Viele, wenn nicht sogar alle Pfeiler der internationalen Ordnung der Nachkriegszeit scheinen zu bröckeln. Gewaltsame Konflikte sind mittlerweile die Standardmethode zur Beilegung von Konflikten zwischen Ländern (Russland und Ukraine) sowie innerhalb von Ländern (Jemen und Sudan), während das multilaterale Sicherheitssystem, an dessen Spitze die Vereinten Nationen stehen, in die Bedeutungslosigkeit abgleitet.
Darüber hinaus hat sich die Kluft zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden vergrößert, wobei immer mehr Länder des Südens unter einer erdrückenden Schuldenlast leiden. Das wiederum hat die Armut verschärft, Migration weiter intensiviert und weiteres Misstrauen geschaffen. Vor dem Hintergrund des erstarkenden Populismus und Autoritarismus haben Angriffe auf Menschenrechte und demokratische Werte an Intensität zugenommen. In einigen Fällen haben diese Attacken unter dem Deckmantel von Wahlen zudem eine falsche Legitimität erhalten. Und die sich verschärfende Rivalität zwischen den Vereinigten Staaten und China entwickelt sich gerade mit hohem Tempo zum Selbstzweck.
Ein besonders schwerer Schlag für das System ist jedoch der anhaltende Krieg zwischen Israel und der Hamas. Die gravierenden Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht zum Schutz der Zivilbevölkerung sind kaum zu fassen. Die Gräueltaten an der Zivilbevölkerung, zuerst in Israel und jetzt in Gaza, stehen für das Böse in seiner reinsten Form. Diese verabscheuungswürdigen Taten sollten ganz oben auf der Prioritätenliste des Anklägers des Internationalen Strafgerichtshofs stehen und in Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof behandelt werden. Wir müssen diesem Abstieg in die tiefsten Niederungen Einhalt gebieten.
Die nonchalante Missachtung der Grundsätze und Normen des Völkerrechts wie etwa die Beschränkungen des Rechts auf Selbstverteidigung sowie die vorsätzliche Blockade des Sicherheitsrats bei der Wahrnehmung seiner „Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit“ sind skrupellos. Hochrangige UN-Mitarbeiter im Bereich humanitärer Hilfe vor Ort im Gazastreifen haben ihre Verzweiflung kundgetan mit Formulierungen wie „Hölle auf Erden“ und „eine Menschheit, die aufgibt“. Allerdings scheinen nur wenige hinzuhören.
Die Zeit nach der aktuellen Gewalt bietet möglicherweise die letzte Chance auf einen gerechten und dauerhaften Frieden.
Zwischen dem Westen und der arabischen bzw. muslimischen Welt zeichnet sich ein Bruch ab, auch wenn die Bevölkerungen im Westen und in der arabischen Welt die Wut auf ihre jeweiligen Regierungen richten. Auf allen Seiten ertönt entmenschlichende, wuterfüllte Rhetorik, die ihren Widerhall auf den Straßen der Metropolen, in Universitäten und auch in Kleinstädten weltweit findet. Sämtliche Bemühungen der letzten Jahrzehnte, Brücken des Respekts und der Verständigung zu bauen, scheinen in sich zusammengebrochen zu sein.
Darüber hinaus hat die arabische bzw. muslimische Welt das Vertrauen in vermeintlich westliche Normen wie Völkerrecht und internationale Institutionen, Menschenrechte und demokratische Werte verloren. Ihrer Ansicht nach macht der Westen selbst vor, dass rohe Gewalt über allem steht. Natürlich ist die wachsende Überzeugung, dass es sich bei Demokratie und Menschenrechten – den liberalen Werten, die einst den Arabischen Frühling inspirierten – lediglich um Werkzeuge westlicher Vorherrschaft handelt, Musik in den Ohren von Autokraten und Despoten.
Der Krieg macht zwei Lehren deutlich. Erstens: Konflikte lösen sich nicht von selbst, und sie schwelen zu lassen, ist kurzsichtig und gefährlich. UN-GeneralsekretärAntónio Guterres wurde von Israel heftig angegriffen, nachdem er erklärt hatte, dass der Angriff der Hamas vom 7. Oktober „nicht in einem Vakuum geschah“. Doch damit würdigte er eine Wahrheit – nämlich das aufgestaute Gefühl von Demütigung und Ungerechtigkeit unter den Palästinensern –, die die meisten Menschen, die den palästinensisch-israelischen Konflikt verfolgen, schon lange erkannt haben.
Der Konflikt hat den Ruf nach einer Wiederbelebung des erfolglosen „Friedensprozesses“ laut werden lassen, der seit Jahrzehnten vor sich hindümpelt. Aber dieselben Politiker, die jetzt für eine Zweistaatenlösung eintreten, haben stillschweigend zugesehen, wie Israel den größten Teil des für einen palästinensischen Staat vorgesehenen Gebiets (durch Annexion und Siedlungsausbau) an sich gerissen hat. Die Zeit nach der aktuellen Gewalt bietet möglicherweise die letzte Chance auf einen gerechten und dauerhaften Frieden, bevor die gesamte Region in Flammen aufgeht.
Ohne eine radikale Reform der internationalen Ordnung wird der Gaza-Krieg Vorbote einer außer Kontrolle geratenen Welt sein.
Die andere wichtige Lehre besteht darin, dass der Aufbau eines stabileren und gerechteren globalen Sicherheitssystems und einer ebensolchen Finanzarchitektur Strukturreformen erfordert. Zunächst einmal sollte das Vetorecht der fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats drastisch beschnitten, wenn nicht gar abgeschafft werden. Außerdem müssen die USA und Russland die Atomwaffengespräche wieder aufnehmen und sinnvolle Schritte in Richtung Abrüstung unternehmen. Es ist ein Skandal, dass es zwischen den beiden größten Atommächten der Welt überhaupt kein Abkommen zur Atomwaffenkontrolle mehr gibt.
Die Bretton-Woods-Institutionen – Internationaler Währungsfonds und Weltbank – müssen den Entwicklungsländern im Bereich globaler Entscheidungsfindung ein angemessenes Mitspracherecht einräumen sowie auch einen gerechten Zugang zu finanziellen Ressourcen für ihre Entwicklung verschaffen. Obwohl die politischen Entscheidungsträger seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion vor mehr als 30 Jahren eine derartige Überarbeitung fordern, wurden bisher keine Fortschritte erzielt. Wir dürfen nicht zulassen, dass wir diese durch den Krieg entstandene Chance verspielen. Ohne eine radikale Reform der internationalen Ordnung wird der Gaza-Krieg Vorbote einer außer Kontrolle geratenen Welt sein.
© Project Syndicate
Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier