Das Schicksalswahljahr 2024, in dem die amerikanische Demokratie sich beweisen muss, hat begonnen. Präsident Joe Biden läutet seinen Wahlkampf mit Reden zum Jahrestag des Sturms auf das Kapitol ein, in denen er die Bedrohung betont, die sein Vorgänger Donald Trump für die demokratischen Institutionen darstellt. Dieser liegt nicht nur im Vorwahlkampf der Republikaner vorn, sondern auch in vielen Umfragen zur Präsidentschaftswahl im November. Und das trotz seiner Rolle beim Sturm auf das Kapitol, die derzeit vor Gericht verhandelt wird. Oder ist Trump vielleicht gerade deshalb so beliebt, weil er die wütende Menge dazu aufforderte, „wie der Teufel zu kämpfen“, um ihn im Amt zu halten?
Matthew Schmitz von der Zeitschrift American Conservative verneint dies. Er hält Trump für „unberechenbar, aber pragmatisch-gemäßigt“ – und seine Beliebtheit erkläre sich eben daraus, dass er „kein ideologischer Kämpfer, sondern ein geschmeidiger Geschäftsmann mit einem Faible für Verhandlungen und Kompromisse“ sei. Ein Beleg: Nur 27 Prozent der Amerikaner, so schreibt er, halten Trump für „zu konservativ“. Sicher, kaum einer der unzähligen Autoren, die sich mit dem Faszinosum Trump beschäftigen, hält ihn für einen Ideologen, der stur den Prinzipien einer bestimmten Denkschule folgt. Aber ist wirklich alles nur eine Stilfrage? Rhetorisches Gepolter eines Populisten zur Wahlkampfmobilisierung, um im Amt dann auf eine moderate Linie einzuschwenken?
Nein, Pragmatismus ist eben nicht gleichbedeutend mit Mäßigung, und Unberechenbarkeit in einem mächtigen Amt ist ein grundsätzliches Problem. Schmitz nennt Beispiele populärer moderat-konservativer Politik aus Trumps erster Amtszeit, die gelegentlich sogar gegen die Orthodoxie der Republikaner verstießen: In der Außenpolitik habe er Militäreinsätze verhindert, was bei der kriegsmüden amerikanischen Bevölkerung gut angekommen sei. In der Handelspolitik habe er gegen das Freihandelsdogma beider Parteien Zölle erhöht, um die heimische Industrie gegen die chinesische (und auch europäische) Konkurrenz zu schützen. Es lohnt sich durchaus, diese Beispiele genauer zu betrachten. Ebenso Trumps in der Tat moderate Positionen in der Gesundheits- und Sozialpolitik, wo er sich allerdings meist nicht gegen die republikanische Orthodoxie durchsetzen konnte.
Viele Amerikaner glauben, dass das Land sich in die falsche Richtung entwickelt.
Doch auch Joe Biden verfolgt ja derzeit eine weitgehend moderate Politik. Sicherlich ist die Demokratische Partei nach den neoliberalen Clinton- und Obama-Jahren unter dem Eindruck der Beliebtheit von Bernie Sanders und den Democratic Socialists etwas progressiver geworden. Aber allein die Mehrheitsverhältnisse im Kongress zwingen Biden dazu, auf der Basis überparteilicher Kompromisse zu regieren. Doch wenn Politiker beider Seiten so pragmatisch-moderat agieren, wie erklärt sich dann die extreme gesellschaftliche und politische Polarisierung in den USA? Wie entsteht der zunehmend unversöhnliche Hass in Teilen der amerikanischen Bevölkerung? Und vor allem: Woher kommt die große und wachsende Bereitschaft, zur Durchsetzung politischer Ziele sogar Gewalt anzuwenden?
Die Bedrohung für die amerikanische Demokratie entspringt bisher nicht zuallererst der konkreten Politik der jeweils regierenden Partei – auch wenn es während Trumps erster Amtszeit genug radikale Maßnahmen gab (der Muslim Ban, die Trennung von asylsuchenden Familien an der Grenze), und man nicht weiß, was eine besser auf das Regieren vorbereitete zweite Trump-Regierung alles in die Wege leiten würde, wenn es keine adults in the room mehr gibt, die den Präsidenten bremsen.
Tatsächlich kommt es oft zu überparteilichen Kompromissen. Glaubt man Umfragen, wären sie sogar bei kontroversen gesellschaftlich-moralischen Fragen wie dem Recht auf Abtreibung prinzipiell möglich. Doch viele Amerikaner glauben, dass das Land sich in die falsche Richtung entwickelt, dass die Demokratie akut gefährdet ist. Und hier herrscht ein doppeltes Gefälle: Es sind vor allem die Wähler der Republikaner und unter ihnen insbesondere die Anhänger Trumps und der MAGA-Bewegung, die sich existentielle Sorgen machen. Viele bestreiten die Legitimität von Bidens Präsidentschaft und glauben, dass Trump der Wahlsieg gestohlen wurde.
Immer mehr Republikaner zweifeln sogar die Legitimität der Demokraten grundsätzlich an und halten sie für eine existentielle Bedrohung der politischen Kultur der USA. Und deshalb sind sie auch eher als die Wähler der Demokraten zu radikalen Handlungen bereit – wenn nicht zu politischer Gewalt, dann doch zur systematischen Unterdrückung der Wahlbeteiligung von Minderheiten und zur Unterwanderung der Wahlbehörden mit Trumpisten. Für viele ist klar: Die USA befinden sich in einem „kalten Bürgerkrieg“ gegen einen progressiv-kosmopolitischen Feind, der das Land und seine Werte zu zerstören droht. Tenor: Demokratie ist möglicherweise ein Luxus, den man sich angesichts dieser fundamentalen Bedrohung nicht mehr leisten kann.
Niemand weiß, wie weit diese Extremisten zu gehen bereit sind, um die Bundesregierung zu bekämpfen.
Niemand weiß, wie weit diese Extremisten zu gehen bereit sind, um die Bundesregierung zu bekämpfen, die gemäß ihrer kollektiven Wahnvorstellung von einer Deep State genannten Verschwörung – wahlweise: einer elitären „Einheitsregierung“ aus „Washington-Insidern“ beider Parteien – beherrscht wird, die angeblich das Land zerstören will. Trump trägt seit seinem Einstieg in die Politik zur Dämonisierung des politischen Gegners und zur Entmenschlichung der politischen Debatte bei. Seine kulturkämpferischen und sexistischen Äußerungen mögen für manche statusbedrohte Männer ein Ventil sein, was seinen Erfolg auch bei Afroamerikanern und Latinos erklären könnte, der keineswegs ein Beleg für fehlenden Rassismus ist.
Denn Trump hat sich von Beginn an als „Retter“ vor der demografisch drohenden majority-minority society inszeniert – also vor einer Gesellschaft, in der die Summe der Minderheiten größer ist als die Gruppe der weißen Mehrheit. Die Strategen Roger Smith und Steve Bannon hatten gesehen, dass es keine offensichtliche Führungsfigur für die innerparteiliche populistische Tea Party-Bewegung gab, die die politische Elite – auch die der Republikaner – herausforderte. Zu dieser wurde Trump, indem er die mangelnde responsiveness des Staates und der Eliten populistisch offenlegte: beim unbeliebten Freihandel, bei der umstrittenen Weltmachtrolle der USA, bei der zunehmend abgelehnten Migration. Biden spielt ihm heute in die Karten, wenn er zum wiederholten Male am Kongress vorbei Militärhilfen für die Ukraine und Israel organisiert.
Ein wesentlicher Faktor für Trumps Beliebtheit ist seine Unterstützung für wohlfahrtsstaatliche Programme wie Medicare und Social Security, wie Schmitz richtig ausführt. Diese Position widerspricht der vorherrschenden vulgärlibertären Privatisierungslinie des Establishments der Republikaner. Doch ganz so einfach ist es nicht: Den Wohlfahrtsstaat soll es nur für diejenigen geben, die ihn verdienen. Und angesichts der demografischen Entwicklung schauen mehr und mehr Republikaner hier auf Gruppenidentitäten: „Richtige Amerikaner“ sind nur Weiße und für manche sogar nur weiße Christen.
Als Partei der weißen Christen sehen sich die Republikaner als letztes Bollwerk gegen eine säkulare, von Minderheiten dominierte Gesellschaft. Dass nur 27 Prozent der Amerikaner Trump für „zu konservativ“ halten, zeigt eben auch, dass ein signifikanter Teil der MAGA-Basis ihn noch radikaler haben will. Doch nur mit der MAGA-Basis, christlichen Nationalisten und rechtsextremen white supremacists kann Trump die Wahl nicht gewinnen – deshalb der Pragmatismus.
Als Partei der weißen Christen sehen sich die Republikaner als letztes Bollwerk gegen eine säkulare, von Minderheiten dominierte Gesellschaft.
Beispielsweise verhält sich Trump bei den Auseinandersetzungen um den Bundeshaushalt, bei denen schon bald wieder ein government shutdown droht, taktisch: Er feuert die Totalverweigerer von Kompromissen mit den Demokraten an, weil das Chaos der Regierungsunfähigkeit die juristische Aufarbeitung seiner Rolle beim Sturm auf das Kapitol und beim Versuch, trotz seiner Niederlage im Amt zu bleiben, behindern kann. Doch eigentlich hat Trump mit steigenden Staatsschulden gar kein grundsätzliches Problem. Sein taktisches Verhalten entspringt einem rein transaktionalen Verhältnis zu den verschiedenen Wählergruppen und Flügeln der Republikanischen Partei. Es geht ihm um seine persönliche Macht, seine Wahlaussichten. Genau deshalb ist er auch in der Abtreibungsfrage „pragmatisch“: Er denkt bereits an den Wahlkampf gegen Joe Biden und weiß, dass die amerikanische Bevölkerung die extrem restriktiven Vorschläge seiner Vorwahlkonkurrenten nicht mitträgt.
Biden hofft, das Motivationsgefälle zwischen den Anhängern der beiden großen Parteien umzukehren, indem er die Bedrohung der amerikanischen Demokratie und der Freiheit ihrer Bürger durch einen egomanischen, unberechenbaren Trump ins Zentrum seines Wahlkampfs stellt (gleich neben die Errungenschaften seiner Investitions- und Infrastrukturpolitik). Aber noch verfängt diese Strategie nicht, worauf unter anderem Robert Kagan in seiner furiosen Warnung vor einer kommenden Trump-Diktatur verweist.
Und damit ist auch die taktische Stoßrichtung des Kommentars von Matthew Schmitz bezeichnet: Trotz aller strukturellen Vorteile der Republikaner im Wahlsystem der USA, das einen Wahlsieg gegen die Mehrheit der Wähler ermöglicht, braucht Trump eine breite Koalition zum Wahlsieg. Wie 2016 (und auch 2020) müssen genug Wähler ihr ungutes Gefühl, was Trumps charakterliche, moralische und auch intellektuelle Eignung für das Präsidentenamt angeht, zurückstellen und sich auf der Basis ihrer partiellen Interessen für ihn entscheiden, beispielsweise niedrige Steuern oder weniger Regulierung. Die Verteidigung der Demokratie gegen einen rachsüchtigen, verfassungsfeindlichen Möchtegernautokraten, zu der Biden aufruft, steht in krassem Gegensatz zu diesem Wahlpragmatismus – die Bedrohung muss also verharmlost und verdrängt werden und dazu leistet Schmitz mit seinem Kommentar einen Beitrag.
Lesen Sie zu diesem Thema auch „Trumps Geheimnis“ von Matthew Schmitz.