Die Sonne scheint, es herrschen angenehme 28 Grad. Der Uber-Fahrer, der mich zur Arbeit bringt, kommt aus Pakistan und ist schwer geknickt, weil sein Land das Finale der T20-Cricket-Weltmeisterschaft in Australien gegen England verloren hat. Auf dem Weg zum Büro hole ich mir noch schnell einen Kaffee. Der Barista aus Gambia, die ugandische Servicekraft und der Kassierer aus Nigeria begleiten meinen Weg von der Bestellung bis zur Kasse mit einer freundlichen Begrüßung und einem Lächeln. Auf meinem Weg ins Büro werde ich von zwei Wachleuten empfangen, die aus Indien und Bangladesch kommen, und gehe an Reinigungskräften aus den Philippinen, Togo und Algerien vorbei, die sich auf den Ansturm der Beschäftigten vorbereiten und denen sicher ein arbeitsreicher Tag bevorsteht.
Der wahre Schmelztiegel dieser Welt ist nicht London, Melbourne oder Los Angeles, sondern hier im Mittleren Osten. Die Vielzahl der Kulturen, die in Doha vertreten sind, stellt alle Orte abseits des Arabischen Golfs in den Schatten. Viele sind wegen der Aussicht auf einen Job und wegen der Chancen hergekommen, die durch die FIFA-Weltmeisterschaft in Katar entstehen.
In vielen Teilen der Welt ist Fremdenfeindlichkeit auf dem Vormarsch: Der globale Westen macht seine Grenzen dicht, erschwert den Zuzug und erst recht die Erwerbsmöglichkeiten. Katar hingegen öffnet seine Türen. Die Menschen, die hier arbeiten, suchen eine Möglichkeit, ihren Familien ein besseres Leben zu ermöglichen. Viele von ihnen kommen aus den ärmsten Gegenden der Welt, wo die Not besonders groß ist.
In Zeitungen und im Fernsehen wird über Katar lauter Negatives berichtet, wobei viele der betreffenden Medienvertreter dieses Land noch nie besucht und seine Kultur noch nie erlebt haben. Hätte man die Diskussion über die für diese WM engagierten Arbeiter nicht als eine Diskussion über Chancen führen können vor dem Hintergrund, dass die ärmeren Länder von den meisten im Stich gelassen werden? Als eine Diskussion darüber, dass die hier geschaffenen Arbeitsplätze enorme und nachhaltige Auswirkungen auf Familien und Bevölkerungsgruppen in aller Welt haben werden? Darüber, dass Wohlstand in die Regionen und zu denjenigen Menschen gelangt, die ganz besonders darauf angewiesen sind?
Der wahre Schmelztiegel dieser Welt ist nicht London, Melbourne oder Los Angeles, sondern hier im Mittleren Osten.
Seit Jahrzehnten werden Industrien in Regionen mit billigeren Arbeitskräften ausgelagert. Viele Unternehmen konnten sich überhaupt nur durch die Verlegung ganzer Fertigungszweige nach Asien über Wasser halten. Das galt als kreative Möglichkeit, Geld zu sparen, höhere Dividenden für die Aktionäre zu erwirtschaften und die Verbraucherpreise niedrig zu halten – ungeachtet der Auswirkungen auf die Beschäftigungssituation im produzierenden Land. Diese Praxis ist gang und gäbe.
In osteuropäischen Ländern wie Polen, Ungarn oder Bulgarien sind die Löhne und Gehälter viel niedriger als in Deutschland, Österreich oder Frankreich. Darum gründen viele westeuropäische Unternehmen Ableger in Osteuropa, um von den niedrigeren Arbeitskosten zu profitieren. Die westeuropäischen Volkswirtschaften sind im hohen Maß auf Wanderarbeiter aus dem Osten angewiesen, die wenig verdienen und unter schlechten und ungeregelten Bedingungen arbeiten. Darüber wird in Europa nicht sonderlich kontrovers diskutiert. Die osteuropäischen Länder wiederum machen es genauso: Sie ersetzen die abgewanderten einheimischen Arbeitskräfte durch Arbeiter aus Ländern wie Kirgisistan, Usbekistan und Kasachstan. Man empört sich über Katar und verurteilt den WM-Gastgeber – dabei offenbart schon eine kurze Google-Recherche, dass genau das, was man Katar vorwirft, direkt vor der eigenen Nase stattfindet.
Doch nicht nur in Europa wird geheuchelt. Die australische Nationalmannschaft hat als erste WM-Teilnehmerin gegen die Menschenrechtssituation in Katar Stellung bezogen und in einer Videobotschaft kritisiert, wie in dem Emirat mit Wanderarbeitern umgegangen wird. Vielleicht wären die australischen Kritiker überrascht, wenn sie erfahren, dass Australien beim Thema Menschenrechte auch nicht gerade eine weiße Weste hat. Im Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen haben über 40 Staaten, darunter Deutschland, Südkorea und die USA, die australische Asyl- und Flüchtlingspolitik angeprangert. Kritisiert wurde unter anderem, dass Australien Asylanträge weiterhin außerhalb der eigenen Landesgrenzen bearbeitet und Asylsuchende über längere Zeiträume in Gewahrsam nimmt. Der Menschenrechtsrat wirft der australischen Regierung vor, zentrale Zusagen nicht einzuhalten und Flüchtlingen nach wie vor immensen Schaden zuzufügen.
Die WM in Katar ist das erste große Sportereignis in der arabisch-muslimischen Welt.
Die WM in Katar ist die 22. Auflage eines internationalen Turniers, das zum ersten Mal 1930 in Uruguay stattfand. In der 92-jährigen Geschichte der „Weltspiele“ wurden 15 von 20 Weltmeisterschaften in Europa und Südamerika ausgetragen, obwohl die ganze Welt sich für sie interessiert. Fünf Länder haben das Turnier schon mehr als einmal ausgerichtet. Wenn man bedenkt, wie groß der Teilnehmerkreis und das Interesse sind, ist das eine ungeheuerliche Konzentration. Diesmal läuft es anders. Die Weltmeisterschaft erschließt Neuland und erreicht ein völlig neues Publikum. Die WM in Katar ist das erste große Sportereignis in der arabisch-muslimischen Welt. Die Auswirkungen werden sich nicht nur bei den 2,7 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern von Katar und auch nicht nur bei den 475 Millionen Menschen bemerkbar machen, die im Nahen und Mittleren Osten zu Hause sind.
Dieses Event wird eine Strahlkraft für die 1,9 Milliarden Muslime in aller Welt entfalten. Ein Viertel der Weltbevölkerung, das von Indonesien bis Marokko, von den Malediven bis nach Ägypten zu Hause ist und in der fast 100-jährigenWM-Geschichte immer im Schatten stand, wird in den Mittelpunkt gerückt. Wenn in den nächsten vier Wochen die packenden Spiele auf dem Rasen, die Großzügigkeit und der gutherzige Charakter der Gastgeber und die gemeinschaftliche Freude im Fokus stehen, die Kulturen, Religionen und Menschen – nicht nur aus Europa und Südamerika – zusammenführt, kann diese Weltmeisterschaft vielleicht ein Wendepunkt werden, hin zu einem wirklichen Weltturnier.
Für die teilnehmenden Spieler und Mannschaften und erst recht für den Sieger ist eine WM bekanntlich ein Ereignis, das das Leben verändert. Bei dieser Weltmeisterschaft werden die wahren Sieger jedoch zum ersten Mal in der Geschichte nicht beim Finale am 18. Dezember im Lusail-Stadion auf dem Rasen stehen. Die wahren Sieger werden hinter den Kulissen zu finden sein. Es sind die Uber-Fahrer, die Café- und Security-Mitarbeiter im ganzen Land, die die Chance nutzen, die nur die WM in Katar ihnen geboten hat und die eine ganze Generation verändern wird.
Lesen Sie in dieser Debatte auch die Beiträge von Sebastian Sons und Jan Busse, die im IPG-Journal erschienen sind.
Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld