Als die Hamas am 7. Oktober die israelischen Sperranlagen an der Grenze zum Gazastreifen durchbrach und ihr Massaker begann, kam beinahe sofort das Gefühl auf, Israel werde nie wieder dasselbe Land sein. Innerhalb weniger Stunden mussten die Israelis der Realität ins Auge sehen und erkennen, dass viele Grundannahmen der israelischen Palästina-Politik wie ein Kartenhaus in sich zusammenstürzten. 16 Jahre staatlicher Blockadepolitik gegenüber dem Gazastreifen hatten es nicht vermocht, den Israelis Sicherheit zu bringen.
Das Kalkül der Regierung, sie könne die Hamas zu einem pragmatischen Kurs anstiften, indem sie zuließ, dass Katar die Hamas finanziert, oder indem sie Menschen aus Gaza Arbeitserlaubnisse erteilte, ist nicht aufgegangen. Stattdessen ließ Israel sich durch dieses Kalkül zur Selbstgefälligkeit hinreißen. Dass die Bedrohung durch die Hamas sich mit Hilfe von High-Tech-Überwachung, unterirdischen Sperranlagen und des Raketenschutzschirms Iron Dome neutralisieren ließe, erwies sich als tödlicher Irrglaube.
Die Angriffe der Hamas haben auf grundsätzliche und grauenhafte Weise mit der Vorstellung aufgeräumt, die Palästinafrage lasse sich politisch unendlich vertagen, ohne dass Israel dafür einen Preis zu bezahlen hätte. Von dieser Vorstellung war die politische Führung in Israel so selbstverständlich ausgegangen, dass Kommentatoren sich eigene Vokabeln wie „Konfliktmanagement“ oder „Shrinking the conflict“ dafür ausdachten. Dementsprechend finden seit Jahren keine Verhandlungen zwischen Israelis und Palästinensern über ein endgültiges Friedensabkommen mehr statt, obwohl Israel sich zeitgleich um die Normalisierung seiner Beziehungen zu immer mehr arabischen Staaten bemüht. Mehr als 20 Jahre lang hatten die rechten Parteien, die Israels politische Landschaft dominieren, den Wählerinnen und Wählern versprochen, diese Politik beschere dem Land mehr Sicherheit als jede andere – und die Mehrheit der Wählerschaft glaubte an dieses Versprechen. Der Angriff der Hamas am 7. Oktober brachte den Status quo nun zum Einsturz.
Unter einem wesentlichen Aspekt bleibt in Israel dennoch alles beim Alten. Zwar kreiden die Israelis ihrer politischen Führung das katastrophale Sicherheitsversagen im Zusammenhang mit den Hamas-Angriffen an, aber dass sich an ihrer politischen Grundausrichtung etwas ändert, ist unwahrscheinlich. Es ist gut möglich, dass Premierminister Benjamin Netanjahu nach Kriegsende nichts anderes als der Rücktritt übrigbleiben wird – vielleicht sogar schon eher, denn einen klar definierten Endpunkt hat der Krieg nicht.
In den Wochen seit dem Angriff wurde bereits bei mehreren Demonstrationen Netanjahus Rücktritt gefordert.
Israels Geschichte hat jedoch gerade in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder gezeigt, dass das Land nach Phasen von Krieg oder extremer Gewalt wie der jetzigen politisch noch stärker nach rechts rückt. Wenn dieses Muster auch jetzt wieder greift, kann es gut sein, dass die Israelis eine neue Regierung wählen und trotzdem an genau jenen irrigen Annahmen festhalten, die für das Abdriften nach rechts maßgeblich waren und die jetzige Krise mitprägen.
Dass viele Israelis das desaströse Sicherheitsversagen ihres Landes Netanjahu persönlich anlasten, weil er an der Spitze steht, ist nicht verwunderlich. Erstaunlicher ist, dass sie ihren Protest mitten in einem Krieg artikulieren, der schwieriger zu führen ist als die meisten anderen Kriege, die Israel in den vergangenen Jahrzehnten ausgefochten hat. In den Wochen seit dem Angriff wurde bereits bei mehreren Demonstrationen Netanjahus Rücktritt gefordert. Dieser Forderung schloss Oppositionsführer Jair Lapid sich ebenso an wie einige Familien, deren Angehörige von der Hamas ermordet oder entführt wurden. Zahlreichen Umfragen zufolge hätte Netanjahu mit einer krachenden Niederlage zu rechnen, wenn jetzt gewählt würde.
Sogar laut einer Umfrage, die am 22. und 23. November unmittelbar nach Bekanntgabe der Einigung auf eine Geiselbefreiung durchgeführt hatte, würde die Regierungskoalition 23 ihrer 64 Sitze einbüßen (insgesamt gibt es in der Knesset 120 Sitze), obwohl durchaus zu erwarten gewesen wäre, dass die erwirkte Geiselbefreiung die Position der Regierung deutlich stärkt. Auch der Rückhalt für Netanjahus eigene Partei schwindet dramatisch: Wenn jetzt Wahlen stattfänden, würde die Likud-Partei fast die Hälfte ihrer 32 Knesset-Sitze verlieren. Der frappierendste Aspekt ist wohl, dass mehr als drei Viertel aller Israelis der Meinung sind, Netanjahu solle nach dem Krieg oder auch schon während des Krieges zurücktreten.
Diese Zahlen stehen in krassem Kontrast zu der Erfahrung, dass die meisten Staats- und Regierungschefs von einer riesigen Welle der Unterstützung getragen werden, wenn ihr Land angegriffen wird oder Krieg führt. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 scharten die Amerikanerinnen und Amerikaner sich schlagartig hinter US-PräsidentGeorge W. Bush. Während des Golfkriegs 1990/91 und während des 2003 begonnenen Irakkriegs verzeichneten die Zustimmungswerte der US-Führung zweistellige Zuwachsraten. Auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj erlebte 2022, nachdem Russland in sein Land einmarschiert war, einen überwältigenden Popularitätsschub.
Netanjahus im Dezember 2022 geschmiedete Rechtsaußen-Koalition wurde schon lange vor dem Angriff der Hamas breit und heftig kritisiert. Fast das ganze Jahr über gingen Israelis massenhaft auf die Straße und protestierten gegen die höchst umstrittenen Pläne der Regierung für eine Justizreform. Es war die längste Protestwelle in der Geschichte Israels; der 7. Oktober hätte die 40. Protestwoche eingeläutet. Schon im April hielten nur noch 37 Prozent der Israelis zu ihrem Premierminister; nach dem Angriff der Hamas ist diese Zahl auf 26 Prozent abgestürzt. Mitte November favorisierten doppelt so viele Israelis – 52 Prozent – Netanjahus wichtigsten politischen Widersacher Benny Gantz, der früher Generalstabschef war und dem von Netanjahu als Notstandsregierung gebildeten Kriegskabinett angehört.
Aufgrund der gegen ihn erhobenen Korruptionsvorwürfe steht Netanjahu zusätzlich unter Druck. Angesichts der gegen ihn anhängigen Korruptionsverfahren, der unter seiner Regie erfolgten Sicherheitspannen und des laufenden Krieges wird es für ihn schwierig oder ganz unmöglich werden, sich im Amt zu halten. Doch die grundsätzlichere Frage bleibt: Würde sich durch sein Ausscheiden an Israels politischer Grundausrichtung etwas fundamental ändern?
Trotz der breiten Empörung über die Regierung Netanjahu wegen der geplanten Justizreform ordnet die Mehrheit der jüdischen Wählerschaft sich in Umfragen politisch rechts ein. Nur fünf Tage vor dem Angriff der Hamas ergab eine Erhebung der sozialpsychologischen Forschungsstelle aChord, die an die Hebräische Universität angegliedert ist, dass zwei Drittel der jüdischen Israelis sich dem rechten Spektrum zuordnen (entweder „stramm rechts“ oder „gemäßigt rechts“), während zehn Prozent sich als links bezeichneten. Auf jeden jüdischen Israeli, der für eine linke Partei stimmt, kommen also der Tendenz nach beinahe sieben rechte Wähler. Allein schon angesichts dieser Zahlen wäre es erstaunlich, wenn die israelische Bevölkerung unter dem Eindruck des schlimmsten Gewaltausbruchs gegen Israelis seit Gründung ihres Staates nicht noch weiter nach rechts rücken würden.
Obwohl die Bevölkerung mit Netanjahus Regierung enorm unzufrieden ist, wird die Sorge vor politischer Instabilität es ihm wohl ermöglichen, an der Macht zu bleiben, solange der jetzige Krieg andauert. Auch in diesem Krieg kann noch vieles geschehen – und in welche Richtung die Wählergunst sich neigt, hängt möglicherweise auch davon ab, wie viel Zeit bis zur nächsten Wahl vergeht. Doch wenn Netanjahu am Ende aus dem Amt gedrängt wird, ist keineswegs ausgemacht, dass Israel danach ideologisch einen anderen Weg einschlägt.
Es war die längste Protestwelle in der Geschichte Israels.
Laut aktuellen Umfragen wenden die Wählerinnen und Wähler sich scharenweise Gantz’ Mitte-rechts-Partei „Nationale Einheit“ zu. Würde jetzt neu gewählt, käme die Partei von Benny Gantz nach einer am 24. November veröffentlichten Erhebung auf 43 Sitze – 11 Sitze mehr als die Likud-Partei bei den Wahlen 2022 und deutlich mehr als doppelt so viele Sitze, wie die Likud-Partei derzeit zu erwarten hätte. Ob es bei diesen Zahlen bleibt oder ob sie vielleicht sogar auf eine grundsätzlichere Verlagerung hin zur Mitte schließen lassen, weiß zum jetzigen Zeitpunkt niemand.
Da alle Rechtsaußen-Parteien des Landes der höchst unbeliebten Regierungskoalition angehören, bleibt außerdem abzuwarten, ob die Wählerinnen und Wähler, die sich über Netanjahus ursprüngliches Kabinett ärgern, automatisch ihr Kreuz bei der Partei „Nationale Einheit“ machen, die in seinem Kriegskabinett mit am Tisch sitzt. Im Augenblick profitiert Gantz dank seines hohen militärischen Renommees offenbar auch vom „Rally around the flag“-Effekt, der sich in Kriegszeiten einstellt.
Doch wenn die Israelis über Netanjahu verärgert sind und höchstwahrscheinlich nach rechts rücken – warum halten sie sich dann nicht an die Rechtsaußen-Parteien in der Koalition? Bislang zeigen sich in den Umfragen keine Stimmenzuwächse für die ultranationalistische Otzma Jehudit („Jüdische Stärke“) und für religiös-zionistische Parteien. Paradoxerweise könnten gerade Netanjahus extremistisches Programm, sein Angriff auf die demokratischen Institutionen und die katastrophal schlechte Regierungsführung im Vorfeld des Krieges das Wahlvolk davon abhalten, reflexhaft in eine noch stärker theokratische, antidemokratische und unverbesserlich rechte Ecke zu rücken.
Einer der größten Fehler Netanjahus war, dass er die Palästinafrage ausschließlich als Sicherheitsfrage betrachtete.
Eine naheliegende Reaktion auf die aktuelle Krise wäre ein Wechsel zu einer von Benny Gantz angeführten neuen Regierung. Gantz würde wahrscheinlich von Netanjahus permanenter populistischer Spaltungspolitik abrücken und im Unterschied zu ihm vermutlich keine Korruptionsskandale auslösen. Erst recht würde er wohl den messianischen Drang seines Vorgängers und seiner Regierung vermeiden, den Siedlungsbau voranzutreiben oder die Annexion formell festzuschreiben. Zugleich genießt Gantz, weil er auf eine lange militärische Laufbahn zurückblickt und weil seiner Partei auch ehemalige Likud-Mitglieder beigetreten sind, eine hohe Legitimität im rechten Lager, die er sich wird bewahren wollen.
Zudem liefert die Rhetorik von Gantz wenige Anhaltspunkte dafür, dass er mit dem Palästinaproblem wesentlich anders umgehen würde, als es die Rechte bisher getan hat. Weder als Kandidat noch als Mitglied des Kriegskabinetts hat Gantz sich offen für eine Zweistaatenlösung oder irgendeine andere politische Lösung der Palästinafrage ausgesprochen. Noch im vergangenen Jahr erteilte er dem Gedanken an „zwei Staaten für zwei Völker“ eine Absage: „Ich bin dagegen.“
Einer der größten Fehler Netanjahus war, dass er die Palästinafrage ausschließlich als Sicherheitsfrage betrachtete, als könnte man die politischen Hintergründe des Konflikts ignorieren. Dadurch entstand überhaupt die Schwachstelle, die es der Hamas erleichterte, dermaßen tödlich zuzuschlagen. Wahrscheinlich sieht Gantz als Mann der Armee die Palästina-Problematik mit ganz ähnlichen Augen – als Sicherheitsbedrohung, die es einzudämmen gilt und bei der es nicht um die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Palästinenser geht. Wenn sich das bewahrheitet, dürfte der 7. Oktober bei allem Horror, den er bedeutet, dazu führen, dass es weitergeht wie gehabt – und Not und Elend auf beiden Seiten auch in Zukunft ihre Kreise ziehen.
Gekürzte Fassung des Beitrags „Why Israel Won’t Change“. © Foreign Affairs.
Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld