Natürlich war der mörderische Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober für das iranische Regime ein Grund zum Feiern: Der geopolitische und ideologische Erzfeind wurde gedemütigt wie nie zuvor, was eine regimeeigene Tageszeitung mit einem Count-up der Todeszahlen feierte, um schließlich das eintausendste „zionistische Opfer“ zu bejubeln. Fest steht, dass Teheran zumindest auf indirekte Weise in die Attacke involviert war – immerhin unterstützt das Regime die Hamas mit Geld, Waffen und in Ausbildungsangelegenheiten. Doch ging die Beteiligung Teherans darüber hinaus? Und ist die Situation für die Islamische Republik, wie vielfach im Westen interpretiert, allein Anlass zur Freude, oder birgt sie womöglich auch Risiken?
Irans Oberster Führer Ali Khamenei begrüßte den Angriff als „Werk der Palästinenser“, womit er, wie einige Wochen später auch Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah („100 Prozent palästinensisch“), die Beteiligung Irans semantisch auf eine Hintergrundrolle einhegte. Weder Israel noch die USA haben bislang Beweise für eine direkte Beteiligung Irans vorgelegt. Mehrfach haben iranische Verantwortliche in den vergangenen Wochen betont, vorab keine Kenntnisse zu dem Hamas-Angriff gehabt zu haben, was laut Medienberichten auch die US-Geheimdienste glauben.
Ein Bericht der Nachrichtenagentur Reuters geht sogar so weit zu behaupten, Teheran sei von dem Angriff überrascht worden, nicht einmal die grenznahen Posten der Hisbollah im libanesischen Süden seien in Alarmbereitschaft gewesen. Bei einem Treffen Anfang November in Teheran soll Khamenei Hamas-Politbürochef Ismail Haniyeh deshalb deutlich gemacht haben, da man im Vorfeld nicht über den Angriff am 7. Oktober informiert worden sei, könne die Hamas jetzt auch kein stärkeres Eingreifen Irans erwarten. Er habe Haniyeh außerdem eingeschärft, diejenigen Stimmen in den eigenen Reihen verstummen zu lassen, die lautstark nach einer intensiveren Beteiligung Irans riefen. Die Hamas weist den Bericht als falsch zurück.
Strategisch hat der Angriff der Hamas auf Israel den Iran vor allem im Hinblick auf zwei Aspekte gestärkt. Die geplante Annäherung zwischen Israel und Saudi-Arabien, Netanjahus außenpolitisches Prestigeprojekt, liegt bis auf Weiteres auf Eis. Kronprinz Mohammad bin Salman weiß: Seine ohnehin extrem israelkritische Bevölkerung schaut ebenso wie die anderer arabischer Länder auf die brutale Kriegsführung Israels, bei der die palästinensische Bevölkerung in Gaza gemäß verschiedener Medienberichte auf ein minimales Niveau ausgedünnt werden soll. Womöglich kann auch er sich Gewinnbringenderes vorstellen, als ausgerechnet mit den rechtsextremen Kräften rund um Benjamin Netanjahu, die von ethnischen Säuberungen fabulieren, über eine Annäherung zu verhandeln, die auf den Straßen der Region verachtet wird.
Die geplante Annäherung zwischen Israel und Saudi-Arabien liegt bis auf Weiteres auf Eis.
Iran dagegen, der nie von dem Ziel der Vernichtung Israels zugunsten eines palästinensischen Staates abgerückt ist, kann sich noch glaubwürdiger als zuvor als der ungebrochene Verfechter der palästinensischen Sache profilieren, intensiviert so seine Beziehungen zu den Ländern des Globalen Südens und umgeht damit westliche Isolationsbemühungen. Auch dürfte sich durch die jüngsten Bilder freigelassener palästinensischer Häftlinge (viele von ihnen ohne Prozess in sogenannter „Administrativhaft“ festgehaltene Frauen und Minderjährige) der Eindruck verfestigt haben, dass es die Aktionen der Hamas und ihrer Unterstützer sind, die dem mächtigen israelischen Gegner schmerzhafte Zugeständnisse abringen und vielleicht sogar wieder einen politischen Prozess anstoßen können – weitaus mehr, als die Normalisierungsfraktion in den Augen der Palästinenser für sie erreicht hat.
Andererseits hatte auch Iran in den vergangenen Monaten deutliche Signale der Entspannung gesendet. Die von China verhandelte Détente mit Saudi-Arabien im März dieses Jahres geriete in einem größeren Konflikt womöglich unter die Räder. Gespräche hatte Iran kürzlich auch wieder mit Bahrain, Sudan und Ägypten geführt. Auf der Suche nach neuen (und alten) Partnern im Klammergriff westlicher Sanktionen hat Iran viel zu verlieren, sollte es die gerade geknüpften Bande nicht behutsam hegen und pflegen.
Darüber hinaus geht die Analyse der Zusammenarbeit der sogenannten „Achse des Widerstands“ – die von Teheran über Bagdad, Damaskus, Beirut, den libanesischen Süden zu Gruppen in den palästinensischen Gebieten und den Huthis im Jemen führt – oftmals an der Realität vorbei. Bei den Verbündeten handelt es sich um einen Zusammenschluss sehr verschiedener, zum Teil erheblich autonomer Akteure und Gruppen, die mit Teheran in unterschiedlicher Intensität und im Hinblick auf verschiedene Ziele zusammenarbeiten – und sicher nicht für jede ihrer Aktionen auf ein Signal aus der iranischen Hauptstadt warten.
Vielmehr ist ein kohärentes Bündnisnetzwerk entstanden, das selbstständige Aktionen mit strategischer Koordination verbindet, um das kollektive Wesen der Achse zu stärken. Ihre Mitglieder haben ein flexibles Kommandonetz aufgebaut, das eine dynamische Aufgabenverteilung erlaubt – und das es derzeit nutzt, um die militärischen Fähigkeiten der Hamas zu erhalten und gleichzeitig eine direkte Konfrontation mit den Vereinigten Staaten zu vermeiden. So gelingt es der Hamas ihrerseits auch 60 Tage nach Beginn des Flächenbombardements durch die israelische Armee nach wie vor, Israel täglich mit Raketen aus dem Gazastreifen zu penetrieren. Die einfache, aber irrige Annahme, dass schlicht der blinde Hass auf den „zionistischen Feind“ diese Gruppen zum Handeln antreibe, lässt außer Acht, dass sie ebenso eigene regionalpolitische Interessen verfolgen wie andere Akteure auf der geostrategischen Bühne auch.
Teheran dürfte an einer Eskalation des Konflikts nicht interessiert sein.
Das gilt zuvorderst für die Hamas: Während das iranische Regime Bashar Al-Assad im Zuge des syrischen Bürgerkriegs an der Macht hielt, arbeitete die Hamas, die ihren Ursprung in der Muslimbruderschaft hat, am Sturz des Diktators. Erst als die Hamas und Syrien im Herbst 2022 wieder Beziehungen zueinander aufnahmen, vertiefte sich auch das Verhältnis zu Teheran erneut. Dass dieses nun in der kurzen Zeit so eng geworden sein soll, dass Iran direkten Einfluss auf die Hamas-Führung nehmen und ihr Anweisungen erteilen könnte, ist wenig wahrscheinlich.
Die fast ausschließliche Betrachtung jeglicher Milizen als gesteuerte Proxys der Islamischen Republik, somit als reine Marionetten der Strippenzieher in Teheran, schafft zahlreiche blinde Flecken. Denn bei manchen von ihnen handelt es sich um politische Akteure, die in ihren Ländern Ministerien führen und politische Posten besetzen. Die zu Businessplayern und Wirtschaftsfaktoren geworden sind und die innenpolitische, gesellschaftliche und soziale Aspekte in ihre Überlegungen einbeziehen müssen, um sich an der Macht zu halten oder diese auszubauen. Das zu ignorieren, hat nicht selten dazu geführt, sie falsch einzuschätzen.
So dürfte auch die Hisbollah – direkter als die Hamas von Teheran gesteuert, aber eben auch nicht vollends – eigene Erwägungen in die Gespräche mit Vertretern der iranischen Revolutionsgarden einbringen, womöglich im gemeinsamen Kommandozentrum in Beirut: Sie weiß, dass eine Mehrheit der Libanesinnen und Libanesen, inmitten der schlimmsten Wirtschaftskrise des Landes und gerade einmal drei Jahre nach der zerstörerischen Hafenexplosion von Beirut, keinen Krieg will. Sie weiß auch, dass der iranische Staatshaushalt nach Jahren von Missmanagement, Korruption und internationalen Sanktionen zu geschröpft ist, als dass aus ihm allenfalls der Wiederaufbau Beiruts finanziert werden könnte.
Auch die Islamische Republik selbst muss, nach einem Jahr heftigster politischer Unruhen, einen Balanceakt im Innern schaffen: Viele Kritiker des iranischen Establishments sprechen sich seit Langem gegen die finanzielle und politische Unterstützung ausländischer Organisationen aus, so zuletzt der prominente reformistische Ex-Präsident Mohammad Khatami, da das Land selbst in einer Wirtschaftskrise stecke.
Teheran, darauf deutet also vieles hin, dürfte an einer Eskalation des Konflikts nicht interessiert sein. Das haben führende Regimevertreter in den vergangenen Wochen immer wieder betont. Auch hat die Islamische Republik eine direkte Konfrontation mit Israel und den USA stets vermieden – zu der es aber kommen könnte, sollte sie mit der Hisbollah die wohl am besten ausgerüstete Miliz der Welt ins Feld führen. Eine Miliz, die gleichzeitig als Abschreckungsinstrument gegen einen größeren israelischen Angriff auf iranisches Territorium dient und die sie kaum bereit sein wird, für die Hamas zu opfern.
Iran hat ohne Zweifel einen strategischen Erfolg errungen.
Gebannt allerdings ist die Gefahr nicht: Das Handeln Teherans wird weiterhin von dem der israelischen Armee im Gazastreifen abhängen. Sollte Israel tatsächlich kurz davorstehen, die Hamas militärisch zu zerschlagen, könnte Iran seinen Einsatz erhöhen, um zu vermeiden, dass Israel seinen Fokus künftig komplett in den Norden verlagert.
Iran hat ohne Zweifel einen strategischen Erfolg errungen: Mit der sogenannten Achse des Widerstands ist es gelungen, ein Militärbündnis aufzubauen, das sich als Gegengewicht zur israelischen und amerikanischen Macht im Nahen Osten positioniert – und an mehreren Fronten gleichzeitig mobilisiert. Sie kann den jüdischen Staat tatsächlich schmerzlich treffen. Ein Krieg zwischen der Hisbollah und Israel würde heute ganz anders aussehen als noch 2006. Die Miliz hatte ihr Raketenarsenal bereits 2016 mehr als verzehnfacht und durch den Krieg in Syrien an der Seite des Assad-Regimes sowie gegen den IS wertvolle Kampferfahrung gesammelt.
Man hat aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt, Strategie längst an die Stelle von blinder Ideologie gerückt sowie Geduld und Affektkontrolle als wertvolle Tugenden erkannt. So sendet Teheran mit seiner Zermürbungstaktik – mit Raketen aus dem Jemen, Angriffen auf US-Stellungen im Irak und in Syrien, mit der Stationierung von iranischen Revolutionsgarden auf syrischem Territorium und ihrem Juwel, der Hisbollah – die Botschaft: Israel soll sich an keiner seiner Grenzen sicher fühlen. Teheran sucht nicht den kurzfristigen taktischen Vorteil, sondern spielt das long game.
Die Achse ist bereit. Bereit, sich zurückzuhalten, wenn es der Sache dient, und ebenso bereit, zuzuschlagen, wenn es nötig wird. Im Westen wird es darum gehen, diese verschiedenen Dynamiken und Logiken zu begreifen, und die Annahme zu überwinden, ideologische Akteure könnten keine geostrategisch denkenden Akteure sein.