Ein Ende des Krieges in Gaza ist derzeit nicht abzusehen, und doch hat er schon heute langfristige strategische Auswirkungen auf die deutsche Außenpolitik. Gaza 2023/24 ist gleichbedeutend mit einer Zäsur im Verhältnis der Bundesrepublik zum Globalen Süden. Die eindeutige außenpolitische Positionierung der deutschen Regierung an der Seite Israels und die innenpolitische Einschränkung von Palästina-Solidarität haben Deutschland weit über den Nahen Osten hinaus exponiert. Bilder vom Einsatz deutscher Waffen in Gaza und von der gewaltsamen Auflösung von pro-palästinensischen Demonstrationen gehen um die Welt und stellen das Image der Bundesrepublik als Bastion von Menschen- und Bürgerrechten in einer Art und Weise in Frage, die in der jüngeren Geschichte beispiellos ist. Das in den letzten Jahrzehnten aufgebaute Ansehen Deutschlands droht beschädigt zu werden.

Insbesondere Vertreterinnen und Vertreter deutscher Organisationen im Ausland erfahren dies sehr direkt, auch jenseits des Nahen Ostens und von Nordafrika: Gewerkschaften stellen in Solidarität mit Palästina ihre Kooperation mit deutschen Stiftungen ein; Menschenrechtsorganisationen kappen ihre vormals vertrauensvollen Beziehungen; Kunstschaffende rufen zum Boykott auf; deutsche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erfahren Zurückweisung; lokale Beschäftigte wenden sich ab. Zugänge, selbst zu langjährigen Partnern, verschließen sich. Viel Vertrauen ist verloren gegangen, insbesondere in arabischen Ländern, wo nur noch neun Prozent der Menschen ein positives Bild von Deutschland haben, der schlechteste Wert seit Jahrzehnten. Dies kontrastiert extrem mit früheren Befragungen, als deutsche Außenpolitik überwiegend positiv gesehen wurde.

Der deutsche politische und mediale Diskurs zu Gaza, der sowohl im Ausland als auch unter Fachexperten im Inland bisweilen wie ein Paralleluniversum wirkt, wird international breit rezipiert. Das Ausmaß an Restriktionen gegen pro-palästinensische Demonstrationen, die gewaltsame Auflösung von Studierendenprotesten an deutschen Universitäten, das Ausweisen prominenter Stimmen – darunter moderne arabische Volkshelden wie der britisch-palästinensische Arzt Ghassan Abu Sittah – und die Kriminalisierung von Slogans und kulturellen Symbolen Palästinas wie der Kufiya verfestigen das Bild einer deutschen Politik, die unfähig ist zur Differenzierung zwischen legitimen Protesten gegen Kriegsverbrechen und der Bedrohung für jüdische Menschen in Deutschland durch Antisemitismus.

Nicht nur im Globalen Süden, auch in der europäischen Nachbarschaft beobachtet man mit Staunen, wie deutsche Debatten primär um das analytische Vokabular kreisen, mit dem der Krieg in Gaza legitimerweise beschrieben werden sollte. Die brutale Wirklichkeit im Gaza-Streifen erhält in der deutschen Öffentlichkeit dagegen nur in eingeschränktem Maße Aufmerksamkeit, nicht zuletzt deshalb, weil kritische Stimmen kaum noch Gehör finden oder zunehmend Diffamierung erfahren. Der Sehnsuchtsort einer progressiven arabischen Diaspora, als die der ägyptische Soziologe Amro Ali die Stadt Berlin einst beschrieben hat, ist Deutschland nicht mehr.

Vor allem der Vorwurf, bei Israel gelten andere Bewertungsstandards, zehrt an der deutschen Glaubwürdigkeit.

Dieser Bruch ist auch deshalb so markant, weil der Ruf der Bundesrepublik im erweiterten Nahen Osten vergleichsweise gut war. Das lag nicht nur an der Abwesenheit einer Kolonialvergangenheit in der Region. Auch Schröders Nein zu westlichen Militärinterventionen in der arabischen Welt und Merkels Flüchtlingspolitik hatten zur Wahrnehmung eines Landes beigetragen, das ein ehrliches Interesse an Menschenrechten in der Region hat. Die Priorisierung außenpolitischer Soft Power, die Arbeit der politischen Stiftungen und Kultureinrichtungen sowie die substanzielle deutsche Entwicklungszusammenarbeit untermauerten dieses Bild; ein Bild, das auch durch die sehr innige Beziehung zu Israel lange Zeit nicht eingetrübt worden war. Gerade zivilgesellschaftlich organisierte Akteure zeigten oft Verständnis dafür, dass Deutschland aufgrund seiner Geschichte eine besondere Verantwortung gegenüber dem jüdischen Staat fühlte.

Doch der Spagat hat Grenzen. Der Konflikt um Palästina war in der Vorstellungswelt der nahöstlichen Bevölkerungen nie verschwunden. Für die Palästinenserinnen und Palästinenser blieb er ohnehin eine täglich gelebte Erfahrung. Doch zwischen den Massenprotesten des Arabischen Frühlings, dem Krieg gegen den sogenannten Islamischen Staat, dem Atomkonflikt mit Iran sowie den Normalisierungstendenzen autoritärer Regime mit Israel fand die Palästinafrage kaum noch Beachtung. Der 7. Oktober und die israelische Militärintervention haben sie dann sowohl emotional wie auch politisch als zentrale Frage des Nahen Ostens wiederbelebt.

Palästina ist aber auch über den arabischen Raum hinaus zur Projektionsfläche für Menschen in großen Teilen des Globalen Südens geworden. Koloniale Lesarten des israelisch-palästinensischen Konflikts mögen hierzulande meist verächtlich als kulturkämpferische Grenzziehungen und Zeichen eines akademischen „Wokismus“ behandelt werden. Große Teile des Globalen Südens betrachten das Geschehen in Gaza aber de facto durch eine postkoloniale Linse: Weit über die arabische Welt hinaus bietet die Besatzungserfahrung der palästinensischen Bevölkerung Anknüpfungspunkte für die eigene Geschichte. Die israelische Kriegsführung in Gaza, begleitet von dehumanisierender Rhetorik, weckt Erinnerungen an eigene Unterdrückungserfahrungen und blutige Befreiungskriege.

Vor allem der Vorwurf, bei Israel gelten andere Bewertungsstandards, zehrt an der deutschen Glaubwürdigkeit. Gerade deutsche Politiker hatten Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine früh mit Begriffen wie „Vernichtungskrieg“ und „Völkermord“ beschrieben. Allein die Frage, ob ähnliche Vorwürfe sich auch für das israelische Vorgehen in Gaza erhärten ließen, setzt Analysten im Falle Palästinas hingegen dem Vorwurf aus, antisemitische Ressentiments und einen palästinensischen Opfer-Mythos zu reproduzieren. Mehrfach enthielt sich die Bundesregierung in der UN-Generalversammlung bei der Abstimmung über einen Waffenstillstand. Und auch im UN-Menschenrechtsrat stellte die Bundesregierung sich zuletzt gegen eine Resolution zum Stopp aller Waffenverkäufe an Israel.

Weit über den Nahen Osten hinaus politisiert der Krieg eine ganze Generation.

Das ist kaum eine Überraschung vor dem Hintergrund der engen bilateralen Beziehungen im Rüstungsbereich, die ein solches Exportverbot wirtschaftlich und sicherheitspolitisch unattraktiv machen. Es existieren intensive Rüstungskooperationen zwischen deutschen und israelischen Unternehmen. Israel ist seit Jahren sowohl geschätzter Zulieferer moderner Waffensysteme als auch eines der wichtigsten Empfängerländer für deutsches Militärgerät. Seit dem 7. Oktober haben sich die Waffenexporte fast verzehnfacht. Deutschland trägt so aktiv zur Sicherheit Israels bei – womöglich aber auch zu in Gaza verübten Kriegsverbrechen.

Die Bundesregierung bekräftigt zwar, dass keine Informationen über Völkerrechtsverstöße durch deutsche Waffen vorlägen. Doch der dokumentierte Einsatz deutscher Rüstungsgüter durch die israelische Armee stellt dies mittlerweile zumindest in Frage. In jedem Fall prägen die in den sozialen Medien von israelischen Soldaten geteilten Aufnahmen deutscher Panzerabwehrwaffen und Fregatten in Gaza den Eindruck von Deutschlands Beteiligung an diesem Krieg weitaus stärker als der symbolische Abwurf von Essensrationen. Sie überschatten auch die Beteuerungen der Bundesregierung, man bemühe sich, die Kriegsfolgen für die Zivilbevölkerung durch humanitäre Hilfe zu lindern.

Die deutsche „Staatsräson“ ist vor diesem Hintergrund längst in das Vokabular des Globalen Südens und einer wachsenden globalen Antikriegsbewegung aufgenommen worden. Dort beschreibt sie eine Wertekollision, die sich einerseits aus der historisch bedingten deutschen Verortung an der Seite Israels und andererseits aus dem expliziten Anspruch einer werteorientierten und feministischen Außenpolitik gerade dieser Bundesregierung ergibt. Einer Außenpolitik, die nicht vereinbar ist mit den Indikatoren menschlichen Leids in Gaza, die selbst langjährige Beobachter bewaffneter Konflikte fassungslos machen: vom menschengemachten Aushungern der Bevölkerung, über die systematische Vorenthaltung medizinischer Versorgung, die immer neuen Massenvertreibungen von Binnenflüchtlingen bis hin zur KI-gestützten Bombardierung von Wohngebieten.

Deutschlands Unwille oder Unfähigkeit, diese Art der Kriegsführung zu verurteilen und zu sanktionieren, zementieren den Eindruck, die deutsche Staatsräson erodiere die regelbasierte Weltordnung. Eine Ordnung, die Deutschland – nicht zuletzt als Lektion aus der eigenen Verbrechensgeschichte – wie kaum eine zweite Nation international vorangetrieben hat. Einige der wortstärksten Kritiker der Bundesregierung mögen selbst keine mustergültigen Verteidiger der Menschenrechte sein. Dies entkräftet aber nicht deren Vorwurf, Deutschland verschließe seine Augen vor israelischen Kriegsverbrechen in Gaza – von der internationalen Strahlkraft dieser Vorwürfe ganz zu schweigen.

Weit über den Nahen Osten hinaus politisiert dieser Krieg eine ganze Generation. Nicht nur treibt er – dank der Tiktokisierung militanter Organisationen wie Hamas, Hisbollah und Huthis – einem sich modern gebenden politischen Islam neue Anhänger zu. Es sind vor allem die progressiven, die kritischen Zivilgesellschaften, die Menschen- und Bürgerrechtsverteidiger, die sich jetzt abwenden von einer als unglaubwürdig wahrgenommenen Bundesrepublik. Aber genau diese Kräfte sind es ja, die eine wertebasierte Außenpolitik adressieren wollte. Insbesondere in der Region bildet die Palästinafrage für viele progressive Kräfte seit jeher einen biografischen Einstieg in den Aktivismus – auch weil ihre Regime zivilgesellschaftliche Mobilisierung zugunsten von Palästina lange als ein politisches Ventil tolerierten. Diese Akteure kehren Deutschland nun den Rücken. Die Ressentiments sind dabei teils sogar noch heftiger als gegenüber den USA. Während man Letzteren spätestens seit dem Irak-Krieg ohnehin nicht mehr traut, fühlt man sich von Berlin regelrecht verraten.

Deutschland wird nicht umhinkommen, auf diese Erosion seiner Glaubwürdigkeit einzugehen.

Deutschland wird nicht umhinkommen, auf diese Erosion seiner Glaubwürdigkeit einzugehen. Im Zentrum steht dabei die Diskrepanz zwischen der uneingeschränkten Solidarität mit Israel und dem Bekenntnis zu einer völkerrechtszentrierten Weltordnung. Beides sind zentrale Prinzipien deutscher Außenpolitik, die eigentlich nicht konträr zueinanderstehen sollten – und müssten.

Selbst wenn man sich hier zu Unrecht ins Visier genommen fühlt, muss man sich besser erklären und Anpassungen vornehmen. Denn spätestens seit der Forderung eines Haftbefehls gegen Israels Premierminister Netanjahu und Verteidigungsminister Gallant durch den Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs ist deutsche Staatsräson versus Völkerrecht kein abstrakter Vorwurf mehr, sondern ein konkretes Szenario geworden.

Ferner sollte die deutsche Israelpolitik einem Realitätstest unterzogen werden. In Israel tragen bekennend Rechtsextreme Regierungsverantwortung, die kein Interesse an einer friedlichen Konfliktbeilegung haben. Radikale Lösungen für den Nahostkonflikt, wie die Wiederbesetzung und -besiedelung des Gaza-Streifens finden mittlerweile Anklang bis weit in die politische Mitte hinein. Das wird in Deutschland wenig rezipiert. Man hört nicht genau zu. Man schaut auch nicht so genau hin. Statt das real existierende Israel wahrzunehmen, klammert man sich an eine Israelprojektion, die für deutsche Identitätsfindung eine Funktion erfüllt, aber für klarsichtige Außenpolitik einen schlechten Referenzpunkt bietet.

Gaza 2024 steht schon jetzt symbolisch für unermessliches ziviles Leid. Anders als ähnlich zerstörte Stadtgebiete, wie Aleppo oder Grosny, ist es dabei ein Symbol für westliche Doppelmoral. Mit Verweis auf das (Nicht-)Handeln der Bundesrepublik gegen Kriegsverbrechen in Gaza können sich Regime weltweit menschenrechtlich einen schlanken Fuß machen. Deutschland muss diesen Krieg auch als eine Belastungsprobe für die regelbasierte Weltordnung verstehen und entsprechend handeln. Eine Rückkehr zum Status quo ante wird es nicht geben.

Weltweit gibt es erstmals seit Langem wieder Interesse an der Umsetzung einer Zweistaatenlösung. Trotz der Verwerfungen, die dieser Krieg global mit sich bringt, steht die übergroße Mehrheit der Staaten der Erde hinter dieser Lösung. Damit dieses Szenario eine Chance hat, braucht es mehr als Hoffen – zumal die amtierende israelische Regierung sich mit der Verhinderung eben jenes Szenarios brüstet. Es gilt anzuerkennen, dass es weniger Lippenbekenntnisse und mehr wirklichen politischen Druck auf Israel braucht.