen, Schals und Slogans bedienen. Für Positionen dazwischen gibt es kaum Raum.

Die Lagerbildung im Nahostkonflikt ist nicht neu, doch scheint sie diesmal besonders ausgeprägt zu sein. Sie wird zusätzlich befeuert durch den Vertrauensverlust mit Blick auf Quellen, die bislang als vertrauenswürdig eingestuft wurden, sodass auch das Heranziehen von Daten und Zahlen zunehmend zu einer Glaubensfrage wird.

Während es bei früheren Eskalationen eine Übereinstimmung über die Zahl der Toten und Verletzten gab, entbrannte diesmal eine Diskussion darüber, inwieweit den Zahlen der UN zu trauen sei, da sie die Angaben des von der Hamas geführten Gesundheitsministeriums in Gaza übernehmen und von pro-israelischen Akteuren als grundsätzlich anti-israelisch gesehen werden. Die andere Seite betont dagegen, dass die von der Hamas und der UN herausgegebenen Zahlen sich auch bei den früheren Eskalationen als korrekt erwiesen haben.

Nicht nur die Hamas, sondern auch offizielle israelische Quellen fielen durch mehrere Falschmeldungen auf.

Die Einschätzung über die Verlässlichkeit von Quellen wird diesmal durch die Verbreitung von Fakes zusätzlich erschwert. Nicht nur die Hamas, sondern auch offizielle israelische Quellen fielen durch mehrere Falschmeldungen auf. Die faktische Unklarheit vergrößert die Polarisierung, da sich auch für diejenigen, die sich um Objektivität und Sorgfalt bemühen, immer häufiger die Frage stellt, welcher Seite man eher glaubt.

Und manchmal übertrumpft der Glaube die Fakten selbst. So verhält es sich in Bezug auf UNRWA, die Unterorganisation der UN, die für palästinensische Flüchtlinge unter anderem im Gazastreifen zuständig ist. Ob man deren Angaben zu verbliebenen Mengen an Treibstoff und Essen oder den an sie gerichteten Vorwurf der Komplizenschaft mit der Hamas ernst nimmt, scheint eine Frage der Lagerzugehörigkeit geworden zu sein. Dass Israel den Vorwurf für eine Reihe von Mitarbeitern belegen konnte und diese daraufhin von UNRWA entlassen wurden, konnte dennoch keinen Konsens herstellen. Während die einen, wie erwartet, den sofortigen Finanzierungsstopp und das Ende der UNRWA-Mission forderten, spielten die anderen das Problem herunter, indem sie auf die geringe Anzahl der aufgeflogenen Mitarbeiter verwiesen. Letztendlich führte die Situation bislang nicht dazu, dass die bereits bestehenden Einstellungen hintangestellt worden wären zugunsten einer Neubewertung mit dem Ziel, die Lage der palästinensischen Bevölkerung zu verbessern und die Versorgungssicherheit zu gewährleisten.

Als Resultat der Polarisierung bewegen sich nicht nur Teile der Bevölkerung zunehmend in zwei unterschiedlichen Realitäten, sondern mittlerweile auch Personen, die sich beruflich mit Israel und Palästina beschäftigen und deren Aufgabe darin besteht, eine sachliche Darstellung zu versuchen. Verdacht und Misstrauen gegenüber der anderen Seite herrschen vor. Wie ist es so weit gekommen?

Die gemeinsame Mitte im Diskurs ist verloren gegangen. Dies ist eine Folge der Entwicklungen vor Ort, in der keine Lösung mit zwei Staaten Seite an Seite mehr vorstellbar ist. Dazu wurden in der internationalen Diskussion willentlich Narrative verschoben. Der Nahostkonflikt hat sich von einem nationalen Konflikt zweier Völker um ein und dasselbe Territorium zu einem existentiellen Konflikt gewandelt. Mit den Osloer Verträgen gelang noch die Vision, dass beide Nationen durch geografische Trennung befriedet werden könnten. 30 Jahre später scheint der Pragmatismus einer territorialen Aufteilung der absoluten gegenseitigen Ablehnung gewichen. Das Recht auf Existenz der jeweils anderen Seite und deren Berechtigung zur nationalen Selbstbestimmung werden von vornherein angezweifelt. Die Nichtanerkennung der Anderen, die Ignoranz und Ablehnung ihrer Perspektive, geht gleichzeitig einher mit dem Abweisen jeglicher Verantwortung von sich.

Keine Seite ist mehr bereit, die andere zu sehen.

Im gegenwärtigen Krieg stellt die jeweilige Kontextualisierung beziehungsweise Dekontextualisierung ein solches Beispiel dar. Die einen sehen den Angriff der Hamas am 7. Oktober als eine logische Konsequenz der Besatzung und der israelischen Politik – womit der Terror als Widerstand verherrlicht wird, bis keine eigene Verantwortung erkennbar ist. Für die anderen spielt die Geschichte des Konflikts keine Rolle: Die Hamas wird gleichgesetzt mit dem Islamischen Staat, und der Angriff am 7. Oktober wird zu einem Angriff des internationalen Terrorismus, wie er überall auf der Welt hätte stattfinden können, nur dass Israel zufällig zum Ziel wurde. Keine Seite ist mehr bereit, die andere zu sehen. Es gilt nur „David gegen Goliath“, wobei man für sich in Anspruch nimmt, der Erstere zu sein.

Mit dem Scheitern jeglicher Friedensverhandlungen und der stagnierenden Situation für die Palästinenser wird seit Jahren die Logik von „Gut gegen Böse“ durch einzelne Organisationen gezielt in die internationale Debatte getragen. Die Aufgabe von Menschenrechtsorganisationen, weltweit Aufmerksamkeit auf Missstände zu lenken, ist wichtig und eine zivilisatorische Errungenschaft. Dabei geht jedoch manchmal die Genauigkeit und Präzision der Auswahl der Begriffe verloren, wie beispielsweise im Apartheidvorwurf gegenüber Israel. „Apartheid“ ist ein feststehender Rechtsbegriff und historische Praxis, die auf rassischer Diskriminierung fußt. In Bezug auf Israel wird er zu einem Kampfbegriff, bei dem der Kontext des Konflikts ignoriert wird und eine klare Front zwischen Gut und Böse konstruiert wird.

Dabei bestehen qualitative Unterschiede in der Analyse und der Methode der Berichte. Während sich die israelische Menschenrechtsorganisation Yesh Din auf die besetzte West Bank bezieht, gilt der Vorwurf der Apartheid für Human Rights Watch und B’tselem zusätzlich für Kernisrael, Gaza und Ostjerusalem. Amnesty International schließt darüber hinaus Palästinenser in der Diaspora mit ein und führt die Ursprünge des Apartheidregimes auf die israelische Staatsgründung zurück. Gemeinsam ist ihnen die Absicht der Verschiebung des Narrativs. Denn Apartheid ist grundsätzlich durch nichts zu rechtfertigen.

Ähnlich verhält es sich mit der Anwendung der postkolonialen Theorien. Nicht nur sind Theorien nicht dazu gedacht, die ganze Welt durch eine bestimmte Linse zu beschreiben, sondern um sie analytisch greifbarer zu machen – so kommen auch die besonders kritischen Analysen zum Siedlerkolonialismus aus der israelischen Wissenschaft. Sie sollen dazu verhelfen, Aspekte der israelischen Geschichte und Politik aus dieser Perspektive zu deuten, werden aber zur politischen Agenda, wenn das wissenschaftliche Interesse an Erkenntnis zugunsten von Komplexitätsreduktion hintangestellt wird. Dann gibt es nur Unterdrücker und Unterdrückte.

Eine Politisierung von Begriffen und Definitionen, die explizit nicht für den politischen Gebrauch gedacht sind, findet ebenfalls auch auf der anderen Seite statt. Bekannt ist das Beispiel von IHRA (International Holocaust Remembrance Alliance), der Arbeitsdefinition zur Beobachtung und Analyse von Antisemitismus. Sie ist an vielen Stellen offengehalten und deren Versatzstücke sind kontextbezogen zu interpretieren. Mittlerweile wird sie jedoch mitunter als eine bindende Definition zur kontextlosen Regulierung herangezogen. Gerade die in ihr enthaltenen Beispiele zum israelbezogenen Antisemitismus werden teilweise restriktiv ausgelegt und zur politischen Anleitung umfunktioniert. Die bereits kaum vorhandenen Räume, in denen man bereit ist, Spannung auszuhalten, werden dadurch noch rarer.

Bei solch einer Dynamik, in der Daten, Begriffe und Definitionen für den präzisen Gebrauch zum besseren Verständnis einzelner Phänomene entfallen und für den Kampf zwischen beiden Lagern umgerüstet werden, bleibt kein analytisches Instrumentarium übrig. Die Anführung dieser Begriffe und Definitionen bedeutet schon eine Positionierung und markiert mittlerweile eher die eigene Lagerzugehörigkeit, als auf den eigentlichen Sachverhalt zu fokussieren, wie etwa „Besatzung“ oder „Antisemitismus“.

Es ist wichtig, gegen offensichtliche Fakes, aber auch gegen die willentliche Verschiebung von Narrativen und die Zweckentfremdung von Begriffen und Definitionen vorzugehen.

Was tun? Es ist wichtig, gegen offensichtliche Fakes, aber auch gegen die willentliche Verschiebung von Narrativen und die Zweckentfremdung von Begriffen und Definitionen vorzugehen. Eine vergleichbare Entwicklung durchläuft derzeit der Begriff des Genozids. Er wird von beiden Seiten herangezogen, passt jedoch in seiner eigentlichen Definition, nach der beabsichtigt wird, ein Volk als solches zu vernichten, am ehesten auf die Erklärungen und Taten der Hamas. Mehrere israelische Minister sind wiederum durch Vertreibungs- und Vernichtungsfantasien gegenüber Palästinensern in Gaza aufgefallen. Bezogen auf das Vorgehen der Israelischen Armee im Gazastreifen ist der Vorwurf des Völkermords ein Versuch, den dramatischen Opferzahlen einen besonders extremen Kontext zu verleihen, obwohl der Tod von Tausenden Zivilisten an sich schon schrecklich genug ist. Damit wird eine nuancierte Auseinandersetzung mit der israelischen Kriegsführung moralisch unmöglich und für Ambivalenz bleibt kein Platz. Es ist daher gut, dass die Vorwürfe vor dem Internationalen Gerichtshof verhandelt werden und somit in den eigentlichen juristischen Gebrauch zurückversetzt werden.

Die entgegengesetzten Interpretationen des Zwischenurteils von Ende Januar verraten jedoch bereits, dass auch im Falle einer Entscheidung beide Seiten ihre Einstellungen nur bekräftigt sehen könnten. Weil das Gericht keinen unmittelbaren Stopp der Kriegshandlungen anordnete, wurde das Urteil in den Augen der einen Seite als ein Sieg Israels gewertet. Da sich das Gericht aber dafür entschied, dem Völkermordvorwurf nachzugehen, lasen andere das Urteil gleichzeitig als eine vorläufige Bestätigung des Vorwurfs und als eine Handlungsanweisung, Israel zu sanktionieren

Die öffentliche Diskussion muss aufhören, den Konflikt als Nullsummenspiel zu begreifen.

Die Dynamik der Zweiteilung in Schwarz und Weiß aufzuhalten, gelingt nur, wenn der Konflikt wieder zu einem nationalen und territorialen Konflikt zwischen zwei gleichberechtigten Völkern rationalisiert werden kann. Auch die öffentliche Diskussion muss aufhören, den Konflikt als Nullsummenspiel zu begreifen. Die Logik eines Existenzkampfs, in dem nur eine Seite gewinnen darf, führt zu einer Niederlage von beiden.

In Israel nehmen gerade die Wortführer der arabischen Minderheit eine entsprechende Rolle in der Debatte ein. Die Vorsitzenden der beiden wichtigsten arabischen Parteien der Knesset, Ayman Odeh und Mansour Abbas, äußerten unlängst in Meinungsartikeln, dass sie sich weiterhin dafür einsetzen, beide Seiten zu sehen. Schon wenige Tage nach dem 7. Oktober verurteilte Mansour Abbas, der der islamischen Partei Ra’am vorsteht, die an der letzten Regierungskoalition beteiligt war, die Geiselnahme als unislamisch. Es ist unter anderem ihr Verdienst, dass im Gegensatz zum Gaza-Krieg im Mai 2021 trotz Aufstachelung des rechtsradikalen Ministers Ben Gvir keine gewaltsame Konfrontation zwischen Juden und Arabern stattfand.

Mit ihrem Verhalten zeigen sie besondere Courage. Israelische Araber erleiden gerade die Probleme beider Seiten. Am 7. Oktober gab es auch unter ihnen Tote und Geiseln, die von der Hamas verschleppt wurden. Vereinzelt finden sich auch unter den gefallenen Soldaten drusische Israelis. Gleichzeitig sind viele der israelischen Araber mit der Bevölkerung in Gaza verbunden und haben Verluste durch israelische Bomben zu beklagen. Wenn ihre Vertreter es schaffen, in dieser Situation sowohl für Israelis als auch für Palästinenser Akzeptanz zu zeigen, müssen wir im entfernten Europa umso eher dazu fähig sein.